Zu den Novellen "Die andere Seite des Spiegels" und "Razvan- gescheitert"

gesellt sich nun folgend eine weitere.

 

Sie trägt den Titel "Biofarm".

 

 Ich wünsche spannende Unterhaltung!

Biofarm

1 Eröffnung

 

„Wie fühlen Sie sich gerade?“

„Aufgeregt, fröhlich, geradezu euphorisch!“

„Und Ihre Frau?“

„Ach, die denkt, ich werde langsam größenwahnsinnig. Aber das ist okay. Ein bisschen verrückt muss man schon sein und mutig.“

„Heute eröffnen Sie also ihr sechstes Geschäft. Man könnte es da ja schon fast als Kette bezeichnen.“

„Ja, das sechste. Total verrückt. Ich hätte am Anfang nie gedacht, dass ich das schaffe, dass das überhaupt möglich wäre.“

„Aber die Kundschaft scheint es ja zu lieben, nicht wahr?“

„Ich denke, die lieben das Konzept. Bio, Regional, Saisonal, Fair, und alles zu erschwinglichen Preisen. So wie sich in den letzten Jahren alles entwickelt hat, ist es meinem Erachten nach ein logischer Schritt. Wir müssen weg von den überdimensionierten Tierfabriken und unsere Lebensmittel, auch die Pflanzen, wieder als Lebewesen wahr nehmen und nicht mehr nur als Ware im Regal.“

„Die Konkurrenz durch die regulären Supermärkte ist ja aber doch ganz schön groß.“

„Aber dennoch kommen die Leute zu mir, in meine Filialen. Das ist fantastisch. Anscheinend bieten wir etwas, das die Großen nicht können.“

Im Hintergrund ertönte das Klingeln eines Weckers. Eine Frau steckte den Kopf zur Tür herein und rief: „Noch zehn Minuten. Es geht los!“

„Eine kurze Frage habe ich noch.“

„Alles klar, wenn es schnell geht?“

„Warum heute und um diese Uhrzeit?“

„Sie meinen, warum die 6. Filiale am 6.6. um 6:06 Uhr eröffnen? Weil es ein bisschen verrückt klingt, Fragen aufwirft, die Menschen neugierig macht und einfach lustig ist, meine ich.“

Sie sprang voller Elan auf, zupfte sich ihre Kleidung zurecht und verließ den Raum. Der Reporter machte sich noch ein paar schnelle Notizen, schnappte sich sein Diktiergerät vom Tisch und folgte ihr eilig nach.

Vor den geschlossenen Glastüren des Geschäfts wartete schon eine kleine Menschentraube, trotz der frühen Uhrzeit. Freudig nervös sammelte die Geschäftsführerin ihre Mitarbeiter um sich und geschlossen begaben sie sich durch eine Nebentür vor den Haupteingang. Wie bei anderen Supermarkteröffnungen hatten sie ein Absperrband aufgestellt, welches nun feierlich zerschnitten werden sollte. Nur war es hier aus Naturfasern geflochten und zwischen zwei Obstbäumchen aufgehängt, die den Eingang des Bioladens zierten. Später sollte jeder von den Bäumen einfach Früchte naschen dürfen, ohne dafür etwas kaufen oder bezahlen zu müssen, sozusagen ein kleine Aufmerksamkeit des Hauses.

Sie stellten sich mit einer überdimensionalen Schere bereit und begannen den Countdown zu zählen. Bei Null ploppten ein paar Sektkorken, das Juteband zerfiel in zwei Hälften, alle Anwesenden klatschten und jubelten. Der Laden war eröffnet. All die Anspannung und Aufregungen der letzten Wochen fielen schlagartig ab, die harte Arbeit hatte sich gelohnt und würde sich hoffentlich auch auszahlen.

Voller Vorfreude begleitete sie ihre ersten Kunden in den Laden, stieß mit jedem an und hielt an diesem Morgen unzählige Smalltalks.

Der Tag verlief nahezu reibungslos, fast schon zu gut. Doch bei der intensiven Vorbereitung, die sie betrieben hatten, konnte sie durchaus zufrieden damit sein. Sie blieb bis zum Ladenschluss und versammelte danach noch einmal die Mannschaft im Pausenraum um sich. Nachdem sie ein paar Sektgläser gefüllt und jedem eines gereicht hatte, hob sie ihres an und sprach in die Runde: „Liebe Kollegen, ich freue mich, dass das heute alles so glatt über die Bühne gegangen ist. Vielen Dank für euer Engagement in den letzten Wochen und die Überstunden der letzten Tage. Ich weiß, es war sehr anstrengend, aber es wird sich lohnen. Ihr macht dieses Geschäft erst möglich und deshalb stoße ich mit euch an.“ Sie klimperten feierlich die Gläser aneinander und tranken alle einen Schluck. Dann holte sie einen Schlüssel aus ihrer Tasche, hielt ihn einer der Kolleginnen entgegen und erklärte: „Sofia, hiermit übergebe ich dir feierlich den Hauptschlüssel zu diesem Laden. Halte ihn als Filialleiterin in Ehren und mach mir bloß keinen Ärger.“ Bei den letzten Worten zwinkerte sie der Frau zu, übergab ihr den Schlüssel, hob noch einmal das Glas und rief: „Auf eine großartige neue Filiale und eine erfolgreiche Zukunft.“ „Hört! Hört!“, kam es von den Mitarbeitern. Sie stießen erneut an, tranken aus und machten sich anschließend fertig für den Heimweg.

Die Euphorie der Eröffnung folgte ihr bis nach Hause. Trotz des besonders langen Tages betrat sie noch voller Elan das Wohnzimmer und begrüßte ihre Familie überschwänglich. „Kann es sein, dass du noch total aufgedreht bist?“, fragte Nicole skeptisch, nachdem sie von Florentine regelrecht abgeknutscht worden war. Die Kinder kräftig knuddelnd antwortete diese: „Ach gar nicht, der Tag war nur einfach super! Das muss ich mal kurz raus lassen.“ Sie wälzte sich mit den Sprösslingen lachend am Boden, kitzelten sich alle gegenseitig während Nicole lächelnd den Kopf schüttelte und sie dabei beobachtete.

Erst nachdem der Nachwuchs im Bett war, kehrte allmählich Ruhe ein. Sie machten es sich zu zweit auf dem Sofa gemütlich. Nicole hatte eine Flasche Wein geöffnet und wollte nun alle Geschehnisse des Tages detailgenau wissen. Bereitwillig erzählte Florentine und ließ dabei alles noch einmal Revue passieren. So schön sollte es immer sein.

 


2 Offenbarung

 

Allmählich hatte sich die Euphorie der vergangenen Tage gelegt und der Alltag kehrte ein. Die neue Filiale lief ganz gut an. Natürlich kamen am Anfang noch viele, nur um mal zu schauen und nahmen dann eher Kleinigkeiten mit. Aber nach und nach würde sich auch hier eine solide Stammkundschaft herausbilden. In einer Stadt wie dieser, war das von klarem Vorteil. Das Geschäft sollte nicht nur eine Einkaufsmöglichkeit sein, sondern einen kleinen Fixpunkt im Leben der Kundschaft etablieren. Hier sollte man sich wohl fühlen, auch mal treffen und einen Kaffee trinken können. Monatlich gab es spezielle Angebote, auch zum Probieren, und solange die Mitarbeiter freundlich und engagiert blieben, war alles in Ordnung. Florentine saß in ihrem kleinen, bescheidenen Büro, das sie noch immer im allerersten Laden ihrer Kette betrieb, wo alle Informationen durch die Filialleiter ihrer Märkte zusammenliefen. Der Papierkram war nicht gerade ihre liebste Beschäftigung aber ein notwendiges Übel, damit alles seine Richtigkeit hatte und in geregelten Bahnen lief. Glücklicherweise hatte sie für einige Aufgaben Profis einstellen können, eine Buchhalterin und einen sehr versierten Einkäufer, die sie im täglichen Geschäft berieten, denn dieses ganze Zahlen jonglieren, Angebote einholen und vergleichen, Rabatte aushandeln, diese pure Theorie und Mathematik gingen ihr gewaltig auf die Nerven.

Die tägliche Geschäftspost öffnen, lesen und verteilen, bildete einen wesentlichen Bestandteil ihrer Arbeit. Manchmal war es ganz interessant, wenn sich zum Beispiel neue Lieferanten vorstellten, Rechnungen konnte sie dagegen gar nicht leiden, verständlicherweise. Aber auch das gehörte zum Berufsalltag dazu. Ihre oberste Priorität bestand eigentlich darin, ihre Mitarbeiter engagiert und zufrieden zu halten. Denn ein glücklicher Mitarbeiter, der sich in seinem Arbeitsumfeld wohl fühlt, macht auch einen guten Job. Ein wenig gedankenverloren öffnete sie die Briefe auf ihrem Schreibtisch. Werbung, Rechnung, Rechnung, Werbung und schließlich hielt sie einen weißen Umschlag ganz ohne Absender in der Hand. Irritiert betrachtete sie sich den recht dicken Brief von allen Seiten. Es stand nur ihr Name drauf, sonst nichts, er war nicht einmal frankiert, also hatte ihn wohl jemand persönlich eingeworfen. Vorsichtig tastete sie ihn ab. Der Inhalt fühlte sich nicht nach einem normalen Brief an, sondern irgendwie anders, nach Postkarten oder etwas in der Art. Sie hielt den Umschlag gegen das Licht, was aber auch keine weiteren Erkenntnisse brachte, und legte ihn dann wieder vor sich auf den Tisch. Die Briefbomben aus den Nachrichten kamen ihr plötzlich in den Sinn. Aber wer sollte ihr schon etwas tun wollen? Neider? Schnell wischte sie den Gedanken weg und setzte den Brieföffner vorsichtig an. Skeptisch musterte sie dann den Inhalt. Es waren Fotos, grausame Bilder von gequälten Tieren, eines schlimmer als das andere, und nichts weiter, keine Erklärungen, keine Hinweise. Angewidert betrachtete sie sich dennoch die furchtbaren Darstellungen ekelhaftester Verbrechen gegen das Tierschutzgesetz bis sie genug davon hatte, schnell alles zurück in den Umschlag steckte und in eine Schublade verbannte. Ihr war ein wenig schlecht. Die Bilder sollten sie auch den restlichen Tag nicht mehr los lassen.

Ungewöhnlich still saß sie am Abend mit der Familie am Esstisch und sinnierte vor sich hin. Nicole blieb das natürlich nicht verborgen und unterbrach ihre Gedanken später in einem stillen Moment. „Flo? Alles klar mit dir? Du wirkst heute irgendwie geknickt. Was ist los?“ Fast als wäre sie bei etwas ertappt worden, schüttelte Florentine aber nur den Kopf, lächelte etwas gezwungen und meinte: „Ach nichts, bin nur etwas müde. War ein anstrengender Tag.“

Nicole ahnte, dass das nicht der einzige Grund war, wollte sie aber auch nicht bedrängen und auf einen besseren Augenblick warten. Nachdem sie die Kinder bespaßt und später ins Bett gebracht hatten, machten sie es sich wieder im Wohnzimmer gemütlich. Nicole stellte Florentine einen frisch gebrühten Tee hin und kuschelte sich anschließend in ihren Arm. Dann wagte sie einen erneuten Vorstoß.

„Ich merke, dass dich etwas beschäftigt. Du kannst es mir ruhig erzählen, vielleicht kann ich dir helfen.“

„Ich habe heute einen merkwürdigen Brief bekommen.“

„Und? Was stand drin?“

„Es waren nur Fotos.“

„Von was?“

Florentine schob sich vom Sofa, ging in den Flur, wo ihr Rucksack stand, und kramte den Umschlag heraus. Stumm überreichte sie ihn. Nicole richtete sich auf, sah sie fragend an, griff dennoch nach dem Brief und holte die Bilder hervor. Fassungslos starrte sie dann minutenlang auf die sich ihr bietenden Grausamkeiten. Florentine sank neben ihr zurück auf die Couch und murmelte: „Das hat mich den ganzen Tag beschäftigt. Ich verstehe nicht, warum gerade mir jemand solche Bilder schickt.“ Nicole schluckte ihren Ekel und ihre aufkeimende Wut hinunter, packte die Fotos wieder weg und versuchte Flo zu beruhigen. „Wer weiß, das ist bestimmt nur ein armer Irrer, der dich ärgern möchte. Ich würde da nicht zu viel drauf geben. Solange es keine weiteren Informationen gibt, nützt es nichts sich damit fertig zu machen.“ Florentine seufzte, zog Nicole an sich und nahm sie wieder in den Arm. Vielleicht hatte sie recht, sie durfte sich davon nicht runterziehen lassen, solange sie nicht einmal wusste, in welchem Zusammenhang die Bilder standen. Sie selbst hatte ewig kein Stück Fleisch mehr gegessen, seit einigen Jahren lebte sie vegan. Es konnte also nicht persönlich gegen sie gerichtet sein. Und die Zulieferer ihrer Läden hatte sie alle persönlich besichtigt, nicht nur einmal, und dann erst entschieden, wer in Frage kam. Sie kannte also ihre Lieferanten, ihre Höfe und Methoden, das war ihr schon von Beginn an wirklich wichtig gewesen. Und die Mitarbeiter? Sie wusste zwar nicht, was die Kollegen alle so in ihrer Freizeit trieben, das ging sie als Chefin auch gar nichts an, war sich aber sicher, dass sie auch hier bislang ein gutes Händchen bewiesen hatte. Bisher hatte es tatsächlich noch keine einzige Kündigung gegeben, weder von ihrer noch von deren Seite. Klar gab es manchmal Konflikte, der Dienstplan war notwendigerweise streng, aber alle wurden fair behandelt, das bildete sie sich wenigstens ein. Vielleicht sollte sie demnächst mal ein paar persönliche Mitarbeitergespräche führen, nur um auf Nummer sicher zu gehen.

Sie versuchte auf Nicole zu hören, die Zweifel und Fragen zu verdrängen, dennoch verlief ihre Nacht unruhiger als sonst.

Am nächsten Morgen fühlte sie sich zwar ein wenig gerädert, aber besser. Zwei starke Espressi hoben die Stimmung weiter und nachdem sie sich von den Kids und Nicki verabschiedet hatte, konnte der Tag wie gewohnt beginnen.

Ihre kleine Patchwork- Familie war das Beste, was ihr im Leben je passieren konnte. Nachdem sie selbst schon in frühen Jahren von ihren Eltern getrennt worden war und hatte im Heim aufwachsen müssen, wurde Nicole zum absoluten Glücksfall. Sie brachte die zwei Kinder aus einer unglücklichen Ehe mit und sie wuchsen zu einem harmonischen Familienverband zusammen. Florentine liebte die zwei Sprösslinge, als wären es ihre eigenen, und fühlte sich in ihrer derzeitigen Lebenssituation richtig wohl. Klar war es für die Kleinen anfangs nicht einfach gewesen, da sie ja plötzlich zwei Mütter hatten, aber sie gewöhnten sich daran und nach einer gewissen Zeit wurden auch die Hänseleien weniger und alle schienen nun zu akzeptieren, dass es auch so ganz gut funktionierte. Das wichtigste war doch, dass sie in einem liebevollen Zuhause aufwuchsen und es ihnen an nichts fehlte.

Ein zufriedenes Lächeln verdrängte die Hintergedanken zu den Fotos und entspannt ging sie ihrer täglichen Arbeit nach. Den Vorschlag einzelne Mitarbeitergespräche zu führen, nahmen alle positiv auf, woraufhin sie einen Terminplan erstellte, um für jeden etwas Zeit zu finden.

Plötzlich riss das Telefon sie aus ihrer organisatorischen Vertiefung.

„Einen schönen guten Tag, Biofarm Nummer 1, Sie sprechen mit Florentine Winkler.“

„Haben Sie meinen Brief bekommen?“

„Welchen Brief?“

„Die Fotos.“

Florentine schwieg geschockt. Hatte sie hier etwa den Absender und vielleicht sogar Macher der schrecklichen Bilder am Apparat? Der Anrufer wartete geduldig bis sie sich wieder gesammelt hatte und antworten konnte.

„Ja, den habe ich bekommen und angesehen. Ich verstehe nur nicht, was das soll. Wer sind Sie?“

„Die Bilder stammen vom Hof ihres Lieferanten.“

„Das glaube ich nicht. Ich habe mir alle Höfe persönlich angesehen und führe selbst regelmäßige Kontrollen und Besichtigungen durch.“

„Von den offiziellen Höfen vielleicht.“

„Was wollen Sie damit sagen?“

„Wir sollten uns treffen. Ich möchte gern persönlich mit Ihnen darüber sprechen.“

„Ganz ehrlich, ich lass mich hier auf keine ominösen Treffen ein. Ich weiß ja nicht einmal wer Sie sind und was Sie wollen.“

„Ich will Ihnen helfen.“

„Helfen? Wobei?“

„Die Wahrheit zu erfahren und die richtigen Entscheidungen zu treffen.“

Wieder schwieg Florentine einen Moment lang. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Was sollte sie tun? Was, wenn das nur ein Spinner war? Was, wenn er Recht hatte? Sie schaute auf das Display des Telefons, doch die Nummer war unterdrückt. Vorsichtig nahm sie das Gespräch wieder auf.

„Okay. Ich brauche ein wenig Zeit für eine Entscheidung. Wie kann ich Sie erreichen?“

„Wie viel Zeit?“

„Einen Tag vielleicht?“

„Gut, ich rufe Sie morgen wieder an, gleiche Zeit.“

Dann waren nur noch ein Klicken und das Freizeichen zu hören. Eine ganze Weile lang lauschte sie noch angespannt auf den monotonen Piepton bevor sie es wagte aufzulegen.

 


3 Entscheidung

 

Und wieder wirkte Florentine sehr zerstreut als sie den Abend mit der Familie verbrachte. Sie konnte sich einfach nicht entscheiden. Den Typ treffen oder nicht? Einerseits wollte sie wirklich wissen, ob die Bilder der Realität entsprachen und es tatsächlich einen ihrer Zulieferer betraf. Andererseits hatte sie richtig Schiss davor, dass es sich um einen Spinner handelte, der nur Aufmerksamkeit wollte. Sie musste Nicki einweihen, eine zweite Meinung einholen und meist war ihre bessere Hälfte auch etwas objektiver als sie selbst.

Während eines ruhigen Moments überwand sie sich schließlich.

„Nicki, ich brauch mal deinen Rat.“

„Meinen Rat? Das klingt aber ernst. Worum geht es denn?

„Du erinnerst dich an die Fotos von gestern?“

„Ja, leider. Schrecklich.“

„Der Macher hat mich heute angerufen.“

„Nicht dein Ernst! Wer ist es?“

„Keine Ahnung, er hat mir seinen Namen nicht verraten.“

„Das ist ja blöd. Was will er denn damit bezwecken?“

„Er behauptet, die Bilder stammen von einem Hof, der uns beliefert.“

„Was? Das glaub ich nicht. Du warst doch überall vor Ort und hast dir alles angesehen. Wie kommt der denn darauf?“

„Anscheinend betreibt dieser spezielle Lieferant noch andere Anlagen, vielleicht sogar illegal.“

„Und jetzt? Was sollst du da machen, wenn du nicht einmal einen Namen hast?“

„Er will sich mit mir treffen, mir alle Details verraten, aber nur persönlich, nicht am Telefon. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Treff ich mich mit dem?“

Nicole schnaufte ratlos und setzte sich an den Küchentisch. Florentine gesellte sich zu ihr und starrte sie fragend an. „Was würdest du an meiner Stelle tun?“ „Das ist echt schwierig.“, sinnierte Nicole und nippte an einer Teetasse. „Obwohl, was hast du denn zu verlieren?“

„Du meinst also, ich sollte mich mit dem Kerl treffen und der Sache auf den Grund gehen?“

„Ja, aber nur an einem öffentlichen Ort. Falls es sich doch um einen Fake handelt, kannst du dann schneller verschwinden.“

„Okay, wenn er morgen wieder anruft, sag ich ihm, dass ich mich treffen will, in einem Café. Wenn er sich nicht darauf einlässt, ist die Sache gestorben.“

Florentine griff nach Nicoles Hand und drückte sie fest. Ihre Anspannung konnte man jetzt schon spüren.

Einer sehr unruhigen Nacht folgte eine zäher Vormittag, an welchem sie sich absolut nicht konzentrieren konnte. Der drohende Anruf schwebte wie ein Damokles- Schwert über ihr und trotzdem konnte sie es kaum erwarten. Endlich klingelte das Telefon. Die Nummer war wieder unterdrückt. Sich zur Ruhe mahnend nahm Florentine ab und meldete sich nur mit einem: „Hallo?“

„Haben Sie’ s sich überlegt?“

„Ja, ich möchte alles erfahren und mich mit Ihnen treffen.“

„Sehr gut. Gleich heute Nachmittag?“

„Heute Nachmittag geht in Ordnung, aber ich bestimme den Ort.“

Es war kurz still am anderen Ende der Leitung, doch dann willigte der Fremde ein.

„Okay, bestimmen Sie den Ort.“

„Das Café Sommer. 15 Uhr?“

„Geht klar.“

„Woran erkenne ich Sie?“

„Ich werde Sie erkennen.“

Und wieder folgten ein Klacken und ein lang anhaltender Piepton.

Florentines Aufregung stieg mit jeder Minute. Jetzt konnte sie erst recht keine sinnvollen Aufgaben mehr übernehmen und meldete sich deshalb bei ihren Kollegen unter dem Vorwand ab, dass es ihr nicht gut ginge. Voller Nervosität fuhr sie zum Park und versuchte durch ein wenig körperliche Betätigung den Kopf frei zu pusten. Es gelang ihr nur teilweise. Die Warterei machte sie verrückt und letztlich kam sie eine halbe Stunde zu früh im Café an. Angespannt wartete sie auf das Treffen bis sich plötzlich ein recht junger Mann zu ihr an den Tisch setzte und sie freundlich begrüßte: „Hallo Florentine, ich bin Mark.“ Überrascht musterte sie ihn. Dunkelblonde Dreadlocks umrahmten sein beinahe jungenhaftes Gesicht. Intelligente, graublaue Augen sahen sie aufmerksam und freundlich an. Die Kleidung war irgendwie alternativ aber gepflegt und er entsprach so gar nicht dem Bild, das sie sich inzwischen über ihn ausgemalt hatte. „Ja, hi.“, sagte sie nur. Glücklicherweise hielt er sich nicht erst mit Herumgeplänkel auf und kam gleich auf den Punkt: „Also, ich arbeite ehrenamtlich für einen Tierschutzverein. Und im Rahmen dieser Tätigkeit bin ich auf den Hof gestoßen, den du da auf den Bildern siehst. Ich muss zugeben, dass das nicht ganz legal ist, was wir machen, also heimlich in die Ställe zu gehen und zu dokumentieren, aber wir sehen auch keine andere Möglichkeit solche Missstände aufzudecken. Die staatlichen Kontrollorgane versagen an diesen Stellen vollkommen.“

„Und das ist wirklich einer meiner Lieferanten?“

„Ja, um genau zu sein ein nicht offizieller Hof der „Farmfreunde“. Die haben vor ein paar Jahren Verträge mit einer Supermarktkette geschlossen, aber anscheinend wuchs die Nachfrage so stark, dass sie den Bedarf mit ihren eigentlichen Ställen nicht mehr decken konnten. Um den Kunden nicht zu verlieren, wurden schnell weitere Ställe gebaut, aber eben nicht nach allgemeingültigen Standards. Hier geht es nur noch um Gewinnmaximierung.“

„Und kontrolliert das denn keiner?“

„Anscheinend nicht, oder nicht ausführlich genug. Diese Horrorställe laufen auch nicht unter dem offiziellen Namen der Farmfreunde sondern unter einer Tochterfirma. Letztlich kommt aber alles in einen Topf.“

„Heißt das, dass auch in meinen Läden schon solche Tiere gelandet sind?“

„Mit großer Wahrscheinlichkeit.“

„Mir ist gerade ein wenig schlecht.“

„Das kann ich durchaus verstehen.“

„Aber warum bist du damit nicht zur Polizei gegangen?“

„Ganz ehrlich? Ich liebe deine Läden und fände es furchtbar, wenn die in so einen Skandal verwickelt werden würden. Deshalb wollte ich erst dir diese Informationen zukommen lassen, damit du selbst entscheiden kannst, was als nächstes passiert.“

Florentine war sich unsicher und dachte angestrengt nach. Was würde passieren, wenn sie Anzeige erstattete? Welche Beweise hatte sie in der Hand, außer die Fotos und Aussagen ihres Gegenübers? Er ahnte ihr Dilemma, holte einen Zettel aus seiner Tasche, auf welchem zwei Nummernfolgen standen und schob ihn zu ihr über den Tisch. „Das sind die GPS- Koordinaten des inoffiziellen Hofs, falls du dich selbst kundig machen möchtest.“

„Gibt es keine Adresse?“

„Nein, die versuchen das Ganze ja zu verschleiern. Dieser Stall liegt wirklich mitten in der Pampa, dort, wo es keinen interessiert, was hinter dem Zaun los ist. Aber ich warne dich, live sind die Bilder noch viel schrecklicher als auf den Fotos. Wappne dich und sei vorsichtig, es ist alles kameraüberwacht und ich weiß nicht, wozu diese Leute dort fähig sind.“

„Denkst du echt, ich fahr da hin?“

„Das musst du selbst entscheiden. Entweder vertraust du meinen Informationen oder machst dir selbst ein Bild. Mir ist beides Recht. Lass mich wissen, wie du dich bezüglich der nächsten Schritte entscheiden willst. Wenn du magst, können wir auch gleich zur Polizei gehen und Anzeige erstatten.“

„Nein, weiß nicht, das geht gerade etwas schnell. Das muss ich mir erst noch mal in Ruhe durch den Kopf gehen lassen. In Ordnung?“

„Natürlich. Ich kann verstehen, dass das ein Schock sein muss. Aber warte nicht zu lang mit deiner Entscheidung.“

Er stand auf, reichte ihr noch einen zweiten Zettel, mit einer Telefonnummer darauf, und verließ ohne ein weiteres Wort das Café. Betrübt blieb Florentine zurück. So viele Gedanken kreisten in ihrem Kopf. Sollte sie es wirklich wagen und der Stallanlage einen Besuch abstatten? Was, wenn sie dort jemand erwischte? Sie musste sich dringend etwas einfallen lassen.

Als später Nicole mit den Kindern heim kam, bot sich ihr ein ungewohntes Bild. Florentine saß gedankenverloren am Küchentisch und starrte scheinbar ins Leere. Schnell schickte sie die Kleinen auf ihre Zimmer und gesellte sich zu ihrer Frau.

„Wie war es? Habt ihr euch getroffen?“

„Ja.“

„Und? Erzähl schon, ich bin neugierig.“

„Der Typ war kein Spinner und ich befürchte, dass die Bilder der Wahrheit entsprechen.“

„Scheiße.“

Sie schwiegen sich eine Weile lang an bis Nicole leise fragte: „Und was willst du jetzt tun?“

Florentine atmete tief durch, starrte weiter ins Leere und antwortete schließlich betrübt: „Ich werde wohl zur Polizei gehen müssen und Anzeige erstatten.“

Nicole rieb sich ebenso bestürzt über das Gesicht und meinte dann: „Das wird bestimmt einen riesigen Skandal geben.“

„Aber was bleibt mir anderes übrig? Ich kann diese Gräueltaten nicht länger zulassen, erst recht nicht, wenn ich jetzt davon weiß und dass auch meine Läden davon betroffen sind. Mich ekelt allein der Gedanke, dass diese armen Viecher bei mir in der Theke landen. Widerlich.“

„Du hast recht. Und ich stehe voll hinter dir. Es ist besser, wenn wir die Sache publik machen anstelle eines Dritten. So können wir wenigstens den guten Ruf von Biofarm schützen.“

Florentine nickte, wirkte dabei aber dennoch geknickt. Als erstes würde sie sich darum kümmern müssen, dass alle Waren dieses Erzeugers aus ihren Regalen verschwanden. Das waren zwar enorme Einbußen, aber mit ihrem Gewissen konnte sie den Weiterverkauf einfach nicht vereinbaren.

Und trotzdem ließ sie der Gedanke nicht los, sich selbst ein Bild von den Geschehnissen vor Ort machen zu müssen. Sie wollte es mit eigenen Augen sehen, wozu diese profitgeilen Monster fähig waren, denn erst dann würde sie es wirklich glauben können.

Energisch sprang sie plötzlich auf, sodass Nicole sogar ein wenig zusammenzuckte, und begann ihre Motorrad- Kombi anzulegen. Irritiert folgte die ihr dann in den Flur und fragte:

„Was hast du denn jetzt vor?“

„Ich räume die Regale aus.“

„Jetzt noch? Es ist schon dunkel und dafür wirst du sicher Stunden brauchen.“

„Das ist mir egal, ich kann nicht länger warten.“

„Kann ich dir dabei helfen? Soll ich vielleicht noch paar Leute anrufen?“

„Nein, ich brauch die Zeit jetzt einfach für mich. Es muss sein.“

„Na wenn du meinst.“

Florentine sah Nicole liebevoll an, nahm sie in den Arm, küsste sie und flüsterte dann: „Bitte nicht böse sein, ich muss das jetzt einfach durchziehen. Mir lässt das keine Ruhe. Warte nicht auf mich.“ Anschließend schnappte sie sich ihren Helm und verschwand zur Tür hinaus während Nicole ihr besorgt nachschaute.

Natürlich hatte sie nicht nur vor in allen sechs Läden die Regale auszumisten, vielmehr hatte sie den Entschluss gefasst dem inoffiziellen Hof einen heimlichen Besuch abzustatten. Das konnte sie Nicki nicht verraten, die hätte sich nur zu viele Gedanken und Sorgen gemacht. Es war immerhin eine reine Bauchentscheidung.

 

 

4 Eskalation

 

Vorsichtig näherte sie sich den Koordinaten. Glücklicherweise machte ihr E- Motorrad keinen Krach. Schon von weitem waren die Ställe deutlich im Lichtschein einiger Laternen zu sehen. Florentine schaltete ihr Fahrzeug aus und parkte es hinter ein paar Büschen am Wegrand. Die restliche Strecke wollte sie zu Fuß gehen, um noch weniger aufzufallen. Sie pirschte sich an, ein beißender Hauch von Ammoniak lag schon in der Luft. Sie versuchte sich seelisch darauf vorzubereiten, was sie gleich zu sehen bekommen würde. Langsam schlich sie den Zaun ab, spähte nach Kameras und Personal. Ihr war mulmig zumute. Was würde sie tun, wenn jemand sie erwischte?

Mutig quetschte sie sich durch eine kleine Lücke im Zaun. Niemand war zu sehen also eilte sie schnell zum nächstgelegenen Stall und verbarg sich im Schatten. An die Wand der Baracke geschmiegte, bahnte sie sich behutsam ihren Weg zum Eingang, tastete nach dem Griff und fand die Tür nicht verschlossen vor. Zügig schlüpfte sie hinein. Eine gewaltige Geruchswoge aus Exkrementen und Verwesung schlug ihr entgegen und löste ein Würgen aus. Doch sie musste weitermachen. Pures Adrenalin pumpte inzwischen durch ihre Adern und dann erreichte sie die zweite Tür der Schleuse. Gern hätte sie noch einmal tief durchgeatmet, doch das Kratzen in ihrem Hals hielt sie davon ab. Vorsichtig öffnete sie die Tür und leuchtete mit einer Taschenlampe in den Stall. Es bot sich ein Bild des Grauens.

Nicht nur, dass der Boden vollständig mit Kot bedeckt war, auch die schiere Unzahl an Tieren, die man hier auf engstem Raum zusammengepfercht hatte, war einfach monströs. Langsam versuchte sie zwischen den Puten hindurchzuschreiten. Viele Tiere waren krank oder verkrüppelt, konnten nicht mehr laufen oder überhaupt aufstehen. Sie trat auf etwas merkwürdig weiches, leuchtete nach unten und entdeckte das halb verweste Tier unter ihrem Stiefel. Nur mühsam konnte sie ein Erbrechen verhindern. Welch unglaubliches Leid zeichnete sich hier ab. Wie konnte ein gesunder Menschenverstand so etwas zulassen? Sie musste raus, einfach raus.

So schnell wie möglich und trotzdem behutsam, bahnte sie sich ihren Weg zurück zur Tür. Sie hatte eindeutig genug gesehen. In der Schleuse blieb sie dann einen Moment lang stehen, kämpfte mit den Tränen und schaltete die Taschenlampe aus. Nachdem sie sich wieder etwas beruhigt hatte, lugte sie vorsichtig zur Tür hinaus auf den Hof und musste voller Entsetzen das Näherkommen einer Gestalt wahrnehmen. Was sollte sie jetzt tun? Im Dunkeln tastete sie ihre Umgebung ab, versuchte dabei keine Geräusche zu machen und bewaffnete sich vorsichtshalber mit einer Eisenstange, die sie auf dem Regal an der Wand fand. Dann verharrte sie regungslos.

Nur wenige Augenblicke später betrat ein Mann die Schleuse und machte unglücklicherweise das Licht an. Dann ging alles sehr schnell. Florentine erkannte ihn sofort, es war tatsächlich der Betreiber der Farmfreunde- Ställe. Sie konnte nicht glauben, dass sie gerade diesen Kerl persönlich hier antraf, der sie noch so schön vor wenigen Wochen durch seine Vorzeigefarm geführt hatte und damit prahlte wie toll es seinen Tieren doch ging und wie viel Wert sie auf artgerechte Haltung, gutes Futter und Freilauf legten.

Er erstarrte kurz als er die Gestalt in der schwarzen Motorrad- Kombi wahrnahm, die mit geschlossenem Vollhelm und einer Eisenstange bewaffnet hinter der Tür lauerte. Doch einen Sekundenbruchteil später schrie er sie schon an: „Was machst du hier! Scheiß Einbrecher! Sieh zu, dass du weg kommst! Ich hol gleich die Bullen, das schwör ich dir!“

Als er dann noch einen Schritt auf sie zu machte, holte Florentine aus und zog ihm mit voller Wucht die Stange über den Kopf. Ohne einen weiteren Mucks sackte der Mann in sich zusammen und blieb regungslos liegen. Ihr Herz schlug in ihrem Hals, doch sie durfte keine Zeit verlieren. Eilig suchte sie mit ihren Blicken den Hof ab und zum Glück kam niemand gelaufen. War er vielleicht alleine hier? Das konnte sie sich zwar nicht vorstellen, aber vielleicht hatte ihn nur keiner gehört. Unter seinem Schädel bildete sich derweilen eine Blutlache. Sie hatte ihn wohl doch wesentlich schwerer erwischt, als gedacht. Vielleicht hatte sie ihn sogar getötet. Panik stieg in ihr auf aber auch eine gewisse Art der Genugtuung. Schnell schloss sie die Tür, legte die Stange ab, mobilisierte all ihre Kräfte und zerrte den reglosen Körper in den Stall, wo sie ihn mittig zwischen den leise gackernden Puten platzierte. Dann holte sie einen offenen Futtersack, den sie ebenfalls im Eingangsbereich entdeckt hatte, und überhäufte den Bewusst- oder Leblosen mit den Körnern. Energisch begannen die Vögel sofort zu picken. Florentine zog sich zurück, schlich über den Hof, schlüpfte durch den Zaun und rannte zu ihrem Motorrad. Das Herzklopfen ließ nicht nach, folgte ihr bis in die Stadt zur 24- Stunden SB- Waschanlage, wo sie ihr Motorrad und auch sich gründlich reinigte. Dann fuhr sie eilig zu Biofarm Nummer 1, setzte sich im dunklen Laden zwischen die Regale und versuchte zu Atem zu kommen und klarem Verstand. Was hatte sie nur getan?

Eine gute halbe Stunde lang verharrte sie so auf dem Boden ihres Geschäfts und versuchte sich zu sortieren. Hatte sie tatsächlich gerade einen Menschen getötet und ihn dann einfach zwischen die gequälten Tiere seines Horrorstalls gelegt? Es war so einfach gewesen, so überraschend leicht. Ein Gänsehautschauer lief über ihren Rücken als sie sich dabei erwischte, dass sie grinste. Dieser Scheißkerl hatte es aber auch wirklich verdient und jetzt würden die Puten noch voller Genuss an ihm herumpicken können. Hoffentlich vergifteten sie sich nicht an diesem Mistsack. Sie lächelte wieder bei diesem Gedanken, finster. Und nun?

Etwas schwerfällig stand sie auf, schnappte sich einen Müllsack und wollte sich gerade daran machen die Lebensmittel der Farmfreunde auszusortieren, als sie einen Geistesblitz hatte. Konnte es in Verbindung gebracht werden, wenn sie jetzt gerade diese Sachen wegräumte und morgen der Tote gefunden wurde? Sicher würde es Fragen aufwerfen, warum sie das heute Nacht noch tat, wenn es doch erst später in den Medien sein würde. Konnte sie auf Mark als ihren Informanten zählen? Konnte sie vielleicht so ein Alibi konstruieren? Immerhin dachte Nicole, dass sie hier sein würde um auszumisten und die sollte auch ruhig weiter daran glauben. Ja, so würde es gehen. Eilig machte sie sich daraufhin ans Werk. Schließlich hatte sie heute Nacht noch fünf weitere Filialen vor sich.

Emsig zog sie von Laden zu Laden und entfernte alle Farmfreunde- Produkte, die sie finden konnte. Außerdem hinterließ sie Nachrichten für die Filialleiter, dass diese bitte auch noch das Lager von den betroffenen Waren befreien sollten, eine Erklärung würde es am Mittag dazu im Filialleitermeeting geben.

Völlig erschöpft erreichte sie früh am Morgen ihr Haus, ließ sich mit einer Zigarette und einer kleinen Flasche Whisky auf der Eingangstreppe nieder und gönnte sich kurz etwas Ruhe. Der Adrenalinpegel war inzwischen gesunken und sie wollte sich noch mehr beruhigen, bevor sie Nicole begegnete. Sie hatte schon ewig nicht mehr geraucht, aber gerade jetzt schien das ihren Nerven gut zu tun. Nach der Kippe und mehreren großzügigen Schlucken des Hochprozentigen wagte sie sich endlich hinein. Es war erst kurz nach vier und alle schlummerten friedlich in ihren Betten. Als sie zu Nicole unter die Decke kroch, regte die sich und murmelte: „Du riechst nach Kneipe.“

„Entschuldige, ich brauchte noch einen Absacker nach der Aktion.“

„Nein, keine Sorge, ist irgendwie sexy.“

Florentine grinste und schmiegte sich an Nicole, die ihre Umarmung erwiderte und noch ein wenig weiter ging. Angenehm überrascht ließ sie sich darauf ein und flüsterte nur: „Hätte ich gewusst, dass dich das anmacht, hätte ich schon eher mal zu Kippen und Alk gegriffen.“

 


5 Anzeige

 

Als der Wecker klingelte, drehte sich Florentine noch einmal um. Sie war erst vor zwei Stunden heim gekommen, hatte davon vielleicht eine halbe geschlafen und wollte einfach noch nicht wieder raus. Nicole küsste ihr auf die Stirn und stand auf. Sie musste die Kinder fertig machen und  dann zur Arbeit. Aber richtig Ruhe fand Florentine auch nicht, weshalb sie sich letztlich doch raus quälte.

Nicole begegnete ihr auf dem Weg zum Bad und stellte fest: „Flo, du siehst richtig fertig aus.“

„Danke.“

„Willst du nicht lieber noch etwas schlafen?“

„Nein. Ich sollte lieber meinen Leuten erklären, was da letzte Nacht in ihren Läden passiert ist. Nicht dass die noch denken, wir wurden ausgeraubt.“

„Dann mach ich dir mal einen sehr starken Kaffee.“

Florentine lächelte und verschwand im Badezimmer.

Nachdem sie sich etwas wiederhergestellt hatte, begab sie sich zur restlichen Familie in die Küche, begrüßte die Kinder mit einem Kuss auf die Wange und half dann Nicole beim Brote schmieren.

Als sie später im Laden ankam, waren alle schon fleißig am werkeln, dennoch blieb sie nicht unbemerkt und wurde sogleich von der Filialleiterin und einem weiteren Mitarbeiter belagert.

„Was ist denn hier los? Hast du echt heute Nacht Waren aussortiert und warum sollen wir auch die Lager von den Farmfreunde- Sachen befreien?“

„Es gibt gewichtige Gründe dafür, die ich aber nicht jedem einzeln erzählen möchte sondern euch beim Filialleitermeeting ausführlich mitteilen werde. Bitte etwas Geduld und macht einfach erst einmal weiter. Das hat schon seine Richtigkeit.“

Ohne weitere Erklärungen verzog sie sich schnell in ihr Büro und kramte den Zettel mit der Telefonnummer hervor. Sie musste dringend mit Mark sprechen.

„Hallo Mark, bist du das?“

„Ja, bin ich, was ist los?“

„Wir sind gerade dabei alle Farmfreunde- Waren aus den Regalen zu nehmen und auch aus dem Lager.“

„Wow, echt? Das nenne ich konsequent.“

„Was meinst du, wie geht es weiter? Erstatten wir Anzeige? Ich trau mich nicht alleine.“

„Ja klar, ich bin dabei. Wenn du das wirklich willst?“

„Ich habe gründlich drüber nachgedacht und Nicki hatte das entscheidende Argument. Wenn wir den Skandal gemeinsam ans Licht bringen, wird wenigstens der Ruf meiner Läden nicht beschädigt, oder zumindest nicht so sehr. Also immer noch besser, als zu schweigen und dann einen Dritten ein Fass aufmachen zu lassen. Was sagst du?“

„Alles klar, ich sprech mich mit meinen Freunden vom Verein ab und melde mich so schnell wie möglich wieder.“

„Vielen Dank!“

Florentine legte auf. Sie mussten die Sache nun schnell ins Rollen bringen, bestenfalls noch bevor das unfreiwillige, drastische Ableben des Stallbetreibers in die Medien geriet. Und Mark war ein Teil ihres Alibis. Er hatte ihr von der Sache erzählt, ihr die Bilder gezeigt, sie ihm geglaubt und daraufhin angefangen die Waren zu entfernen. Das entsprach einer logischen Kette von Ereignissen, die rein gar nichts mit dem Tot von Roland Selb zu tun hatten, der nur ganz rein zufällig in den gleichen Zeitraum fiel. Jetzt hoffte sie nur noch, dass das die Polizei ebenso sah.

Im Filialleitermeeting klärte sie nun ihre Kollegen darüber auf: „Ich weiß, ich habe für etwas Chaos gesorgt mit dem Ausräumen der Farmfreunde- Waren. Aber ich musste einfach schnell handeln.“ Sie legte ihnen die Fotos des Aktivisten vor und wartete kurz die Reaktionen ab. Dann führte sie weiter aus: „Auf den Bildern seht ihr die Zustände einer Stallanlage, die illegal von den Farmfreunden betrieben wird. Ich habe absolut nichts davon gewusst aber dank eines Tierschutzvereins gestern davon erfahren und musste deshalb gleich Konsequenzen ziehen. Für den Einkauf heißt das natürlich schnellstmöglich einen neuen Lieferanten zu finden. Die Stallbetreiber werde ich gemeinsam mit dem Verein anzeigen, sobald ich deren Okay habe. Es tut mir wirklich leid, dass es dadurch hektisch wird, aber ich glaube, ihr alle seid mit den Maßnahmen zu einhundert Prozent einverstanden. Immerhin haben wir hier einen Ruf, den wir unbedingt aufrechterhalten und verteidigen müssen. Fragen dazu?“ Sofia meldete sich im Namen aller zu Wort: „Erst einmal, krass. Und ja, wir sind einverstanden, weil das absolut untragbar ist, was dort läuft. Wir stehen auf jeden Fall hinter deiner Entscheidung. Zweitens, wie geht das dann weiter? Immerhin sind das schon größere finanzielle Verluste und ich glaube nicht, dass wir da etwas von der Versicherung kriegen.“

„Ich habe leider noch keine Ahnung. Ich würde jetzt erst einmal abwarten, was die Anzeige nach sich zieht, rechne aber jetzt schon mit einem großen Interesse der Medien. Das könnte ziemlich unangenehm werden. Denkt ihr, ihr kommt damit klar?“ Ein Murmeln ging durch den Raum, dann bemerkte Frank: „Vielleicht ist das ja sogar eine Chance die Verluste auszugleichen. Selbst wenn hier die Presse einrückt, haben wir uns nichts vorzuwerfen und deine schnelle Reaktion spricht ebenfalls für die Integrität von Biofarm. Eventuell kommen dadurch sogar mehr Kunden.“

„Ja, vielleicht. Aber jetzt müssen wir erst einmal abwarten, was überhaupt passiert. Ich hoffe, dass sich Mark vom Tierschutz schnell bei mir meldet und wie gesagt, der Einkauf muss sich umgehend um Ersatz kümmern. Bitte klärt eure Mitarbeiter umfassend auf. Es ist wichtig, dass jeder Bescheid weiß, damit keine Gerüchte entstehen. Ich glaube, unsere Lieferanten werde ich zukünftig noch genauer unter die Lupe nehmen müssen. Es ist einfach zum Kotzen.“

Damit löste sich die Versammlung auf und alle kehrten in ihre Filialen zurück, um die Mitarbeiter ausführlich zu informieren. Mark meldete sich am frühen Nachmittag und sie trafen sich umgehend vor dem Polizeirevier. Mit den Fotos und Filmaufnahmen, die er noch schnell organisiert hatte, bewaffnet, begaben sie sich hinein. Florentine war unglaublich froh, dass er sie begleitete und unterstützte und sie die Sache nicht alleine durchstehen musste. Aber auch Mark war begeistert von ihrem Engagement und dass es einen glaubhaften Mitstreiter in dem Fall gab, den er sowieso zur Anzeige bringen wollte.

Schnell hatten sie die Aufmerksamkeit eines Beamten auf sich gezogen. Mark berichtete ausführlich wann und wo die Filmaufnahmen und Fotos entstanden waren und dass man darauf eindeutige Verstöße gegen das Tierschutzgesetz dokumentiert sah. Florentine erzählte weiterhin, dass Mark an sie, als direkt Betroffene, herangetreten war, um sie auf den Skandal aufmerksam zu machen und die Missstände gemeinsam anzuzeigen. Sie wollte unbedingt vermeiden, dass ihr Geschäft einen schlechten Ruf davon bekam und hatte mit der Entfernung der Waren aus ihrem Sortiment erste Konsequenzen ergriffen. Der Polizist war sichtlich beeindruckt, wies aber darauf hin, dass Marks Einsatz nicht ganz legal gewesen war und der Betreiber leicht eine Gegenanzeige starten konnte. Doch das würde nichts an deren kompletter Missachtung des Tierschutzes ändern.

Erleichtert verließen sie nach ihren Aussagen die Wache. Jetzt konnten sie nur hoffen, dass möglichst bald Ermittlungen gegen die Farmfreunde aufgenommen und dieser Sauhaufen richtig auseinandergenommen wurde.

Vor der Tür hatte Florentine aber noch eine Bitte an Mark und es war ihr vollkommen ernst damit. „Kannst du zusammen mit deiner Organisation überprüfen, ob noch andere meiner Lieferanten Dreck am Stecken haben? Diese ganze Geschichte hat mich ziemlich mitgenommen und ich will einfach auf Nummer sicher gehen, dass es nicht noch mehr schwarze Schafe in meiner Zuliefererliste gibt. Das wäre wirklich sehr hilfreich.“ Am liebsten hätte sie ihm auch von Roland erzählt, doch das durfte sie nicht riskieren. Bisher schien dessen Ableben noch kein Aufsehen zu erregen, obwohl sie schon damit gerechnet hatte. Sie musste Schweigen, auch wenn ihr das Thema unter den Nägeln brannte. Wenn keiner außer ihr davon wusste, konnte sich auch keiner verplappern.

Mark willigte in die Überprüfung der anderen Lieferanten ein, bemerkte aber gleich, dass das eine Weile dauern würde, da es mit viel Arbeit verbunden war und sie sich alle freiwillig, nebenberuflich und ehrenamtlich mit der Aufdeckung solcher Missstände beschäftigten. Florentine reichte das schon und zufrieden trennten sich ihre Wege.

Nach den ganzen Aufregungen musste sie erst einmal wieder zur Ruhe kommen und sich um die eigentlichen Geschäfte kümmern.

 


6 Recherche

 

Auch wenn sie es wirklich versuchte, so ließen Florentine die Eindrücke aus dem Stall einfach nicht mehr los. Sie konnte es nicht verdrängen, träumte davon und sah immer wieder vor sich, wie sie diesem Mistkerl die Eisenstange über den Schädel zog. Und warum gab es darüber noch keine Meldungen? Sollte die Polizei denn nicht längst nach dem Mörder suchen?

Sie konnte nicht einfach still da sitzen und darauf warten, dass etwas passierte, also begann sie selbst Nachforschungen anzustellen. Bis spät in die Nacht hinein, denn an Schlaf war ja eh nicht zu denken, durchforstete die das Internet und ihre Wut wuchs zunehmend dabei. Je tiefer sie in die Materie eindrang, desto schlimmer wurden die Bilder. Sie stolperte von einem Skandal zum nächsten und ihr drängte sich auf, dass wohl die Dunkelziffer solcher Horroranlagen noch weit über dem lag, was an die Öffentlichkeit gelangte oder die Tierschützer überhaupt fanden. Und scheinbar tat keiner etwas dagegen. Die Gesetzlichkeiten waren so dehnbar und unzureichend, dass die Betreiber beinahe mit allem durchkamen. Wie konnte es sein, dass sich jemand selbst kontrollieren durfte und sich selbst seine Gütesiegel verlieh? Wie war so etwas überhaupt möglich und warum passierte kaum etwas?

Sie bekam das Gefühl sich selbst darum kümmern zu müssen, doch wo war der richtige Ansatz? Wo sollte sie beginnen?

Regelrecht entbrannt schrieb sie Mark eine Nachricht: „Hi, entschuldige die späte Störung, aber mich lassen diese Fotos einfach nicht mehr los. Kannst du mir sagen, ob es in der Umgebung noch weitere Anlagen gibt, die ihr beobachtet? Ich möchte mich gern mehr engagieren und euch helfen solche Fälle aufzudecken und an die Öffentlichkeit zu zerren. Halten wir der Gesellschaft den Spiegel vor, damit sie endlich ihre hässliche Fratze sieht!“ Nur wenige Minuten später piepste ihr Handy. Er hatte schon zurück geschrieben: „Kein Problem, ich schlafe zur Zeit auch recht wenig. Warum wohl? *Sarkasmus* Schön, dass du uns helfen möchtest und ja, wir beobachten noch eine weitere Anlage in der Umgebung. Bundesweit gibt es sogar mehrere, die wir auf dem Kieker haben, uns fehlen nur die Leute, um mehr machen zu können.“

„Kann ich bei eurer nächsten Aktion dabei sein? Ich möchte gern sehen, wie ihr das macht.“

„Na klar, ich schick dir separat alle notwendigen Informationen. Bisher haben wir nur Bildmaterial gesammelt, wollen aber demnächst noch einmal hin und versuchen ein paar der schlimmsten Fälle zu retten. Leider können wir nicht gleich alle Tiere mitnehmen, aber wir können öffentlich anprangern. Diese Betriebe meiden das Rampenlicht, aber genau da ziehen wir sie rein!“

Gespannt wartete Florentine auf die Hintergrundinfos und sobald sie sie hatte, begann sie im Internet zu suchen, was sie noch über den Betreiber und seine Anlagen herausfinden konnte. Nach Außen präsentierte sich die Firma als freundlich und sauber. Alle Gesetze würden natürlich einwandfrei eingehalten, was angeblich regelmäßige Kontrollen bestätigten. Es gab diverse Gütesiegel und Zertifikate auf der Website zu bewundern, alles Blendwerk. Denn wer wusste schon, was hinter verschlossenen Türen passierte? Das feiste Grinsen des Firmenchefs auf der Kontaktseite ließ ihr Blut beinahe überkochen. Am liebsten hätte sie ihm sofort mit der geballten Faust hineingeschlagen. Doch so einfach war das leider nicht.

Glücklicherweise konnte sie ihr neu entdecktes Engagement schon wenige Tage später unter Beweis stellen. Nicole war zwar nicht gerade begeistert, dass sie sich nun an solchen durchaus gefährlichen Aktionen beteiligte, konnte es aber verstehen. Die heutige Aufgabe lautete: Dokumentieren und Retten.

Gemeinsam mit drei weiteren Aktivisten drang Florentine in den umzäunten Hof ein. Sie trugen Bodycams, so wurde jeder Schritt festgehalten und trotzdem waren die Hände frei. Sie hatten vier Transportkörbe dabei, um die schlimmsten Fälle gleich in Sicherheit bringen zu können. Als sie die Stalltür öffneten, bot sich ein neuerliches Bild des Grauens, Gitterboxen so weit das Auge reichte, tote zwischen lebenden Tieren, Verletzte, Kranke, der blanke Horror. Und das nannte der Betreiber tatsächlich „Mümmelwiese“? Die pure Verachtung des Lebens und Verhöhnung alleine im Namen. Der Begriff Mümmelwiese suggerierte ein glückliches Kaninchenleben. Doch das hier war die schaurige Realität.

Florentine schossen die Tränen in die Augen als sie die zusammengepferchten Kaninchen sah, deren Pfoten wund und offen durch den Gitterboden waren. Wie konnte so etwas legal sein? Manche Tiere hatten schlimme Entzündungen an den Augen oder ihre Ohren waren von Artgenossen angefressen worden. Und sie konnten nur so wenige befreien. Ein paar halbtote und schwerverletzte Exemplare fischten sie aus den Käfigen und legten sie behutsam in die Transportkörbe. Am liebsten hätte sie einfach alle Gitterboxen geöffnet und die Gefangenen in die Freiheit entlassen, doch das war nicht möglich.

Heimlich stahlen sie sich stattdessen wieder davon, sicherten das Bildmaterial und übergaben die kranken Tiere in die Obhut eines befreundeten Tierarztes. Ausführlich würde dieser aufzeichnen, was den Kaninchen fehlte, klären wodurch die Verletzungen kamen und leider würden nicht alle Geretteten überleben.

Vollkommen aufgewühlt erreichte Florentine später ihr Haus. Jetzt hatte sie noch mehr Bilder im Kopf, die sie verfolgten und nicht schlafen lassen würden. Bestürzt ließ sie sich aufs Sofa fallen. Würde sie je wieder die Augen zu machen können, ohne dann gleich das Grauen vor sich zu sehen? Sie war völlig erschöpft und griff letztlich zur Flasche, um ihre Nerven zu beruhigen.

Nicole fand ihre Frau am nächsten Morgen schlafend auf der Couch und verhielt sich ganz leise. Im Flüsterton lotste sie die Kinder in die Küche und machte alles fertig. Als Florentine später zu sich kam, war es ganz still im Haus, keine Nicole, keine Kleinlinge. Verwirrt schaute sie auf die Uhr und erschrak ein wenig, denn es war bereits Nachmittag. Die letzten Stunden hatte sie wohl komatös auf dem Sofa zugebracht und es lohnte sich nicht, jetzt noch auf Arbeit zu gehen. Auf dem Couchtisch fand sie eine Nachricht von Nicole: „Guten Morgen Schatz, ich habe dich schlafen lassen und bei deinen Kollegen angerufen, dass du heute nicht kommst, weil du eine Erkältung und Fieber hast. Ich glaube, du brauchst dringend einmal Urlaub. Bis später, deine Maus.“ Sie war einfach viel zu lieb.

Lächelnd schlurfte Florentine daraufhin in die Küche und holte sich einen Kaffee. Vielleicht hatte Nicole recht, sie sollte sich ein paar Tage frei nehmen. Nur würde sie in dieser Zeit nicht ausspannen, sondern anfangen ihren Plan in die Tat umzusetzen.

Es klingelte unerwartet an der Tür, sie öffnete nichtsahnend und war sichtlich überrascht, dass ein Polizist draußen stand. Höflich stellte er sich vor und erklärte: „Man hat mir im Laden gesagt, Sie hätten sich krank gemeldet, deshalb bin ich hier. Darf ich kurz rein kommen?“ Florentine nickte, ging vor ihm her ins Wohnzimmer und zeigte auf die Couch. „Nehmen Sie platz. Wollen Sie auch einen Kaffee?“ Er setzte sich und kam gleich zur Sache: „Nein danke, ich bleibe auch nicht lang. Ich wollte Sie eigentlich nur informieren, dass es ein paar Entwicklungen bezüglich Ihrer Anzeige gab, die ich nicht am Telefon besprechen möchte.“

Florentine setzte sich ebenfalls, sah ihn aufmerksam an und meinte: „Das klingt aber ernst.“

„Ist es auch. Roland Selb, der Betreiber der illegalen Stallanlage, die Sie angezeigt haben, wurde tot aufgefunden.“

Mit offenem Mund starrte sie den Polizisten an, der daraufhin erläuterte: „Wir gehen davon aus, dass er ermordet wurde.“

„Ach du Scheiße.“, flüsterte Florentine.

„Bisher haben wir noch keinen Hinweis auf den Täter und ermitteln in alle Richtungen.“

„Wo hat man ihn denn gefunden?“

„Jemand hat versucht ihn im Wald zu verstecken, Pilzsammler sind aber über die Leiche gestolpert.“

„Ach, ernsthaft? Im Wald?“

„Ja, da hat sich jemand Mühe gegeben und wollte wohl etwas vertuschen. Er war mit Körnerfutter und Vogelkot beschmiert und hatte zahlreiche Pickspuren. Wahrscheinlich ist er in einem Stall umgekommen und erst später weggebracht worden, aus welchen Gründen auch immer.“

„Widerlich.“

„Ja, ist es. Ich wollte Sie nur informieren, dass die Mordermittlungen Vorrang haben. Ihrer Anzeige wird aber ebenfalls weiter nachgegangen. Vorerst wurde die illegale Anlage dicht gemacht. Die Tiere mussten leider alle getötet werden, ihr Zustand war untragbar. Es tut mir sehr leid, dass ich keine besseren Nachrichten habe.“

„Ist okay. Wenigstens ist diese Anlage jetzt geschlossen und kein Tier muss weiter dort leiden. Wie geht es weiter? Werden die Mitarbeiter auch irgendwie zur Rechenschaft gezogen? Es gibt ja sicher noch mehr Mitwisser, die einfach nur weggesehen oder das Ganze noch aktiv gefördert haben.“

„Ja, die Liste ist recht lang und alle werden sich verantworten müssen. Nur eben Herr Selb nicht mehr. Der hat seine Strafe wohl schon gekriegt.“

„Ein hartes Gerichtsurteil wäre mir lieber gewesen. Ich hoffe jetzt nur, dass wenigstens die anderen Verantwortlichen ordentlich abgestraft werden.“

„Verständlich. Ich halte Sie jedenfalls über den Fortgang der Ermittlungen auf dem Laufenden. Und wenn Ihnen etwas einfällt, was Herrn Selb noch belasten oder seine Ermordung begründen kann, melden Sie sich bitte.“

Der Polizist stand auf, überreichte Florentine eine Visitenkarte, die zustimmend nickte und ihn noch hinaus begleitete.

Als sie ihn verabschiedet und die Tür geschlossen hatte, sank sie zitternd zu Boden. Rolands Tod hatte sie nun doch noch eingeholt, völlig unvermittelt. Anscheinend stand sie aber nicht unter Verdacht und hoffte nur, dass sie sich nicht selbst in irgendeiner Weise verraten hatte. Der Adrenalinschub war dennoch enorm. Und wer zum Henker hatte ihn in den Wald geschleppt?

 


7 Nummer Zwei

 

Gründlich hatte sie sich über die Grinsebacke informiert und sogar seinen Privatwohnsitz ausfindig gemacht. Der Plan stand fest, sie war gut vorbereitet, hatte fleißig geübt und wartete nun geduldig im Gestrüpp hinter dem Haus auf ihre Chance. Anscheinend konnte man mit Mastanlagen ganz gut verdienen, wenn sie sich so das Anwesen betrachtete. Sie wusste außerdem, dass Karlheinz Mittelbach heute Abend alleine sein würde. Seine Frau war auf Geschäftsreise, die Kinder bereits erwachsen und wohnten woanders. Sie musste jetzt nur noch einen Weg finden ihn heraus zu locken.

Eine Weile lang beobachtete sie noch die Fenster und als sie sich sicher war, dass er den Fernseher eingeschaltet hatte, näherte sie sich vorsichtig dem Gehege mit den Zwerggänsen. Ja, für die hatte er ein schönes Plätzchen geschaffen und jetzt würde sie die Tierchen in Aufruhr versetzen, damit sie ordentlich Krach machten. Sie öffnete die Tür des Gatters und begann die Vögel herumzuscheuchen, die sofort anfingen laut zu plärren. Schnell verschwand sie dann wieder in den Büschen, ließ die Gehegetür aber weit offen stehen.

Und das Gekreische war nicht unbemerkt geblieben. Karlheinz sah schon aus dem Fenster, entdeckte das offene Gatter und eilte sofort in den Garten. Wahrscheinlich befürchtete er, ein Fuchs könnte sich an den wertvollen Tieren vergreifen. Misstrauisch beäugte er das Gehege, immerhin hatte die Tür ja nicht von allein aufgehen können. Genau diese Ablenkung machte sich Florentine zu Nutze.

Sie zielte und drückte ab. Fast lautlos zischte der Pfeil ihrer Armbrust durch die Nacht und bohrte sich treffsicher tief in den Rücken des Mannes. Er ging auf die Knie und noch ehe er wirklich begriffen hatte, was gerade geschah, sprintete sie aus dem Gestrüpp, legte ihm blitzschnell eine Schlinge aus Kaninchendraht um den Hals und schnürte ihn zu. Er konnte nicht Schreien, schlug aber wild um sich, sodass sie Mühe hatte ihn festzuhalten. Mit einem kräftigen Ruck zog sie dann den Pfeil aus seinem Rücken und nutze diesen als Drehhebel für den Draht. Immer fester zog sich die Schlinge um seinen Hals und immer schlaffer wurde seine Abwehr bis er schließlich in sich zusammensackte und reglos am Boden liegen blieb. Eilig wickelte Florentine noch mehr Kaninchendraht um ihn und stopfte Ausdrucke von Horrorbildern aus Mastanlagen in seinen Mund und seine Taschen. Das war eine unmissverständliche Botschaft.

Die ganze Aktion hatte nur wenige Minuten gedauert. Er war inzwischen bewusstlos und würde wohl noch gänzlich ersticken. Der Draht hatte sich tief in seinen fetten Hals geschnitten und drückte die Blutzufuhr zum Gehirn rigoros ab. In unmittelbarer Nähe gab es keine Nachbarn, die hätten etwas beobachten können, und so stahl sich Florentine unbemerkt und vollbrachter Dinge wieder davon.

In der SB- Waschanlage erfolgte schließlich die neuerliche Komplettreinigung ihrer Kombi und ihres Motorrades. Sie wollte keine Dreck- oder Blutspuren vom Tatort an sich haben, behielt die ganze Zeit ihre Handschuhe und den Vollhelm mit dem getönten Visier an. Das Nummernschild hatte sie vorsorglich abmontiert und brachte es jetzt wieder an, um keine unnötige Aufmerksamkeit zu erregen. Die Armbrust war von Außen unsichtbar in einer Gepäcktasche verborgen. Sie war wirklich sehr vorsichtig und sorgfältig. Karlheinz würde man frühestens morgen Nachmittag finden und keiner hatte etwas gesehen oder bemerkt, da war sie sich sicher.

Daheim angekommen ließ die Aufregung allmählich nach. Sie parkte das Motorrad in der Garage, zog die Kombi aus und verstaute die Tasche. Jetzt musste sie erst einmal einen Moment zur Ruhe kommen und rekapitulieren, was sie hier eigentlich tat. Sie hatte vor etwa einer Stunde kaltblütig einen Menschen ermordet. Und auch wenn es ein wirklich böser Mensch gewesen war, so handelte es sich immer noch um Mord. Ein wenig überraschte sie die Nüchternheit, mit der sie über diese Sache nachdachte. Was war nur mit ihr geschehen? Auf der Türschwelle sitzend versuchte sie ihre Gefühle zu sortieren. Wenn sie an die furchtbaren Ställe und die gequälten Tiere darin dachte, stieg reines Mitleid in ihr auf und die Verzweiflung nicht alle retten zu können. Wenn sie allerdings an Roland und Karlheinz dachte, wandelte sich alles in pure Galle. Sie war sich nie darüber bewusst gewesen, dass sie dermaßen hassen und konnte. Und die Ermordung dieser Konsorten war ein regelrechter Befreiungsschlag.

Im Wohnzimmer gönnte sie sich dann noch einen starken Drink als Betthupferl. Nicole war schon längst schlafen gegangen. Sie hatte nichts dagegen, wenn Florentine ab und zu eine Spritztour machte, auch wenn sie sich ein bisschen wegen der Sicherheit sorgte. Bei dem Gedanken musste Florentine lächeln. Es lag schon ein wenig Ironie in der Sache, denn nicht ihre Sicherheit war bei den derzeitigen Ausflügen in Gefahr. Was sie jedoch am meisten störte, sie durfte das alles mit niemandem teilen. Keiner durfte auch nur ansatzweise wissen, was sie hier trieb und das machte sie fertig. Leicht melancholisch gestimmt kroch sie daraufhin ins Bett, suchte die Nähe und Geborgenheit in den Armen ihrer Frau, wodurch sie Nicole jedoch sanft weckte. Diese murmelte aber nur unverständliche Dinge, drückte Florentine fest an sich und schlief wieder ein. Es war warm, gemütlich und fühlte sich angenehm sicher an. So schloss auch Florentine die Augen und ließ sich vom Schlaf übermannen.

Erst am nächsten Tag setzte sie sich noch einmal intensiver mit den Geschehnissen der letzten Nacht auseinander. Hatte sie an irgendeiner Stelle Fehler gemacht? Sie hatte das Überraschungsmoment genutzt, um diesen Pisser zu überwältigen, aber dennoch war es eine ziemlich anstrengende Nummer gewesen. Vielleicht konnte sie das beim nächsten Mal besser machen. Ja, sie dacht bereits über ein nächstes Mal nach und eine Woge der Genugtuung durchströmte sie dabei. Endlich hatte jemand den Mut gefunden Nägel mit Köpfen zu machen. Diese Schweine hatten es nicht anders verdient und einen nach dem anderen würde sie fertig machen. Das waren keine Menschen und hatten deshalb auch keine humane Behandlung verdient. Die Gesetze waren einfach zu lasch und Geldbußen viel zu unbefriedigend. Durch sie bekamen diese Subjekte ihre gerechte Strafe und gleichzeitig ging eine warnende Botschaft an alle anderen systematischen Tierquäler hinaus.

Aber sie durfte nicht auffallen oder übermütig werden und verbrachte deshalb das Wochenende schön gemeinsam mit ihrer Familie. Sie machten Ausflüge in die Natur, hatten Spaß und genossen die Zeit. Florentine hatte ihren Tiefpunkt eindeutig überwunden und ging auch wieder zur Arbeit, obwohl sie nicht recht wusste, woher sie gerade diese Energie nahm.

Inzwischen wurde der Mord an Roland Selb in den Nachrichten diskutiert. Scheinbar hatte einer der Mitarbeiter die Leiche des Farmfreunde- Chefs in den Wald geschleppt, um von dem illegalen Hof abzulenken. Dass er den Mann auch getötet haben sollte, stritt er jedoch vehement ab. Die Polizei hatte kaum auswertbare Spuren gefunden, keine brauchbaren Fingerabdrücke, auch die Mordwaffe gab keine Auskunft über den Täter und beim Motiv waren sie sich bislang uneins. Die einen meinten, Roland hätte Geschäftsfeinde gehabt, die ihn als Konkurrenten ausschalten wollten, die anderen gingen von einer tierschutzmotivierten Tat aus. Doch seit wann wurden Tierschützer zu Mördern?

Mit dem äußerst unnatürlichen Tod von Karlheinz Mittelbach lenkte sich das Augenmerk allerdings deutlich auf die letztere Vermutung. Ein oder mehrere Aktivisten nahmen die Dinge nun wohl selbst in die Hand und versetzten die Medienlandschaft in wilde Spekulationslaune. Aber auch die Tierschützer selbst gerieten dadurch in Panik. Einer aus ihren Reihen, jemand der das Leben achtete und verteidigte, sollte zu so etwas fähig sein? Mark war völlig geknickt als er sich mit Florentine traf, um die Geschehnisse zu diskutieren. Sie waren zwar nicht die Einzigen gewesen, die sowohl Roland als auch Karlheinz im Visier gehabt hatten, aber die letzten, die in den Anlagen zugange gewesen waren.

„Das wirft ein völlig falsches Licht auf uns und unsere Organisation. Wir wollen das Quälen und Morden doch beenden, aber nicht indem wir quälen und morden. Der reine Irrsinn ist das. Ich frage mich, wer zu so was in der Lage ist.“, stellte Mark erschüttert fest.

„Vielleicht ein Sympathisant, dem das, was wir machen, einfach nicht weit genug geht?“

„Ein Psycho. Und ganz ehrlich, solche Sympathisanten brauch ich echt nicht. Ich find’s halt komisch, dass es gerade die zwei getroffen hat, gegen die wir zuletzt vorgegangen sind.“

„Kann auch nur Zufall sein.“

„Oder jemand beobachtet, verfolgt unserer Arbeit ganz genau.“

„Über laufende Fälle lasst ihr doch aber nichts raussickern, oder?“

„Na ja, in manchen Foren publizieren wir die Aufnahmen schon vor den offiziellen Anzeigen. So testen wir die Wirksamkeit des Materials und sammeln Unterstützer.“

„Und du meinst, einer der Follower könnte zur Selbstjustiz greifen?“

„Manche machen schon recht krasse Andeutungen, wenn sie kommentieren. Aber bislang ist es halt immer nur bei Worten geblieben.“

„Kann man denn nachvollziehen wer solche Kommentare geschrieben hat und die vielleicht gezielt ansprechen?“

„Nein, ist alles anonym. Da trauen sich die Leute mehr. Und außerdem, jemand der viel Wind macht, muss dem nicht unbedingt Taten folgen lassen. Die Irren sind doch meistens die stillen Kandidaten, oder?“

So kamen sie nicht weiter. Alles was sie jetzt tun konnten, war abwarten und Tee trinken. Irgendwann würde die Polizei etwas finden. Da waren sie sich einig. Aber keinesfalls trauten sie solche Taten jemandem aus den eigenen Reihen zu. Es musste einfach ein kranker Mensch sein, der sich in den für jedermann zugänglichen, anonymen Foren herumtrieb. Florentine erkannte darin ihre Chance den nächsten Horrorbetrieb zu finden und damit den nächsten sadistischen Betreiber, dem sie das Handwerk legen konnte.

 


8 Gute Taten

 

Innerhalb recht kurzer Zeit hatte sie ein paar der besagten Foren ausfindig gemacht und war durchaus erstaunt, wie viele ihre Taten doch befürworteten. Natürlich gab es auch genügend Stimmen, die das drastische Ableben der beiden Betreiber nicht gut hießen, aber doch einen guten Prozentsatz, der diese harten Maßnahmen als richtig und bewundernswert ansah. Endlich mal jemand, der nicht nur auf die langsamen Mühlen der Justiz wartete, sondern die Sache selbst in die Hand nahm.

Florentine stöberte aber nur in den Foren und mischte sich lieber nicht ein. Zu groß war die Gefahr sich in Diskussionen zu verwickeln und sich eventuell zu verraten. Vielmehr suchte sie nach Anhaltspunkten für den nächsten Coup. Und tatsächlich stolperte sie bald über eine Gesprächsrunde, die deutliche Vorschläge machte. Einer schrieb: „Den Chef vom Rinderhof Weidegrund sollte man einen Kopf kürzer machen. Ich weiß aus zuverlässiger Quelle, dass der seine Tiere wie Scheiße behandelt, sie in viel zu engen Boxen noch ankettet und selbst kranke und schwache Rinder mit dem Viehtreiber in die LKWs zwingt. Diesem Arschloch sollte auch mal jemand nen Viehtreiber an den Kopf halten.“

Er erntete durchgängig positive Kommentare für seinen Beitrag und Florentine war der Meinung, dass man so einem ausdrücklichen Wunsch durchaus einmal nachgehen sollte. Also begann sie über den „Weidegrund“ zu recherchieren. Anscheinend hatte es schon öfters Beschwerden über diesen Hof gegeben, aber keine Maßnahmen gegriffen. Das schrie förmlich nach einem persönlichen Besuch. Sie machte die relevanten Adressen ausfindig, doch leider waren die Ställe einige Autostunden weit entfernt. Sie musste also einen Grund finden für ein paar Tage wegzufahren, ohne dass sich jemand darüber wunderte. Also suchte sie, was so in der Nähe des Zielortes lag und einen Besuch wert war. Und da hatte sie es. Ganz in der Nähe fand in wenigen Wochen eine Agrarmesse statt. Sie überflog das Programm und entdeckte ein paar Aspekte, die auch für ihre Läden von Interesse sein könnten, also meldete sie sich an.

Und so ergaben sich nach und nach noch weitere Ziele, die allmählich ihren Kalender füllten. Unter dem Deckmantel von Tagungen oder Messen würde sie nah an den Abschaum der Tierindustrie ran kommen und dort für Furore sorgen, natürlich erst, wenn die Verdachtsfälle eindeutig bestätigt waren. Es gab in den Foren bestimmt auch Leute, die einfach nur gegen jemanden Hetzen wollten, eine moderne Hexenjagd eben. Aber die, die es wirklich verdient hatten, die sollten auch ihren Zorn zu spüren bekommen. Damit lagen aufregende Monate vor ihr.

Nicole und auch die Mitarbeiter begrüßten ihre Einsatzbereitschaft. Sie wollte sich weiterbilden und neue Netzwerke schaffen, um gute Produkte und Lieferanten ausfindig zu machen. Darüber hinaus verbreitete sie den Namen ihrer kleinen Ladenkette und weckte das Interesse möglicher Investoren.

Was ihre Kollegen und auch ihre Frau natürlich nicht wussten, waren die wahren Hintergründe der Geschäftsreisen. Einen Saustall nach dem anderen würde sie ausmisten, dafür gefeiert werden und den Anfang machte der Weidegrund, genauer Silvio Büschel, der Betreiber des angeblichen Rinder- KZ.

Doch zunächst musste sie mehr darüber erfahren und schrieb deshalb den Beitragsverfasser im Forum über einen privaten Chat an: „Hi FFA3, ich habe mit großem Interesse deinen Beitrag über den Weidehof gelesen und möchte gern mehr darüber wissen. Ich gehöre einer Tierschutzorganisation an, die sich genau mit solchen Themen beschäftigt, und bereite derzeit eine Sammelklage vor. Wenn du also beispielsweise verwertbares Bild- oder Videomaterial zur Verfügung stellen kannst oder auch andere Informationen hast, würde das unsere Beweisführung erheblich unterstützen. Ich hoffe, du kannst mir weiterhelfen und freue mich auf deine Antwort.“

Bis sie nun von dem Chatter hören würde, beschäftigte sich Florentine mit der Erarbeitung weiterer Fakten über den Weidehof und natürlich Silvio Büschel. Wenn sie dort aufkreuzte, musste sie gut vorbereitet sein. Glücklicherweise ging die Messe über drei Tage, da konnte sie die erste Nacht zum ausspionieren der Lage nutzen und in der zweiten zuschlagen. Wieder erschauerte sie ein bisschen über ihre eigene Kaltblütigkeit, schüttelte das aber schnell ab.

Eine Antwort ploppte auf dem Bildschirm auf und zog ihre Aufmerksamkeit an. „Hallo Tierfreund8, danke, dass dich mein Beitrag interessiert. Ich selbst besitze zwar kein Videomaterial oder Bilder, kann aber wahrscheinlich welches besorgen. Gib mir ein paar Stunden dafür. Allerdings wäre es mir lieb, wenn wir die Sache weiterhin anonym behandeln.“ „Ganz in meinem Interesse. Niemand wird erfahren, woher ich die Aufnahmen habe. Ich danke dir.“

Und tatsächlich schickte er oder sie wenige Stunden später zwei komprimierte Dateien. Florentine bedankte sich noch einmal und speicherte sie auf einem USB- Stick, bevor sie sich das Material ansah. Und ja, hier lagen eindeutig wieder zahlreiche Verstöße vor. Die Medienpräsenz der Weidegrund- Anlage spiegelte die Realität absolut nicht wider. Wie konnte sich jemand mit Tierwohl brüsten und dann solch Zustände in den Ställen haben? Und dann diese Viehtreiber, das war so abstoßend unmenschlich, wie auch die Angestellten mit den Rindern umgingen. Wie konnte man nur so abstumpfen und so wenig Empathie haben? Und nebenbei grinste sie Silvio Büschel von seiner Website an und tat so, als wäre alles Friede, Freude und Eierkuchen.

Die Visage dieses Kerls prägte sie sich sehr gut ein, denn auch seine Firma hatte einen Stand auf der Messe, um sich von ihrer besten Seite zu zeigen, nichts als Lügen und Täuschung, zum Kotzen. Sie konnte kaum erwarten ihn so richtig fertig zu machen.

Wenige Tage später war es dann endlich so weit.

Florentine pirschte sich an und schon von Außen machte die Anlage irgendwie einen ungesunden Eindruck. Auf dem Gelände standen mehrere Großställe ohne Fenster, von Weidegründen war hier jedenfalls nichts zu sehen. Also wieder einmal dreiste Verbrauchertäuschung. Sie musste sich unbemerkt einen Blick in die Ställe verschaffen, um so den Zustand und die Haltungsbedingungen der Rinder besser beurteilen zu können. Das gestaltete sich nicht gerade einfach.

Florentine blieb immer im Schatten, verbarg sich dicht am Zaun oder hinter Gestrüpp. Sicherlich wurde das Gelände videoüberwacht, da durfte sie sich keine Fehltritte leisten. Vorsichtig aber entschlossen schlüpfte sie dann in einen der Ställe. Er war voll, ihrem Erachten nach viel zu voll, und stickig. Kotrückstände klebten an den Kühen, die sich in den engen Boxen nicht einmal umdrehen konnten. Auch Hinlegen oder gar Schlafen waren unmögliche Dinge bei dieser Enge. Die Tiere wirkten gestresst, manche hatten Schürfwunden und Entzündungen an den Gelenken, sie hatten wohl versucht sich zu legen und dabei verletzt. Und wieder war sie erschüttert mit welcher Selbstverständlichkeit Tierquälerei betrieben wurde. Sie konnte sich nun durchaus vorstellen, dass auch die Geschichten vom unsachgemäßen Gebrauch der Viehtreiber wahr waren.

Auf dem Weg nach Draußen eignete sie sich eines der Geräte an. Sie hingen einfach so an der Wand, nicht gesichert, für jeden zugänglich und verwendbar. Damit würde sie Silvio eine ordentliche Lektion verpassen, der diese Zustände erst möglich machte und billigte. Und das sicher wieder unter der Prämisse der Gewinnmaximierung. Florentine hielt es nicht für nötig noch andere Ställe zu sehen. Der hier hatte ihr schon gereicht und war nur eine Bestätigung der Informationen, die sie von dem anonymen Schreiberling kannte.

Am nächsten Tag auf der Messe besuchte sie erneut den Weidegrund- Stand. Der Chef war heute persönlich anwesend und am liebsten hätte Florentine ihm gleich an Ort und Stelle das Grinsen aus dem Gesicht geprügelt, aber sie gab stattdessen die interessierte Kundin. Er ahnte ja nicht, dass sein letztes Stündlein bald geschlagen hatte.

Und erneut zahlte sich die gute Vorbereitung aus. Sie wusste, wo er wohnte und folgte ihm von der Messe aus heim. Dieses Mal musste es jedoch schneller gehen als bei Karlheinz. Der Überfall sollte zwischen den Hecken auf seinem Weg von der Garage zum Hauseingang erfolgen und nur wenige Augenblicke dauern. Letzte Nacht hatte sie sich den Platz schon ganz genau angesehen. Sie parkte den Leihwagen in einer Nebenstraße, griff sich den gestohlenen Viehtreiber und huschte zügig im Schatten der Zäune und Mauern auf den Grundstückseingang zu. Aus dem Hinterhalt beobachtete sie Silvio beim Zuschließen der Garage und wie er dann langsam Richtung Haustür schlenderte. Er wirkte so selbstzufrieden, was ihren Zorn nur noch mehr anspornte.

Sie aktivierte den Elektroschocker, den sie natürlich vorher auf Funktionstüchtigkeit getestet hatte, und sprang mit einem großen Satz hinter den Heimkehrer. Ohne Vorwarnung drückte sie ihm das Gerät fest in den Nacken. Krampfend ging Silvio zu Boden und schnell legte Florentine nach. Die Stromschläge waren wirklich stark und vor allem bei Anwendung am Kopf und empfindlichen Stellen nicht nur sehr schmerzhaft sondern auch lähmend. Eigentlich hatte sie gehofft, dass Silvio schon dadurch zugrunde ging, doch er war ein zäher Brocken. Um die Sache nun nicht noch länger ausdehnen zu müssen und zu vermeiden, dass er vielleicht doch noch einen Mucks von sich gab, zückte sie ein Jagdmesser und rammte es ihm in den Hals. Er hatte keine Chance.

Ganz sicher, dass er diesen Angriff nicht überleben würde, stopfte sie ihm noch Bilder gequälter Rinder in die Kleidung und verschwand so schnell, wie sie gekommen war.

Um keine Spuren im Mietwagen zu hinterlassen, hatte sie diesen gut präpariert, die Sitze und nicht abwaschbaren Flächen mit Folie ausgelegt und auch das Lenkrad und den Schalthebel ummantelt. Mit moderater Geschwindigkeit verließ sie die Siedlung und fuhr ein Stück weit auf der Landstraße, bevor sie in eine größere, rastplatzartige Haltebucht einbog. Zuerst wollte sie auf einem Parkplatz an der Autobahn halten, doch die waren nachts immer so voll mit LKWs.

Im Dunkeln entfernte sie sorgfältig alle Folien aus dem Wagen und stopfte diese in einen Müllsack. Dann zog sie sich hinter dem Fahrzeug aus, platzierte ihre Motorradkleidung auf einer der Bänke und wusch alles gründlich mit dem Mineralwasser ab, das sie am Vortag gekauft hatte. Im Kofferraum hatte sie eine Reisetasche mit Wechselsachen liegen. Während sie sich also frische Kleidung anlegte, konnten die Kombi, Stiefel, Helm, Handschuhe und das Messer etwas abtropfen. Dann packte sie auch diese gut in Müllsäcke ein und verstaute sie im Wagen. Den Viehtreiber reinigte sie extra, packte ihn gut versteckt weg und sammelte danach die leeren Wasserflaschen ein. Nichts sollte an diesem Ort zurück bleiben, außer der nassen Pfütze unter der Bank, die der trockene Boden aber schon begierig aufsaugte.

In Alltagskleidung gehüllt und mit einer gewissen Selbstzufriedenheit, dass das doch alles so gut geklappt hatte, fuhr sie nun zurück zum Hotel. Sie würde auf ihrem Heimweg das Fahrzeug noch durch die Waschanlage fahren und auch innen etwas sauber machen, immerhin war es ja ein Mietwagen, den sie natürlich in einwandfreiem Zustand zurückbringen wollte.

 


9 Komplizen

 

Die Ermittlungen in den Fällen Roland Selb und Karlheinz Mittelbach kamen nicht wirklich gut voran. Man hatte zunächst Marks Tierschutzgruppe näher im Visier, doch mit dem grausigen Tod von Silvio Büschel wurde diese Annahme wackelig. Immerhin hatten sie überhaupt nichts mit diesem Betreiber zu tun, waren nicht gegen ihn vorgegangen und auch die Region stimmte nicht überein. Entweder man wollte die Polizei in die Irre führen, oder die Nähe der beiden ersten Opfer zu Mark war doch reiner Zufall gewesen. Außerdem machte auch keiner der Tierschützer in diesem Verein den Eindruck ein Gewalttäter zu sein. Klar, sie hatten alle schon einmal Anzeigen wegen Landfriedensbruch oder Sachbeschädigung wegen aufgebrochener Zäune oder Schlösser am Laufen gehabt, doch keiner von ihnen war jemals handgreiflich geworden, im Gegenteil. Mark betonte auch immer wieder, dass er sich nicht vorstellen könne, dass einer von ihnen zu so etwas fähig sei. Sie waren Studenten und Menschen, die mitten im Leben standen, und einfach nur für die Rechte und humane Behandlung ihrer Mitgeschöpfe kämpften.

In den Nachrichten sprach man inzwischen von einem Serienkiller, da es einen offensichtlichen Zusammenhang zwischen den Opfern gab. Florentine freute sich sogar ein wenig über die Aufmerksamkeit der Medien. So drang ihre Botschaft in alle Himmelsrichtungen der Bundesrepublik und ließ alle Betreiber tierquälerischer Einrichtungen hoffentlich erschauern.

Um zu sehen, was man noch über ihre Taten dachte, stöberte sie ein wenig durch die Foren. Auf einmal ploppte eine private Chatnachricht auf: „Mit der Sammelklage hat es sich jetzt wohl erledigt, oder?“ Ein FFA7 hatte ihr das geschrieben und sie war sich sofort sicher, dass das der gleiche FFA war, wie beim letzten Mal, nur mit einer anderen Nummer. Sie hatte sich aber auch mit einer anderen Zahl angemeldet und wunderte sich ein wenig, dass er einfach annahm sie sei die gleiche Person.

Deshalb antwortete sie vorsichtig: „Was meinst du damit?“

„Der Büschel hat gekriegt, was er verdiente.“

„Ach das meinst du, ja, hat er wohl. Ziemlich Scheiße!“

„Schade.“

„Wieso schade? Ich dachte, du findest das gut?“

„Ich hatte ein wenig gehofft, dass du dafür verantwortlich bist.“

„Wie bitte???? Wie kommst du denn darauf?“

„Weil du als Letzter Informationen haben wolltest. Sonst hat sich keiner dafür interessiert.“

„Und da schlussfolgerst du gleich solche Sachen? Na vielen Dank auch!“

„Ist ja gut. Sorry. Wollte niemanden verdächtigen.“

„Bist du von der Polizei, oder was?“

„Nein, hätte das nur extrem interessant gefunden. Endlich mal jemand, der wirklich durchgreift.“

„Ach so, ja, ist aber schon ziemlich heftig, finde ich. Weiß nicht, ob ich mit so jemandem was zu tun haben wollte.“

„Ich schon. Fände das total krass ihn kennenzulernen. Sein Mut ist bewundernswert.“

Florentine schmunzelte. Schön, dass man bei solchen Taten immer dachte, nur ein Mann wäre dazu im Stande. Dennoch fühlte sie sich ein wenig geschmeichelt. Sollte sie FFA einweihen? Was, wenn er oder sie doch von der Polizei war? Sie versuchte ihm/ ihr auf den Zahn zu fühlen und schrieb weiter: „Was würdest du denn machen, wenn ich es doch wäre?“

„Ich würde mich unbedingt mit dir treffen wollen.“

„Aber da ich es nicht bin, willst du dich nicht treffen?“

„Keine Ahnung. Eigentlich chattet man ja anonym um anonym zu bleiben, nicht wahr?“

„Da hast du Recht. Aber was, wenn ich dich gern treffen möchte, in der realen Welt?“

„Warum?“

„Ich finde dich interessant.“

„Okay?“

„Okay zum Treffen oder nur eine Floskel?“

„Weiß noch nicht genau. Hab ja keine Ahnung, wer du bist.“

„Jemand mit einem Geheimnis.“

„Du versuchst mich nur zu ködern.“

„Funktioniert es?“

„Ein bisschen.“

„Was hast du zu verlieren?“

Es dauerte ein wenig, dann schrieb FFA7 zurück: „In Ordnung, aber wir treffen uns an einem neutralen Ort. Vorschläge?“

Florentine schaute auf eine Deutschlandkarte und entschied sich.

„Rasthaus Eisenach Nord, an der A4.“

„Echt? Warum dort?“

„Ist mitten in Deutschland.“

„Ah, clever. Okay. Übermorgen?“

„Geht klar. Mittag?“

„Krieg ich hin. Woran erkenne ich dich?“

„Ich fahre ein schwarzes Elektro- Motorrad. Das gibt es nicht so häufig. Und du?“

„Gut! Ich komme mit einem blauen Golf und werde einen dunklen Anzug und eine Sonnenbrille tragen.“

„Und übrigens, ich bin eine Frau.“

Nach dem letzten Satz schaltete sie den Chat ab und löschte ihren Nickname. Ihr Chatpartner war jetzt sicherlich verblüfft. Immerhin war sie sich zu neunzig Prozent sicher, dass es sich bei ihm um einen Mann handeln musste, denn er schrieb von einem Anzug. Aber ob er mit einer Frau gerechnet hatte, da war sie sich nicht sicher.

Die Spannung wuchs stündlich. Vielleicht hatte sie jemanden gefunden, mit dem sie alles teilen konnte. Jemand, der sie verstand und nicht verurteilte, sie eventuell sogar unterstützte. Es war einfach so schwierig keinen zu haben, mit dem sie über ihre Eindrücke reden konnte, die sie so sehr beschäftigten, einen Eingeweihten, Mitwisser, Kumpane.

Bewusst kam sie ein paar Minuten später zum vereinbarten Treffpunkt und hielt Ausschau nach einem blauen Golf und einem Typen in Anzug und Sonnenbrille. An sein Auto gelehnt stand er da und rauchte eine Zigarette. Selbstbewusst umkreiste sie ihn mit dem Motorrad und hielt auf dem Parkplatz neben ihm. Er beobachtete sie aufmerksam, ließ sich aber scheinbar nicht aus der Ruhe bringen. Nachdem sie abgestiegen war, ging sie zwei Schritte auf ihn zu, nahm den schwarzen Helm mit dem getönten Visier ab und streckte ihm ihre Hand entgegen. „Hi FFA, ich bin Flo.“ Er lächelte, griff beherzt zu und stellte sich vor: „Tierfreund, ich heiße Steve. Sehr nett dich kennenzulernen.“ Sie lächelte ebenfalls und schlug vor: „Wollen wir einen Kaffee trinken?“ Nickend nahm er den Vorschlag an und sie begaben sich in die Raststätte.

Erst als sie dann jeder mit einer dampfenden Tasse schwarzem Kaffee an einem Tisch in der Ecke saßen, sprachen sie weiter miteinander, aber leise.

Er begann: „Und, hab ich das nun richtig verstanden? Du bist diejenige welche?“

„Ja, bin ich.“

„Aber wie kommt das?“

„Der erste war absolut spontan und beinahe in Notwehr. Den zweiten und dritten habe ich dagegen gut vorbereitet und geplant.“

„Und wie hat sich das angefühlt? Ich will Details wissen. Bitte.“

„Ganz ehrlich? Es war total aufregend, pures Adrenalin. Wenn man im Hintergrund auf die Beute lauert, fühlt sich das so lebendig an.“

„Und hast du kein schlechtes Gewissen? Bereust du es irgendwie?“
„Wieso sollte ich? Diese Schweinekerle haben es doch verdient und es war eine regelrechte Genugtuung sie fertig zu machen. Und ich werde es wieder tun, solange ich kann und es sich richtig anfühlt.“

„Wow. Ziemlich krass. Ich bin beeindruckt.“

Sie schwiegen eine Weile lang, währenddessen Steve in seinen Kaffee starrte als würde er intensiv über etwas nachdenken. Dann fragte er leise: „Kann ich mitmachen?“ Überrascht sah Florentine ihn an und flüsterte: „Hältst du das denn für eine gute Idee? Du weißt, was ich tue und dass es schlimme Konsequenzen haben kann.“

„Das ist mir egal. Ich habe es satt in der zweiten Reihe zu stehen und immer nur zuzusehen und anzuprangern. Es ändert sich ja eh nichts. Ich will endlich tätig werden, die Sache selbst in die Hand nehmen. So wie du.“

„Die Bilder werden dich nicht mehr los lassen. Es ist gefährlich und aufreibend.“

„Ich bin jetzt schon begeistert. Bitte weih mich in deine Pläne ein.“

Wieder schwiegen sie. Florentine musterte ihn aufmerksam. War er wirklich ein Enthusiast oder lockte er sie damit in eine Falle? Vielleicht war er doch von der Polizei? Wie sollte sie da sicher sein? Misstrauisch legte sie deshalb fest: „Du musst mir erst beweisen, dass du der Sache gewachsen bist. Vorher erfährst du keine Details.“

„In Ordnung. Was soll ich machen?“

„Such dir einen Schuldigen, zeig ihn mir und ich berate und begleite dich auf deiner ersten Mission. Aber du wirst es tun und ich nur beobachten.“

„Einverstanden.“

Steve stand energisch und voller Tatendrang auf. Irgendwie wirkte er für ihren Geschmack ein wenig zu begeistert, aber vielleicht war er auch einfach nur so. Gemeinsam verließen sie den Rasthof und berieten auf dem Weg zu ihren Fahrzeugen, wie sie in Kontakt bleiben würden. Das anonyme Forum war wohl die beste Idee. Sie machten neue Spitznamen aus und Steve sollte sich melden, sobald er ein passendes Ziel auserkoren hatte.

 


10 Giftmischer

 

Florentine war immer wieder verblüfft, wie gut sie ihr düsteres Geheimnis doch vor ihrer Familie und den Kollegen und Freunden verbergen konnte. Tagsüber war sie die fleißige Unternehmerin aber nachts ging sie auf Jagd nach Verbrechern. Fast wie ein Superheld, freute sie sich innerlich.

Steve meldete sich schneller als gedacht und schien noch immer voller Elan und ohne Zweifel. Ein wenig beunruhigte sie das, denn sie konnte nicht ahnen, wohin das führen würde. Aber sie hatte ihre Hilfe und Anleitung versprochen und dieses Wort hielt sie auch.

Als Ziel hatte Steve eine ganz besondere Person ausgemacht, den Betreiber einer Pelztierfarm. Florentine wusste gar nicht, dass es noch immer derartige Betriebe in Deutschland gab, aber tatsächlich tauchten hier und dort noch welche auf. Nur diese war besonders, nämlich nicht genehmigt, nicht kontrolliert und wahrscheinlich vollkommen illegal. Sie wusste nicht, wie er das hatte entdecken können. Die Anlage stand auf einer Waldlichtung auf einem Privatbesitz. Pilzsammler und Forstbetriebe hatten hier keinen Zugang. Für die reihenweisen Gitterkäfige brauchte man nicht viel Platz und auch sonst war der Betrieb nicht aufwendig, wenn man alle geltenden Tierschutzverordnungen missachtete.

Sie lagen hinter einem Dickicht aus alten Zweigen, Laub und Gestrüpp und beobachteten mit Ferngläsern das Treiben auf der Farm. Es schien sich tatsächlich nur einer darum zu kümmern, vielleicht handelte es sich um einen Nebenerwerb. Die Anzahl der Tiere hielt sich glücklicherweise auch in Grenzen.

Steve hatte seine Hausaufgaben gemacht und ausführlich über den Besitzer der Farm recherchiert. Nur durch Hörensagen war er ursprünglich darauf aufmerksam geworden, wusste jetzt aber den Namen und die genaue Adresse. Mit einer Drohne hatte er letztendlich den Standort der versteckten Anlage ermitteln können. Sie mussten sich nun nur noch überlegen, wie sie dem Betreiber das Handwerk legten.

Allmählich hatte Florentine keine Zweifel mehr gegenüber den Absichten ihres Komplizen. Steve war ihr gegenüber sehr aufgeschlossen, lud sie sogar zu sich in die Wohnung ein, wo sie in diesem Fall auch ihr Hauptquartier aufschlugen. Er lebte allein, arbeitete in einem mittelständischen Betrieb, der Glasscheiben produzierte, hatte ein paar Freunde, mit denen er gelegentlich etwas unternahm, war aber sonst eher der ruhige Typ, der sich eine Stadtgarten- Parzelle gemietet hatte, um sein eigenes Gemüse anbauen zu können. Vielleicht war er in gewisser Weise ein Sonderling, aber völlig harmlos wirkend und unauffällig.

Bei einem selbst geernteten Pfefferminztee erläuterte ihm Florentine, wie sie jetzt weiter vorgehen würde: „Wir wissen wer er ist und wann er sich dort aufhält. Da die Anlage recht einsam steht, werden wir ihn auch dort zur Strecke bringen. Aber, man muss ihn finden, damit auch den Nerzen geholfen werden kann. Deshalb wäre es vielleicht sinnvoll, wenn wir eine Art Bekennerschreiben anfertigen, das die Polizei zu ihm führt, natürlich erst ein paar Stunden später. Wir wollen ja nicht auffliegen.“

„Wir können ja die GPS- Koordinaten auf einen Zettel schreiben, den zusammen mit Fotos von der Farm in einen Briefumschlag stecken und bei der Dienststelle in den Briefkasten werfen.“

„Die Idee finde ich gut, nur würde ich der Post die Zustellung überlassen, um auf keiner Überwachungskamera aufzutauchen. Außerdem nehmen wir einfach wahllos Bilder aus dem Internet, ohne einheitliche Quelle. Wir dürfen natürlich auch keine Fingerabdrücke auf den Fotos oder dem Umschlag hinterlassen.“

„Oder wir schicken einfach eine Mail.“

„Ist das nicht nachvollziehbar, wo die her kommt?“

„Nicht, wenn man den richtigen Dienst verwendet.“

Steve erwies sich als äußerst geschickt, was das Verschleiern seiner Identität im Internet anging. Zumindest wusste er genau, was zu tun war, wenn keiner dem Ursprung einer Email auf die Schliche kommen sollte. Jetzt mussten sie sich nur noch über die Ausführung des eigentlichen Coups einig werden.

Florentine packte ihre Armbrust auf den Tisch und meinte: „Ich bringe den Schweinehund damit zu Fall, dann stürzen wir uns auf ihn und geben ihm den Rest, schnell, möglichst leise und wirkungsvoll.“ So ganz schien Steve davon nicht überzeugt zu sein und wand ein: „Wir müssen dort nicht unbedingt schnell und leise sein. Das ist mitten im Wald, da hört den keiner.“

„Was schlägst du vor?“

„Wir lassen ihn leiden, so wie er die Tiere leiden lässt.“

„Das heißt genauer?“

„Lass uns doch ein wenig kreativ denken. Die Armbrust finde ich schon mal sehr gut. Da machen wir ein bisschen Gift an den Pfeil, verletzen ihn ordentlich damit und schnappen ihn uns, wenn er zu Boden geht. Eventuell sollten wir ihm den Mund zukleben, damit er nicht zu laut wird, und vielleicht brauchen wir auch mehr als einen Pfeil, darauf sollten wir vorbereitet sein, falls du ihn nicht gleich gut triffst. Und wenn wir ihn dann einmal in der Mangel haben, stecken wir ihn in einen seiner Käfige, das wird richtig eng, da kriegt er schön Panik, und dann verletzen wir ihn noch etwas mehr, damit er auch sicher abnibbelt, aber schön langsam.“

Fassungslos starrte Florentine ihn an. War Steve etwa ein Sadist? Der Steve, der ihr hier in seiner gemütlichen Wohnung gegenüber saß und selbstgemachten Tee servierte? Stammelnd hinterfragte sie seine Ausführungen: „Das hast du dir aber schon sehr detailliert überlegt, aber von welchem Gift sprichst du denn hier?“ Ein Grinsen huschte über sein Gesicht, dann holte er einen Schlüssel hervor, den er an einer Kette um den Hals trug, öffnete damit ein Schränkchen neben der Couch, griff sich ein Fläschchen und stellte es auf den Tisch. „Das ist Eisenhut, besser gesagt ein Extrakt davon, hoch konzentriert. Das heißt, der Aconitin- Anteil ist beachtlich und ich vermute die Wirksamkeit ebenso. In meinem Hobbygarten wächst eben nicht nur Gemüse.“ „Was? Wann? Wie?“, stotterte Florentine völlig perplex, was ihn nur zu weiteren Erklärungen anregte. „Ich bin nicht nur Hobbygärtner, sondern auch Hobbychemiker und habe von der Arbeit ein wenig Lösungsmittel mitgehen lassen, mir mit Hilfe des Internets eine geeignete Extraktionsanlage gebastelt und ein bisschen gekocht. Allerdings muss ich gestehen, dass ich dieses Zeug noch nie ausprobiert habe und es jetzt schon etwa zwei Monate rum steht. Angeblich ist es nicht ewig haltbar. Also, ein weiterer Grund es mal anzuwenden.“ „Aber warum?“

„Warum ich das mache?“

„Ja, Mann!“

„Ähm, weil es mich interessiert und ich das spannend finde. Und ich muss ehrlich gestehen, dass ich schon lange darauf warte eine Anwendungsmöglichkeit zu finden. Was sagst du? Machen wir diesem Scheißer seine letzten paar Stunden zur Hölle?“

„Ist das nicht nachweisbar?“

„Doch, ist es. Aber weißt du, wie viele Leute diese Pflanze im Garten stehen haben? Die ist echt hübsch. Mach dir keine Sorgen darüber, ich war sehr vorsichtig was das Besorgen der Glasgeräte und der Chemikalien betrifft. Als Lösungsmittel habe ich ein total gängiges Entfettungsmittel genommen, das wir literweise auf Arbeit herumstehen haben. Da fielen die abgezweigten hundert Milliliter gar nicht auf. Und das Glaszeug hatte ich teilweise schon zu Schulzeiten mitgehen lassen, warum auch immer, und den Rest auf eBay eingekauft, unter falschem Namen und per Versand an eine Packstation. Also, alles kein Stress.“

„Ich bin wirklich verblüfft.“, musste Florentine zugeben. So viel kriminelle Energie hatte sie ihm wirklich nicht zugetraut. Aber immerhin planten sie hier einen Mord, also war ein bisschen Giftmischerei wohl das geringere Übel. Nur eine Sache interessierte sie noch. „Wie wirkt dieses Zeug eigentlich, oder wie genau soll es wirken?“ Begeistert erzählte Steve: „Es wirkt sich direkt auf das Zentralnervensystem aus, zunächst erregend. Das heißt man wird erst einmal hypersensibel, danach treten erste Lähmungserscheinungen auf und ein furchtbares Kältegefühl im ganzen Körper, dann folgen Gefühllosigkeit, erschwerte Atmung, Ohrensausen, Schwindel, Erbrechen, Durchfall, die ganze bunte Palette einer starken Vergiftung eben. Und letztlich kommt es zu Atemlähmung oder Herzversagen. Das Beste ist aber, bis zum Schluss ist derjenige bei vollem Bewusstsein und hat unerträgliche Schmerzen.“

Florentine atmete tief durch. Seine Begeisterung für diese Dinge bereitete ihr ein wenig Unbehangen und würde ihr zukünftig bestimmt noch Schwierigkeiten machen.

Und bei der Anwendung des Giftes mussten sie tatsächlich sehr vorsichtig sein, da es sogar über die intakte Haut aufgenommen werden konnte, und entschieden sich deshalb die Pfeilspitzen erst vor Ort damit zu tränken. Sie durften unter keinen Umständen damit ungeschützt in Berührung kommen, erst recht, da sie die Wirksamkeit des Extraktes noch nicht kannten.

 


11 Abenteuer

 

Im Wald angekommen legten sie sich auf die Lauer. Florentine präparierte drei Pfeile während wie warteten, indem sie die Spitzen vorsichtig in die Eisenhut- Tinktur tauchte, sorgsam beiseite legte und dann trocknen ließ. Lutz, der Qualpelzzüchter, machte kurz darauf seine abendliche Kontrollrunde durch die Farm. Aus ihrer Deckung heraus zielte Florentine auf ihn und wartete auf den passenden Moment. Als sie abdrückte, hielt sie den Atem an. Der Pfeil zischte durch die hereinbrechende Nacht und bohrte sich erbarmungslos in den Oberschenkel des Mannes, der sogleich laut aufheulte.

Steve sprintete los, warf sich auf den Getroffenen und spießte ihm ein zweites Geschoss per Hand in den Nackenmuskel. Vollkommen überrumpelt fiel Lutz zu Boden, Florentine griff sich den letzten Pfeil und löste sich nun ebenfalls aus dem Dickicht. Ihr Komplize drückte den Farmer inzwischen fest in den Kies der Lichtung, sie zückte das mitgebrachte Klebeband und wickelte es mehrmals um den Kopf und über den Mund des Mannes, der unter ihnen winselte.

Gemeinsam schleppten sie ihr Opfer dann zum nächsten Käfig, der wirklich winzig war. Sie würden den Mann nie vollständig hineinzwängen können. Dennoch befreiten sie den Nerz und stopften Lutz so weit es ging mit dem Oberkörper in die Öffnung des Drahtgehäuses, um ihn anschließend mit noch mehr Klebeband zu fixieren.

Gleich danach schnappte sich Steve den dritten Pfeil und rammte ihn dem wehrlosen Opfer in eine Hinterbacke. Noch konnte der Mann zucken und strampeln, doch das fiel ihm zunehmend schwerer. Anscheinend entfaltete das Gift bereits seine Wirkung. Ein paar Minuten später waren die Anzeichen schon deutlicher. Unter furchtbaren Schmerzen wand sich der Gefangene und wimmerte herzzerreißend dabei. Florentine zog die Pfeile aus seinem Fleisch, wickelte sie in eine Tüte und verstaute sie sorgsam mit der Armbrust in ihrem Rucksack. Steve beobachtete aufmerksam die Entwicklung der zunehmenden Vergiftung. Kalter Schweiß stand Lutz auf der Stirn, seine Augen wurden zunehmend blutunterlaufen. Auch wenn er nur durch die Nase atmen konnte, wurde sein erstickendes Röcheln immer lauter. Er konnte sich mittlerweile nicht mehr bewegen, die Lähmungserscheinungen waren eingetreten und befielen seinen gesamten Körper. Florentine hatte schon beinahe Mitleid und zückte ihr Messer, um dem Elend ein schnelleres Ende zu machen, doch Steve hielt sie mit einer Armbewegung zurück. Es sollte auch so nicht mehr lange dauern. Das Ableben des Züchters war besiegelt, ein schmerzhafter, langsamer Tod, den er auf alle Fälle verdient hatte. Es war vollkommen grotesk und aufregend und ihr Adrenalinspiegel wieder einmal am überkochen. Und kurz darauf war es vorbei. Lutz regte sich gar nicht mehr, sein starrer Blick wirkte stumpf und seltsam verdreht, das Röcheln verstummte und wich einer eigentümlichen Stille. Nur noch der Wind in den Bäumen und das Kratzen und Rascheln der Nerze war nun zu hören. Florentine klopfte ihr Herz bis zum Hals, Steve nahm ihr das Messer ab und schnitt damit tief in das Bein des Sterbenden. Er durchtrennte eine Hauptader, wollte damit ganz sicher gehen, dass der Mann auch tot blieb und hier leise in der Nacht ausblutete.

Zügig entfernten sie sich dann von dem Ort, zogen sich in der Nähe des Autos aus und spülten gründlich die Spuren von den Motorradsachen und der Ausrüstung. Das Adrenalin pumpte noch immer durch ihre Venen und als sie sich so, nur in Unterwäsche gekleidet, in der freien Natur gegenüber standen, überkam sie beide ein völlig unerwartetes Gefühlschaos.

Fast gleichzeitig fielen sie plötzlich übereinander her, intensives Knutschen gipfelte in wildem, hemmungslosem Sex auf dem Rücksitz des Fahrzeugs.

Verstört und voller Selbstvorwürfe kleideten sie sich danach an. Sie sprachen kein Wort, sammelten ihre Sachen und Equipment ein, verstauten alles sorgfältig und fuhren davon. Nach einem Besuch in der Waschanlage begaben sie sich zurück in seine Wohnung. Beide fühlten sich schlecht und hatten mittlerweile das dringende Bedürfnis darüber zu reden. Florentine ergriff als erste das Wort: „Was da passiert ist, war eine totale Kurzschlussreaktion und absolut keine Absicht. Verstehst du das?“

„Natürlich versteh ich das. Ich glaube, es war eine ziemlich verrückte Reaktion auf die Umstände. Und ich interpretiere da jetzt auch definitiv nichts rein.“

Erleichtert ließ sich Florentine auf seine Couch fallen, stützte den Kopf in ihre Hände und erzählte: „Steve, ich bin verheiratet, mit einer Frau. Ich bin lesbisch und weiß überhaupt nicht, wieso ich das vorhin getan habe. Seitdem ich siebzehn bin, habe ich mich von keinem Mann mehr anfassen lasse. Das ist alles irgendwie krank.“ Steve setzte sich zu ihr und versuchte sie aufzumuntern: „Ist doch kein Thema, das war das ganze Adrenalin. Das macht einen irre und leichtsinnig.“ Beschwingt sprang er aber gleich wieder auf. „Diese ganze Nacht war einfach total irre und ich bin immer noch völlig durch den Wind. Wir haben es wirklich getan, wir haben diesen Mistsack alle gemacht, das ist das Einzige, was zählt. Und das danach war einfach nur eine Entladung der ganzen aufgestauten Energie. Ich fühle mich großartig! Wann machen wir weiter?“ Sie schaute ihn an und nickte sachte, schlüpfte zurück in ihre Motorrad- Kombi, packte anschließend ihre restlichen Sachen zusammen und wollte sich verabschieden.

Steve beruhigte sich unterdessen, lächelte und meinte: „Die Email schicke ich gegen Mittag, da müsstest du längst wieder daheim sein. Alles klar bei dir? Schreiben wir wieder?“

„Ja, alles klar. Wir warten ein paar Tage und dann melde ich mich wegen des nächsten Ziels. In Ordnung?“

„Du weißt schon eins?“

„Ich habe eine Liste und einen Zeitplan. Aber alles Stück für Stück.“

„Respekt!“

Sie umarmten sich zum Abschied, dann verließ Florentine die Wohnung, das Haus, schwang sich auf ihr Motorrad und brauste davon. Angeblich hatte sie die letzten zwei Tage bei Fachvorträgen zugebracht und musste sich nun überlegen, wie sie auf Fragen dazu reagieren sollte.

Am Vormittag traf sie zu Hause ein, es war Samstag und Nicole gerade dabei den Frühstückstisch abzuräumen. Die Kinder spielten lebhaft mit ihren Legos im Wohnzimmer. Florentine hatte ihre Motorradkleidung ordentlich in der Garage aufgehängt, sie war noch ein bisschen nass, da sie sich noch einmal in einer SB- Waschanlage abgeduscht hatte. Stattdessen trug sie jetzt ihre Wechselsachen und betrat gespielt energisch den Raum. Die Kinder sprangen gleich auf und rannten auf sie zu, Nicole wurde hellhörig und rief aus der Küche: „Flo? Bist du das?“ Sich die Hände an einem Wischtuch abtrocknend kam sie nun ebenfalls ins Wohnzimmer gelaufen, wo Jonas und Mia bereits an Florentine klebten und sich von ihr bespaßen ließen.

„Wie war die Tagung?“

„Totale Zeitverschwendung! Eine reine Verkaufsveranstaltung für sinnloses Zeug! Man sollte halt zu keinen kostenlosen Seminaren gehen. So ein Blödsinn, sag ich dir.“

„Echt, wollten die euch Sachen andrehen?“

„Die reinste Kaffeefahrt, sage ich dir. Was haben eine neue Kaffeemaschine oder Büromöbel mit guter Mitarbeiterführung zu tun? Dass alle munter sind und gut sitzen? Idiotisch!“

„Na ja, wenigstens bist du jetzt schlauer, wo du nicht mehr hingehen solltest, nicht wahr?“

Florentine schüttelte die Kinder ab und umarmte ihre Frau herzlich. Das restliche Wochenende sollte ganz der Familie gehören.

Der schreckliche Tod von Lutz Griesheim wurde bereits in den Sonntagabend- Nachrichten angedeutet. Die Sprecherin berichtete keine Details und nannte ihn nur das jüngste Opfer einer grausigen Mordserie. Die Polizei schien auch weiterhin in den Fällen der anderen Drei zu ermitteln und versuchte Zusammenhänge zwischen den Toten herzustellen. Aber alles, was sie verband, war die Grausamkeit und der Leben verachtende Inhalt ihres Geschäfts, zugunsten des Profits. Und auch wenn die Ansagen möglichst neutral klingen sollten, war der Unterton vielsagend. Die Verbrechen der Ermordeten rückten in den Vordergrund und rechtfertigten beinahe ihr erzwungenes Ableben, wenn auch die Methodik fragwürdig war.

„Schalt das bitte ab.“, tönte Nicole und unterbrach so ihre Gedanken beim gebannten Starren auf den Bildschirm. Florentine griff nach der Fernbedienung und zappte durch das Programm zu einer Kindersendung. „Ist das besser?“ „Nicht wirklich, aber wenigstens lebensbejahender.“, lachte Nicole und gesellte sich mit auf das Sofa. Die Kids saßen inzwischen am Esstisch und malten in ihren Büchern herum. Da sie nur reichlich ein Jahr auseinander waren, konnten sie sich recht gut gegenseitig und miteinander beschäftigen, nur manchmal gab es Streit, der geschlichtet werden musste. Aber meistens funktionierte das gut und glücklicherweise war die Pubertät noch in weiter Ferne.

Nicole sah hinter sich und beobachtete ihre Sprösslinge kurz. „Hach, wie lange wird das wohl noch gut gehen? Irgendwann haben die sich bestimmt so richtig in den Haaren.“ „Spätestens als Teenager werden sie unerträglich sein. Und dann haben wir gleich zwei von der Sorte im Haus. Vielleicht sollten wir uns jetzt schon langsam Valium- Vorräte zulegen.“, warf Florentine ein und blickte ebenfalls in die Richtung.

Erst nachdem die beiden im Bett waren, bekam sie die Erlaubnis wieder auf einen Nachrichtenkanal zu schalten. Sie meinte sonst gar nicht mehr mitzubekommen, was so in der Welt los sei, wollte aber insgeheim nur mehr über die Mordfälle wissen. Und tatsächlich gab es sogar eine Talkrunde zu dem Thema. Das konnte sie nur Nicole nicht antun und schaltete lieber weiter.

 


12 Medienrummel

 

Die Diskussion über die vier Mordfälle drang langsam bis in die Mitte der Gesellschaft vor. Es wurde erörtert, interpretiert und spekuliert. Allmählich sickerten auch Details über das Ableben des letzten Opfers heraus und versetzten die Zuschauer und Zuhörer in abscheuendes Erstaunen. Man sprach davon, dass es nur noch eine Frage der Zeit sei, wann es den nächsten erwischte. Die Polizei hatte nur wenige auswertbare Spuren. Zwar hatten sie das Gift gefunden und vermuteten, dass es mit Pfeilen in den Kreislauf des Mannes geraten war, aber woher es kam und von wem, war vollkommen unklar. Jedoch stellten sie auch heraus, dass mit dem letzten Mord die ganze Sache eine absolut neue Qualität erreicht hatte. War der erste Mann noch eher plump mit einer Eisenstange erschlagen worden, steigerten sich der Aufwand und die Inszenierung der Tötungen immer deutlicher. Und Florentine wusste, dass Lutz nicht der letzte gewesen sein würde.

Für sie ein wenig überraschend standen an der Spitze all dieser fragwürdigen Unternehmen, die sie auf ihrer Liste hatte, immer Männer im Alter zwischen 45 und 70 Jahren. Hatten Frauen von Natur aus mehr Empathie mit anderen Lebewesen und schlugen deshalb auch andere Karrieren ein? Oder war das reine Erziehungssache? Jedenfalls war sie ganz froh nun einen Mitstreiter zu haben, mit dem sie solche Fragen erörtern konnte, und Steve war wirklich sehr engagiert. Er beteiligte sich beinahe besessen an den Recherchen und entwickelte detaillierte Pläne. Florentine musste ihn immer ein bisschen bremsen, damit seine Vorstellungen nicht völlig ausarteten.

Die Giftpfeile hatten sich zumindest bewährt und sollten vielleicht auch bei folgenden Missionen wieder zum Einsatz kommen. Doch vorher wollte sie sich seit längerem einmal mit Mark treffen. Immerhin hatte sie ihn darauf angesetzt noch weitere schwarze Schafe unter ihren Lieferanten zu finden und seitdem nichts mehr von ihm gehört. Sie vereinbarten ein neuerliches Kaffeetrinken im Café Sommer.

Florentine freute sich sehr ihn zu sehen, immerhin hatte er ja alles ins Rollen gebracht. Und nun war sie gespannt darauf, was er noch so hatte recherchieren können. Freundschaftlich begrüßten sie sich.

„Hallo Mark, wie geht es dir? Ich habe lange nichts von dir gehört.“

„Ganz gut, Flo. Und bei dir? Läuft der Laden? Habt ihr schnell einen neuen Zulieferer gefunden, der die Farmfreunde ersetzen kann?“

„Das war nicht ganz einfach, aber ja. Ich überprüfe jetzt immer alles doppelt und informiere mich ganz genau über die Bewerber. Habt ihr inzwischen vielleicht noch was über meine Lieferanten rausgefunden oder seid ihr noch an der Sache dran?“

„Na ja, ich muss ganz ehrlich gestehen, dass wir nicht weiter gesucht und recherchiert haben.“

„Ach so? Warum denn?“

„Schaust du keine Nachrichten?“

„Wegen dem Killer? Aber was hat das denn mit euch oder Biofarm zu tun?“

„Die ersten zwei Opfer waren immerhin die Chefs genau der Firmen, die wir bereits unter der Lupe hatten.“

„Aber die anderen waren doch vollkommen unabhängig. Ich denke ja immer noch, dass das reiner Zufall war.“

„Sag das mal der Polizei. Du glaubst nicht, wie oft die in den letzten Monaten bei mir auf der Matte standen. Die haben echt geglaubt einer aus unseren Reihen würde solche Sachen tun. Das ist so krank! Da sind wir eben sehr vorsichtig geworden.“

„Und jetzt? Wollt ihr abwarten, bis sie den Killer haben?“

„Tut mir leid, ja. Uns ist das Risiko weiterhin damit in Verbindung gebracht zu werden einfach zu groß. Das würde alles zerstören, was wir über all die Jahre aufgebaut haben. Da lieber beschränken wir uns vorübergehend auf andere Aktionen, Proteste, Plakate, Aufklärung und so was eben. Verstehst du das?“

„Ja, verstehe ich. Ihr müsst euch ja nicht selbst tiefer reinreiten als nötig. Da warte ich eben bis sich die Wogen geglättet haben und dann könnt ihr eure Forschungsarbeit wieder aufnehmen. Mal sehen, ob sie diesen Typen erwischen.“

„Ich denke, das ist nur eine Frage der Zeit. Irgendwann wird er einen Fehler machen oder sich vielleicht sogar selbst stellen. Das kann ja auch nicht ewig so weiter gehen. Hast du gehört, was der mit dem letzten Opfer gemacht hat?“

„Die Giftsache meinst du?“

„Ja, übel, oder? Ich habe mal nachgelesen, was dieses Zeug mit einem macht, das ist voll der Horror.“

„Ich weiß, abartig. Aber was der mit den Nerzen gemacht hat, war auch nicht gerade vorbildlich oder human. Die armen Viecher in solchen winzigen Drahtboxen einsperren und auf ihre Hinrichtung warten lassen, nur um ihnen das Fell über die Ohren ziehen zu können. Das ist doch das eigentliche Verbrechen, oder?“

„Stimmt schon. Im Grunde ist der ein Racheengel für gequälte Tiere. Trotzdem finde ich, dass das nicht der richtige Weg ist. Es muss anders gehen diese Dinge aufzudecken und zu beenden.“

„Aber, es ist wirkungsvoll und erzeugt viel Medienrummel. Vielleicht fangen die Leute jetzt an darüber nachzudenken, bewusster einzukaufen und das System der Lebensmittelindustrie zu hinterfragen und der Bekleidungsindustrie auch. Es passiert viel zu viel hinter verschlossenen Türen und ich glaube kaum einer findet es okay Qualfleisch auf dem Teller liegen zu haben, sie denken nur nicht darüber nach, weil ihnen eine heile Welt suggeriert wird. Wenn dann aber mal die wahren Bilder ins Rampenlicht gerückt werden, fängt dieses Weltbild an zu bröckeln. Und genau das macht dieser Racheengel.“

„Kann es sein, dass du den Kerl irgendwie bewunderst?“

„Vielleicht ein bisschen.“

„Wow, krank. Aber okay, kann sich ja jeder eine eigene Meinung bilden. Mir ist das schlichtweg zu heftig, was der da abzieht, und Mord ist immer noch Mord. Und wenn der jetzt noch anfängt die Leute zu Tode zu Quälen, weiß ich nicht, ob er wirklich besser ist als sie.“

„Schwierige Frage. Will er denn besser sein? Oder hat er sich nur auf ihr Niveau herabbegeben um zu tun, wozu sonst keiner den Mut hatte?“

„Puh, ich glaube, das führt jetzt doch zu weit. Wir sollten diese Diskussion vertagen und vielleicht mal bei einem Bierchen weiterführen. So am hellerlichten Nachmittag ist mir das doch etwas zu schwerer Stoff.“

„Ja, lass uns das machen.“

Sie standen beide auf und verabschiedeten sich herzlich. Mark hatte nun zwar den Eindruck, dass Florentine eine Sympathisantin des Mörders war, hegte aber keinen tiefer gehenden Verdacht gegen sie. Warum sollte er auch? Sie war eine gestandene Frau mitten im Leben, hatte ihre eigene Ladenkette, eine liebvolle Familie und eigentlich alles, was man sich so wünschte. Wieso sollte sie das aufs Spiel setzen? Ja, wieso eigentlich?

Der Gedanke beschäftigte sie noch eine ganze Weile und auch die Frage, was passieren würde, wenn man sie letztlich erwischte. Sie würde alles verlieren. War es das wirklich wert?

Unterdessen plante Steve die nächste Aktion. Laut Florentines Liste war das Ziel ein gewisser Patrick Neubauer, der mehrere Gänsefarmen unterhielt, eine davon auch im Ausland. Und genau die war das Problem, denn hier wurde Gänsestopfleber produziert, eine angebliche Delikatesse, die mit grausamsten Mastmethoden einher ging. Vor seinem geistigen Auge schwebte ihm schon vor, wie er Patrick den Garaus machen wollte, doch dafür mussten sie ihre Vorgehensweise ändern.

Um sich heimlich mit Steve zu treffen, machte Florentine wieder einmal einen ihrer Motorradausflüge. Auf einem Supermarktparkplatz stieg sie dann in sein Auto und sie fuhren gemeinsam zu einem verlassenen Firmengelände, das er gefunden hatte. Es handelte sich um eine stillgelegte Kiesgrube, nicht sehr groß und schon von Birken überwuchert. Ein wirklich einsamer Ort mitten im Nirgendwo.

Dort eröffnete er ihr dann seinen Plan: „Ich möchte Patrick hierher bringen und ihm erst hier ein Ende bereiten, das er verdient hat.“

„Und wie? Willst du ihn etwa entführen?“

„Genau.“

„Ich weiß nicht recht, das ist ein ziemlicher Aufwand, um jemanden zu bestrafen. Meinst du nicht auch?“

„Es wird sich lohnen. Die Botschaft wird sehr deutlich ausfallen. Ich habe da so ein paar Ideen.“

„Verrätst du die mir, oder soll ich mich überraschen lassen?“

„Wie du das möchtest.“

„Okay, überrasch mich. Aber wie willst du die Entführung inszenieren? Das sollten wie vielleicht genauer absprechen.“

„Also, ich hab mir gedacht, wir greifen uns den Mistkerl auf seinem Weg vom Firmenhauptsitz nach Hause. Meistens kehrt er zwischendurch noch in so eine kleine Bar ein, da bin ich ihm schon paar Mal hin gefolgt, und gönnt sich dort ein oder zwei Bierchen. Wenn er dann zurück zu seinem Auto will, setzen wir ihn mit Pfefferspray außer Gefecht und packen ihn schnell in den Kofferraum meines Golfs, den ich vorher natürlich ordentlich mit Folie auskleiden werde. Dann fahren wir hierher, ziehen meinen restlichen Plan durch und später schicke ich dann wieder eine Mail mit den Koordinaten und ein paar passenden Bildern aus dem Netz an die Polizei. Was sagst du?“

„Klingt gefährlich, vor allem die Entführungssache. Wo liegt diese Bar und können wir ihn dort auch unauffällig einpacken?“

„Das ist ein ziemlicher Schuppen am Stadtrand. Keine Ahnung, warum der gerade dort hin geht. Da ist wirklich nicht viel los.“

„Vielleicht gerade deshalb. Aber hast du keine Angst, dass jemand dein Auto sieht?“

„Klebefolie und geklaute Nummernschilder.“

„Wie jetzt?“
„Ich habe geklaute Nummernschilder besorgt und werde meine Karre sozusagen vorübergehend umlackieren. Das muss ja nicht perfekt werden und nur so lange halten, dass niemand die Originalfarbe erkennt. Dann zieh ich die Folie wieder ab, mach die richtigen Schilder dran und alles ist paletti.“

 


13 Selbstläufer

 

Florentine konnte nicht glauben, dass sie in diesen irrsinnigen Plan eingewilligt hatte. Schon jetzt waren ihre Nerven bis zum Zerreißen gespannt und da warteten sie gerade nur auf den richtigen Moment in einer Gasse neben der Bar. Der Golf hatte einen schwarzen Überzug bekommen und zumindest für heute die falschen Nummernschilder.

Angespannt beobachteten sie die Tür des Lokals und warteten darauf, dass Patrick wieder heraus kam. Sein Wagen stand ganz in der Nähe und er musste an ihnen vorbei, um dahin zu gelangen.

Und dann ging alles sehr schnell. Florentine stellte sich dem Mann in voller Montur in den Weg und lenkte ihn ab. Währenddessen pirschte sich Steve wieselflink von hinten an, umklammerte den irritierten, ahnungslosen Tropf und sprühte ihm Pfefferspray direkt ins Gesicht. Da sie selbst Helme trugen, konnte sich der Sprühnebel nicht so intensiv auf sie auswirken, wenn doch ein gewisses Kratzen im Hals und Brennen in den Augen nicht ganz vermeidbar war.

Der Überfall gelang, Patrick war vollkommen überrumpelt, kämpfte mit sofortiger Atemnot und hatte keine Chance sich aus der Situation zu befreien. Mit einem Klick war der präparierte Kofferraum offen, er hineingestoßen und an Händen und Füßen mit Klebeband verschnürt. Außerdem stopften sie ihm ein zusammengeknülltes Tuch in den Mund und klebten den anschließend ebenfalls zu. Vorübergehend blind und wehrlos stellte er keine Gefahr da. Sie schlossen den Kofferraum und fuhren los.

Anscheinend hatte keiner die Situation beobachtet. Sie waren auch wirklich schnell gewesen, gut koordiniert und wesentlich leiser als erwartet.

Bei der alten Kiesgrube angelangt nahmen sie erst ihre Helme ab, zerrten dann Patrick aus dem Wagen und fesselten ihn auf den Knien an einen Pfosten. Er konnte seine Augen nicht öffnen, zu sehr brannte das Spray, und zwischendurch hatte er ernsthaft befürchtet zu ersticken. Er war noch völlig von Sinnen als man den Knebel aus seinem Mund entfernte, schnappte nach Luft und röchelte benommen: „Bitte, was wollt ihr?“ Doch niemand antwortete ihm.

Stattdessen fixierte Steve Patricks Kopf mit weiterem Klebeband an dem Pfeiler und begann ihm ein Rohr in die Kehle zu schieben. Die Würglaute waren fast unerträglich. Zum Schluss brachte er einen Trichter am oberen Ende des schmalen Rohres an und flüsterte ihm bedrohlich zu: „Jetzt wirst du erleben, was es heißt, gestopft zu werden.“ Florentine beobachtete nebenstehend das Szenario und hatte nun einen Eindruck von Steves Plan bekommen. Die Überraschung war durchaus gelungen. Vom Rücksitz des Wagens holte der inzwischen einen verschlossenen Plastikeimer. In diesem befanden sich etwa fünf Liter recht flüssiger Maisbrei, den er Patrick jetzt nach und nach in den Hals schütten wollte. Es war die reinste Folter.

Um das Ableben des Mastbetrieb- Betreibers zu garantieren, hatte Steve auch etwas von dem Eisenhut- Extrakt in den Maisbrei gemischt. Sein Schicksal war also besiegelt. Die Tortur dagegen dauerte beinahe zwei Stunden und wurde zu Patricks persönlicher Hölle. Keiner kam um ihm zu helfen, kein Mitleid, kein Erbarmen.

Und zum Schluss gipfelte der Adrenalinrausch bei Florentine und Steve in einer neuerlichen körperlichen Ekstase, dieses Mal auf der Motorhaube ihres Fahrzeugs.

Als der extreme Endorphinschub abgeklungen war, kümmerten sie sich gemeinsam um die gründliche Reinigung und Spurenbeseitigung an sich selbst und dem Auto. Die Folie ließ sich mit einem Fön recht gut wieder ablösen und die Nummernschilder waren schnell ausgetauscht. Alle Abfälle entsorgten sie in einem öffentlichen Müllcontainer auf dem Weg zu Steves Wohnung. Später würde er seinen Wagen noch in eine Waschanlage bringen, setzte Florentine aber zunächst bei ihrem Motorrad auf dem Parkplatz ab, wo sie sich kurz verabschiedeten und danach getrennte Routen nahmen.

Sie saß lang daheim in der Garage und dachte über die Geschehnisse nach. Diese Morde hatten tatsächlich eine völlig neue Qualität erreicht. War es das wirklich wert? War es das, was sie wollte? Ein paar Schlucke Schnaps beruhigten ihre Nerven und betäubten zumindest vorübergehend die Zweifel. Sie hatte den Eindruck, dass ihr alle Kontrolle langsam entglitt.

Das zeigte sich auch beim nächsten Schuldigen, den sie abstrafen wollten.

Steve hatte wieder seine ganz eigenen Vorstellungen und wollte diese unbedingt in die Tat umsetzen. Da sich sein System beim letzten Mal bewährt hatte, nutzten sie erneut diese Vorgehensweise, überwältigten den Mann, verschleppten ihn zu einem anderen Lost Place und Florentine ließ ihrem Komplizen freie Hand. Doch dieses Mal wurde es ihr tatsächlich zu viel.

Bei Bernd Liebherr handelte es sich um den Produzenten von Masthähnchen und die Zustände in dessen Betrieben, auch beim Umgang während der Schlachtung, waren nahezu katastrophal. Dennoch übermannten sie nun die Zweifel, ob das, was sie hier taten, wirklich der Sache dienlich war oder einfach nur der Befriedigung des eigenen Sadismus genügte, von dem sie bislang bei sich nicht einmal etwas geahnt hatte.

Steve dagegen war voll in seinem Element. Er hatte Bernd mit irgendwelchen Mittelchen betäubt, ihm die Kleider vom Leib geschnitten und ihn mit Florentines Hilfe in einen kleinen Drahtkäfig gezwängt. Unter dem Käfig war eine Feuerstelle eingerichtet, die er nun entzündete. Natürlich war Bernd gefesselt und wurde durch einen effektiven Knebel, aus um den Kopf gewickelten Klebebandbahnen, am Schreien gehindert, doch alles an seinem Verhalten verriet seine Panik und seine Pein als er wieder zu sich kam. Die Hitze war sicher unerträglich, auch wenn ihn die Flammen nicht berührten. Und dann hatte Steve noch etwas Besonderes vor. Er wollte den Gefangenen wie ein Hähnchen oder auch Spanferkel von hinten her aufspießen und langsam über dem Feuer rösten lassen. Im Moment als Steve die Eisenstange vom Boden hob und sie gerade an passender Stelle seines Opfers ansetzen wollte, konnte Florentine nicht mehr zusehen, geschweige denn mitmachen. Sie hatte stattdessen mit einem Würgereiz zu kämpfen, der sie von dem Geschehen davon trieb.

Erst eine halbe Stunde später wagte sie sich zurück und fand ihren Komplizen voller Genugtuung vor. Er hatte es wahrhaftig durchgezogen und stand nun nur wenige Schritte von dem Gepfählten und in der Hitze des Feuers Schmorenden entfernt und masturbierte.

Noch einmal überkam sie ein unglaublicher Würgreiz und sie konnte nur knapp ein Erbrechen unterdrücken. Am liebsten wäre sie weggelaufen, doch das war keine Option. Was hatte sie nur getan? In Steve wohnte ein wahres Monster und sie hatte es entfesselt.

Als er seinen Sieg und die Befriedigung seines Handelns zur Genüge ausgekostet hatte, schlenderte er zum Auto, wo Florentine bereits auf ihn wartete. Irgendwie bekam sie allmählich Schiss vor diesem Typen, ließ sich aber nichts anmerken. Er stellte sich neben sie und den Wagen, der Feuerschein spiegelte sich in den Scheiben, und begutachtete noch ein wenig die Folterstelle aus dieser Distanz.

Dann sprach er leise und ohne den Blick abzuwenden: „Was war denn los?“

„Ich weiß nicht. Das war mir heute ein bisschen zu viel. Das geb ich gerne zu.“

„Ja, vielleicht habe ich es etwas übertrieben. Aber dieser Scheißkerl hatte es verdient.“

„Wohl wahr.“

Ohne weitere Worte reinigten sie ihre Kleidung, fuhren los, entfernten auf einem Waldparkplatz die Folien vom Auto und aus dem Kofferraum, brachten die richtigen Nummernschilder wieder an und setzen anschließend ihren Weg fort. Die Abfälle wurden entsprechend entsorgt und ihre Heimwege trennten sich auf.

Als sie daheim ankam, war es Florentine immer noch schlecht. Eine ganze Weile verbrachte sie noch in der Garage und die Tränen brachen nur so aus ihr hervor. Was hatte sie getan? Heute half auch kein Alkohol mehr über die Zweifel hinweg. Sie musste das irgendwie beenden. Doch wie sollte sie aus der Nummer raus kommen, die mittlerweile zum regelrechten Selbstläufer geworden war? Steve wurde zunehmend die treibende Kraft hinter dem Geschehen und ein regelrechter Aufschrei tobte durch die Medien als die Umstände der letzten zwei Morde publik wurden. An Grausamkeit schien das kaum noch zu übertreffen. Selbst die beteiligten Polizisten hatten bislang noch nie so etwas Schreckliches gesehen und brauchten Hilfe bei der Verarbeitung der Bilder.

Eine Lawine aus Meldungen, Vorwürfen, Diskussionsrunden und Meinungen wurde losgetreten. Man verurteilte die Taten der Opfer und die Rache der Täter gleichermaßen. Der Druck auf die Polizei wuchs und doch fanden sie kaum Spuren und Hinweise auf die Identität dieses Serienkillers. Aber es wurden auch erste Stimmen laut, die das nicht mehr für die Arbeit eines Einzelnen hielten. Der Aufwand und die Durchführung selbst waren für eine Person kaum zu bewältigen.

 

 


14 Geständnis

 

Florentine verfolgte mit zunehmender Beunruhigung die Nachrichten, während sich Steve schon auf das nächste Ziel vorbereitete. Dieses Mal erläuterte er seinen Plan aber im Vorfeld, um ihre Reaktionen abzuwarten. Er wollte den Schweinebauern, der ein glühender Befürworter der betäubungslosen Ferkelkastration war, da schnell und billig, in der Gülle seiner eigenen Tiere ersäufen. Bei dem Gedanken liefen ihr kalte Schauer über den Rücken. Wie sollte sie das nur verhindern? Sie musste Steve irgendwie stoppen, auch wenn sie sich dabei selbst in Gefahr brachte und verriet.

Noch immer ahnte keiner in ihrem Umfeld, dass sie so tief in der Sache mit drin steckte, auch wenn es sie zunehmend fertig machte und es ihr zunehmend schwerer fiel den Schein aufrecht zu erhalten. Die Eindrücke und Bilder verfolgten sie in ihren Träumen, Gewissensbisse und Zweifel nahmen stetig und unaufhaltsam zu, machten ihren Geist rastlos.

Auch die Geborgenheit ihrer Familie konnte sie nicht mehr beruhigen, das Ende war bereits spürbar und rückte immer näher.

Natürlich war auch die Unruhe unter den Betreibern solcher Betriebe größer geworden und jeder musste befürchten der Nächste zu sein. Manche wappneten sich mit privaten Sicherheitsfirmen und Überwachungstechnik, was selbst das Ausspionieren schwieriger machen sollte. Aber eine generelle Änderung der Einstellung oder Situation führte es nicht herbei.

Noch einmal traf sich Florentine mit Steve zur Beratung und versuchte ihm dabei ins Gewissen zu reden.

„Ich bin ehrlich. Steve, ich will das nicht mehr tun. Wir sind zu weit gegangen. Die werden uns schnappen, wenn wir jetzt nicht sofort aufhören.“

„Was hat sich denn geändert? Machen dich die paar mehr Kameras etwa nervös?“

„Nicht nur das. Ich zweifle langsam daran, dass wir auf diese Weise wirklich eine Veränderung erreichen.“

„Die haben Schiss gekriegt und gerade deswegen sollten wir jetzt nicht aufhören. Wir haben sie fast geknackt. Nur noch ein paar mehr und wir sind am Ziel.“

„Und dann? Was denkst du wird passieren? Dass die sofort alle anfangen ihre Produktionen auf sauber und transparent umzustellen? Dass es dann plötzlich keine Tierquälerei mehr geben wird? Das glaube ich nicht, ich kann es einfach nicht. Diese ganze Sache ist aus einer Affekt- Reaktion raus entstanden und hat Ausmaße angenommen, die ich einfach nicht mehr vor mir und meinem Gewissen rechtfertigen kann.“

„Wir bekämpfen Feuer mit Feuer.“

„Aber wird dadurch der Brand nicht noch größer?“

„Du willst also wirklich aussteigen?“

„Willst du etwa weiter machen?“

„Der nächste Coup ist fertig geplant und ich werde ihn durchziehen, ob mit oder ohne dich.“

„Bitte lass das sein.“

„Ich kann nicht glauben, dass du jetzt einfach aufhören willst. Einfach so. Wenn du willst, ändere ich den Plan auch noch mal ab, mache ihn meinetwegen weniger grausam. Wir töten den Mann und stecken ihn hinterher in das Güllefass. Wäre das eine Option?“

„Nein, Steve. Ich bin raus. Und bitte lass auch du es sein. Noch haben wir die Chance einfach auszusteigen und unsere normalen Leben weiterzuführen, keiner verdächtigt uns, wir wären frei. Versprich mir diesen Irrsinn zu beenden.“

Er schwieg, minutenlang. Florentine musterte ihn mit einem beinahe schon flehenden Blick und kleinlaut willigte er schließlich ein: „Okay, ich lass es. Deinetwegen.“ Erleichtert schlang sie ihre Arme um ihn, küsste ihn auf die Stirn und flüsterte: „Vielen Dank, vielen lieben Dank. Keiner wird uns kriegen und keiner wird mehr durch unsere Hände sterben. Wir finden einen anderen Weg, um auf die Missstände in diesen Betrieben aufmerksam zu machen.“

Ein paar Tränen rollten über ihre Wangen als sie sich von Steve verabschiedete. Sie hatte keine Ahnung, wann und ob sie ihn wiedersehen würde. Doch im Chat wollten sie auf jeden Fall in Kontakt bleiben.

Es vergingen ein paar Tage bis die Nachricht durch die Fernseh- und Radiokanäle rauschte. Oliver Kurz, der Betreiber einer Schweinemastanlage wurde tot in einem Güllefass aufgefunden. Er war in diesem Fass ertrunken. Florentine blieb fast das Herz stehen, als sie es hörte. Er hatte es doch versprochen? Wieso machte Steve nur alleine weiter? Fassungslos und am Boden zerstört verfolgte sie den restlichen Beitrag. Nun saß auch sie auf der anderen Seite, war nur noch eine Zuschauerin und vollkommen ohnmächtig.

Vielleicht musste sie sich stellen, ihren Verbrechen ins Auge blicken und die Konsequenzen ertragen. Doch wenn sie ihre Kinder beim Spielen beobachtete und Nicole in ihren Armen schlummerte, brachte sie das einfach nicht übers Herz. Wochenlang rang sie mit sich selbst und der alles zerreißenden Entscheidung. Ließ sie Steve weitermachen und diese furchtbaren Menschen auf grausame Weise töten, oder lieferte sie sich selbst an die Polizei aus und verlor dadurch einfach alles? Unmöglich konnte sie diese Wahl treffen und letztlich musste sie das auch nicht tun.

Die gesteigerten Sicherheitsvorkehrungen zeigten ihre Wirkung. Man hatte Steve beim Ausspionieren seines nächsten Opfers gefilmt und ab sofort wurde er beschattet. Die Polizei folgte ihm zu seinem neu auserkorenen Gelände und stellte fest, dass er gut ins Profil des gesuchten Serienmörders passte. Der Zugriff erfolgte spät in der Nacht. Vollkommen überraschend stürmten gleich mehrere Beamte seine Wohnung und nahmen ihn vorsorglich fest. Im Schränkchen neben der Couch fanden sie noch mehrere Giftfläschchen und stellten daraufhin alles auf den Kopf. Neben reichlich Klebeband, straffen Folien, getrockneten Eisenhut- Pflanzenteilen und einer Apparatur zur Herstellung von Extrakten, fanden sie auch eine Liste mit Namen und eine ausführliche Recherche über sein neuestes Ziel. In einem Tischkalender war ein exakter Zeitplan eingetragen, der mit den Tagen übereinstimmte, an welchen die letzten drei Opfer ihren Tod gefunden hatten und auch weitere, zukünftige Zielbetriebe waren vermerkt.

Florentine bekam einen Schock als in den Nachrichten über die Ergreifung des vermeintlichen Serienkillers berichtet wurde. Nun stand auch ihr Leben wieder auf dem Spiel. Was hatte er bislang verraten, was würde er der Polizei noch erzählen? War sie bald eine Gefangene und wurde für immer von ihrer Familie getrennt? Ihr fiel es schwer die Panik zu verbergen, die sich in ihr breit machte. Sollte sie Nicole vielleicht vorwarnen, oder war es besser, wenn die weiterhin von rein gar nichts wusste?

 

Aber alles blieb ruhig, keine Polizei rückte ein um sie festzunehmen oder auch irgendetwas anderes geschah. Hatte Steve etwa alle Schuld auf sich genommen? Laut den Angaben im Fernsehen hatte er zumindest ein umfassendes Geständnis abgelegt und als Motiv seinen unsagbaren Hass auf die Verantwortlichen dieser tierquälerischen Anlagen angegeben und dass er ihnen so das Handwerk legen wollte. Zu keiner Zeit fiel Florentines Name.

Ende ?