Razvan- gescheitert

1

Sie sah mich nicht an als sie stumm aus dem Bett stieg, ihre Kleidung vom Boden aufsammelte, sich eilig T-Shirt und Hose anzog und in den Flur lief. Auf der Bettkante sitzend hatte ich sie beobachtet, wollte aber jetzt nicht tatenlos dabei zusehen wie sie vor mir davon rannte. Schnell eilte ich ihr nach. Sie war bereits in ihre Schuhe geschlüpft und griff nach der Türklinke als ich rief: „Bitte geh nicht!“ Daraufhin warf mir Silviana einen giftigen Blick zu, der mich auf der Stelle erstarren ließ. In dem Moment wusste ich, dass ich soeben unsere Beziehung irreparabel zerstört hatte. Ich hatte ihr etwas Furchtbares angetan und konnte ihr diese Reaktion nicht verübeln. Schwungvoll krachte sie die Tür hinter sich zu und ich blieb allein und nackt im Flur stehend zurück.

Ich fühlte mich furchtbar. Warum hatte ich mich nicht zurückgehalten? Warum hatte ich sie so verletzt? Es war nicht die körperliche Gewalt, die sie von mir weg trieb, eher die Demütigung. Ich hätte mich Ohrfeigen können und meine Knie wurden plötzlich weich.

Am ganzen Körper zitternd stürmte ich in die Küche und riss eine Wodkaflasche aus dem Eisfach. In einem Zug leerte ich sie aus und musste feststellen, dass es keine Linderung meines Schmerzes am Boden dieser Flasche gab. Wütend warf ich sie voller Wucht gegen die Wand, woraufhin sie in tausend Stücke zersprang und sich die Splitter in der gesamten Küche verteilten. In einem regelrecht wahnhaften Ausbruch krachte ich anschließend noch mehrere Geschirrteile kraftvoll gegen die Wand und zu Boden. Achtlos lief ich dann barfuß durch die Scherben, spürte nicht wie sie mir die Haut zerschnitten und ich blutige Spuren bis ins Bad verteilte.

Ich öffnete den Medizinschrank und wühlte darin. Erst fiel eine Flasche Hustensaft heraus und zerklirrte auf dem Boden, dann stürzten mir noch ein Röhrchen Tranquilizer und eine Packung Schmerzpillen entgegen und landeten im Waschbecken. Ich betrachtete die Medikamente eindringlich und fragte mich schließlich: „Warum nicht?“

Ungezählt warf ich mir ein paar Tabletten beider Art ein, spülte sie mit einem großen Schluck Wasser direkt aus dem Wasserhahn hinunter und sank anschließend an den Rand der Badewanne gelehnt zu Boden. Abwesend griff ich jetzt nach einer Scherbe der zerbrochenen Hustenmittelflasche und drückte sie mir in den Arm. Manchmal half mir der Schmerz Schocksituationen zu überwinden, doch heute nicht.

Immer wieder ließ ich die scharfe Kante durch meine Haut gleiten und fühlte nichts dabei. In zahlreichen dünnen Bahnen lief mein Blut bereits aus den Wunden und verteilte sich tiefrot auf den Fliesen unter mir. In diesem Moment war es mir völlig egal ob ich die Nacht überlebte. Und als es mir allmählich schwarz vor Augen wurde und ich regelrecht spüren konnte wie sich mein Herzschlag verlangsamte, kam es mir fast schon wie eine Erlösung vor.

2

Doch irgendwann wachte ich wieder auf. Ich war seitlich umgekippt und lag mit dem halben Gesicht in einer Pfütze aus Blut und Erbrochenem, deren Geruch mich würgen ließ. Mir war unglaublich kalt und mein Schädel drohte zu platzen. Mühsam öffnete ich einen Spalt weit mein rechtes Auge, schloss es aber gleich wieder als sich das Licht wie glühende Späne in meine Nerven bohrte. Ich konnte mich nicht bewegen und blieb eine gefühlte Ewigkeit regungslos liegen. Der ekelhafte Geruch der Pfütze hielt mich wach und auch die Tatsache, dass sich unter meiner Hüfte eine weitere ausbreitete. Ich hatte völlig die Kontrolle über meinen Körper verloren.

Wollte ich wirklich so zugrunde gehen? Jämmerlich verendet in einer Lache aus Blut, Kotze und Urin? Von dem Gedanken aufgeschreckt, bewegte ich einen Finger. Wie tausende Nadelstiche fuhr es plötzlich durch mich hindurch. Auf einmal war auch das Zittern wieder da, die Lebensgeister kehrten langsam aber sich zurück. Es war also doch noch nicht ganz vorbei mit mir.

Keine Ahnung wie lange mein Kampf auf dem Badezimmerfußboden dauerte, es schien sich um Stunden zu handeln bis ich endlich in der Lage war wenigstens mein Gesicht aus der Ekelpfütze zu ziehen. Bald hatte ich es geschafft mich so weit auf die Seite zu rollen, dass ich nach dem Wannenrand greifen konnte. Einen weiteren Moment lang verweilte ich in dieser Lage. Ich musste Kräfte sammeln um mich in eine aufrechte Position zu bringen.

Unter großen Anstrengungen konnte ich mich schließlich nach oben zerren und hing nun schlaff am Wannenrand festgekrallt da. Ich musste mich ausruhen. Der Raum drehte sich wie wild um mich, mir war übel, die Tränen schossen in meine Augen als ich pure Galle hoch würgte. Der kalte Rand der Wanne war gerade mein einziger Anker in der Realität, mein Fels. Ich klammerte mich daran als würde mein Leben davon abhängen. Ich kämpfte.

Erst nach ein paar weiteren kräfteraubenden Aktionen hatte ich es endlich geschafft in die Badewanne hineinzukriechen und stellte das warme Wasser an. Es plätscherte belebend über mich, durchflutete wärmend meinen vor Kälte zitternden und zusammengekrümmten Körper. Ich spürte wie sich die Anspannung allmählich löste. Eine Wohltat! Langsam wurde ich wieder beweglicher und die verloren geglaubten Kräfte kehrten in meine Glieder zurück. Ich konnte meine Zehen wieder spüren, wie sie auftauten, wie mein kompletter Körper aufzutauen schien und meine gesamte Hautoberfläche nadelnde Schmerzen ausstrahlte. Ich lebte.

3

Noch eine ganze Zeit lang lag ich in dem warmen Wasser, bis sich die blutigen Krusten von meinen Armen gelöst hatten und ich mich stark genug fühlte aufzustehen. Meine Gedanken kreisten dabei ununterbrochen um Silviana und wie ich es so richtig verbockt hatte. Dr. Pocovnic würde das gar nicht gefallen.

Benommen schleppte ich mich dann später in die Küche. Ich folgte einfach der Blutspur auf dem Boden. Überall lagen Splitter. Ich traute mich nicht hineinzugehen, blieb im Türrahmen stehen und betrachtete mir das Bild der Verwüstung. Es war so unreal, als hätte eine völlig andere Person dieses Chaos angerichtet.

Taub und innerlich ausgelaugt schlurfte ich nach ein paar Minuten ins Wohnzimmer und ließ mich aufs Sofa fallen. Mein Leben war schon beschissen genug und dann musste ich auch noch meine Freundin so widerlich behandeln. Ich hasste mich dafür und hatte es wirklich verdient alleine zu sein. Niemand sollte sich mit mir abgeben müssen. Ich war das Letzte, Dreck, Abschaum.

In mich zusammengesunken kauerte ich lange auf der Couch und hing diesen zerstörerischen Gedanken nach. Die Strapazen der letzten Stunden hatten mich mürbe gemacht.

Plötzlich riss mich ein leises Klingeln aus meinen wirren Träumen. Irritiert sah ich mich um, fand mich zusammengerollt auf dem Sofa liegend wieder und brauchte einen Moment um das Geräusch einzuordnen. Es war mein Telefon.

Nachdem ich mich mühsam von der Couch gerollte hatte, wickelte ich eine Decke um mich und stolperte zur Kommode in der anderen Zimmerecke. Etwas war letzte Nacht in mir gestorben. Noch immer völlig benommen beendete ich das nervtötende Klingeln, indem ich mürrisch das Telefonat entgegen nahm. „Was ist?“ Eine mir vertraute Stimme am anderen Ende sprach: „Hier ist Emanuil. Ich hatte gerade ein sehr beunruhigendes Gespräch mit Silviana. Möchtest du dich dazu äußern?“. „Nein.“, antwortete ich patzig und legte wieder auf.

Das Handy klingelte erneut. Jetzt schaute ich aber aufs Display und natürlich war es noch einmal Dr. Pocovnic. Allerdings hatte ich gerade überhaupt keine Lust mit irgendjemanden zu sprechen. Ich wollte viel lieber einfach auf dem Sofa liegen bleiben und mich dem schrecklichen Gefühl des Selbsthasses ergeben. Auf die Anzeige starrend wankte ich zurück zur Couch und ließ mich wieder darauf fallen. Dann warf ich das Handy auf den Tisch und rollte mich erneut in mich zusammen.

Doch Emanuil ließ nicht locker und als er das siebte Mal anrief, rang ich mich schließlich noch einmal dazu durch ran zugehen: „Was denn?“ „Also Razvan, so geht das nicht.“, tadelte mich Dr. Pocovnic und fuhr gleich fort: „Auch wenn dir die Sache missfällt, müssen wir darüber sprechen.“ Missmutig murmelte ich: „Ich weiß.“ Wahrscheinlich hatte ich deshalb das Telefon nicht ausgeschalten. Diese Situation würde ich nicht alleine bewältigen können, nicht nachdem wie ich bereits darauf reagiert hatte. „Wir können natürlich auch bis Mittwoch warten, wenn du deine reguläre Sprechstunde hast. Viel lieber wäre es mir aber wenn du gleich heute noch vorbei kommst. In Ordnung?“, redete er einfach weiter.

Ich hatte keine Ahnung was ich tun sollte und wusste auch nicht Recht was ein gesondertes Gespräch an dieser verfahrenen Lage ändern sollte. Aber vielleicht konnte er mir wenigstens helfen besser damit umzugehen. Silviana war weg und ich würde sie sicherlich auch nicht wiedersehen. Wir waren zwar in der gleichen Gruppentherapie, aber da würde ich mich jetzt keinesfalls mehr blicken lassen. „Wenn es sein muss.“, brachte ich nur hervor. „Dann bist du gegen 17 Uhr in der Praxis und wir führen ein klärendes Gespräch. Ok?“, legte Emanuil fest und ich stimmte kleinlaut zu.

4

Da ich jetzt einmal wach war, zwang ich mich dazu aufzustehen. Als erstes musste ich mich dringend verarzten, schlurfte ins Bad, spülte meine Unterarme mit klaren, kaltem Wasser ab, trocknete sie mit Klopapier und wickelte dann Mullbinden darum. Bei jeder größeren Bewegung brachen die Schnitte wieder auf und frisches Blut quoll aus ihnen hervor. Es war erstaunlich, dass ich überhaupt noch welches in mir hatte und ich wollte vermeiden, dass ich noch mehr davon in der Wohnung verteilte.

Dann zog ich etwas an und begann mich den Scherben überall und der Sauerei im Bad zu widmen. Meine Wohnung war zwar generell nicht sauber, ordentlich oder ein Platz zum Wohlfühlen und das Chaos schien mich regelrecht zu verfolgen, aber das musste dann doch nicht sein.

Mit einem innerlich tauben Gefühl ging ich ans Werk. Es kam mir vor als würde ich schon wieder die Bruchstücke und den Auswurf meines Lebens zusammenfegen. Nichts hatte sich geändert und wahrscheinlich würde es das auch nie. Meine Arme schmerzten, mein Magen schmerzte, mein ganzer Körper schien sich gegen mich verschworen zu haben. Hustend und würgend stolperte ich letztlich ins Bad zurück und erbrach mich, dieses Mal wenigstens in die Kloschüssel. Ich hatte seit fast zwei Tagen nichts mehr gegessen und letzte Nacht schon Blut gekotzt, also wunderte es mich nicht, dass ich jetzt wieder einen Schwall blutroten Schleims hervorbrachte. Vielleicht bekam ich ja ein Magengeschwür? Der jahrelange Missbrauch von Drogen, Medikamenten und Alkohol hatten mich schon stark gezeichnet, da war das nicht einmal abwegig.

Geschwächt begab ich mich anschließend aufs Sofa zurück und drehte mir eine Zigarette. Sicherlich war es das Letzte was ich jetzt tun sollte aber ich brauchte dringend eine Pause und wenigstens einen kleinen Endorphinschub um mich wieder etwas besser zu fühlen. Während ich mich zurücklehnte und mit geschlossenen Augen die Kippe rauchte, überkam mich tatsächlich ein gewisses Hungergefühl, trotz der ganzen Kotzerei der letzten Stunden.

Bestimmt war es genau so keine gute Idee meinen kaputten Innereien auch noch feste Nahrung zuzuführen, aber ich musste etwas gegen dieses furchtbar leere Gefühl unternehmen.

Also stand ich schließlich in der Küche und schaute in den trostlosen Kühlschrank. Ich hatte die Wahl zwischen einer abgelaufenen Packung Milch und einer pelzigen Tomate. Wie lang die wohl schon da drin lag? Ich konnte mich nicht entsinnen jemals Tomaten gekauft zu haben. Vielleicht war es ja auch gar keine. Frustriert schloss ich die Tür und fand beim Durchstöbern der Schränke eine alte Tüte Chips. Das musste für den Anfang reichen. Vorsichtig probierte ich einen Krümel, befand ihn für genießbar und zog mich mit der Packung ins Wohnzimmer zurück.

Dass ich keine geregelten Mahlzeiten, Vitamine oder Sonnenlicht bekam, sah man mir wohl an, doch es war mir egal. Mein Körper hatte schon Schlimmeres überstanden und würde auch noch länger mit einer Mangelernährung klar kommen müssen. Ich hatte keine Lust auf Essen und trotz meiner mehrmonatigen Beziehung mit Silviana hatte sich nichts daran geändert. Vielleicht war sie mir doch nicht so gut bekommen wie ich mir das anfangs eingebildet hatte. Im Grunde hatte sie beinahe die gleichen Probleme und statt sich alleine einsam zu fühlen, hatten wir uns gemeinsam einsam gefühlt. Wir konnten uns gegenseitig weder helfen noch aufbauen. Das Einzige was uns zusammen gehalten hatte, war die körperliche Nähe, die wir sonst kaum jemandem gewährten. Mit diesen Gedanken quälte ich mich durch den Nachmittag. 

5

Es wurde Zeit mit dem Bus zu Emanuil zu fahren. Jedes Mal kostete das mich eine gewaltige Überwindung und zwei bis drei Schlucke Hochprozentiges um überhaupt in die Nähe der Haltestelle zu gehen und dann noch ein paar Schlucke mehr um in den Bus einzusteigen. Mit der Schnapsflasche in der Hand näherte ich mich vorsichtig an. Ich spürte wie mein Griff fester und verkrampfter wurde, mein Herz merklich schneller schlug, nahm einen Hieb, atmete tief durch und zwang mich weiterzugehen.

Es standen mehrere Leute da und warteten. Andere Menschen waren mir einfach zuwider. Allein deshalb ging ich seit Jahren zur Therapie und es gab nur wenige Erfolge, die mich daran glauben ließen, dass es irgendwann einfacher für mich werden würde. Aber immerhin verließ ich jetzt seit zwei Jahren eigenständig die Wohnung und hatte seit einem Jahr sogar einen Job, ein riesiger Fortschritt gegenüber der Zeit davor. Wirklich wohl fühlte ich mich dabei jedoch nicht, dafür war mein Leben viel zu verkorkst.

Etwas Abseits blieb ich dann stehen und wartete ebenfalls, beinahe wie ein normaler Mensch. Der Bus fuhr vor, hielt an. Den Panikschub in einem Schluck Schnaps ertränkend bewegte ich mich auf die Tür zu, warf passendes Kleingeld in den Trichter, nahm den Fahrschein, ging alles um mich herum ausblenden durch den Gang und setzte mich auf einen Platz weiter hinten. Den Blick stur auf meine Hände gerichtet hoffte ich jedes Mal wieder, dass mich niemand ansprach.

Zwanzig Minuten später hatte ich die Horrorfahrt überstanden und durfte endlich wieder raus aus dem Bus. Glücklicherweise war die Haltestelle nicht weit von der Praxis entfernt. Schnell eilte ich dahin, jeden Blickkontakt mit anderen Menschen vermeidend. Und pünktlich um fünf saß ich mit einem mulmigen Gefühl im Bauch in Dr. Pocovnics Sprechzimmer. Ich war mir nicht sicher ob das von der Kotzerei, den alten Chips, dem Schnaps oder den Schuldgefühlen kam. Das spielte wohl auch keine Rolle.

Dann nahm Emanuil mir gegenüber Platz, sah mich durchdringend an und stellte fest: „Ich will dir ja nicht zu nahe treten, aber du siehst heute besonders furchtbar aus.“ „Danke.“, murmelte ich resigniert. „Was genau ist gestern passiert?“, wollte er nun wissen. Ich versuchte meine Gedanken zu ordnen und da ich nicht wusste, was er bereits erfahren hatte, blieb ich mit meinen Aussagen lieber zurückhaltend: „Mit Silviana und mir ist es vorbei.“ „Habt ihr euch gestritten?“, hakte er nach und ich antwortete: „Du hast doch schon mit ihr gesprochen, oder?“ Emanuil lehnte sich zurück, sah mich mit schräg gelegtem Kopf an und sagte dann: „Ja. Sie hat mir erzählt, dass ihr eine Auseinandersetzung hattet und sie nicht mehr in die Gruppentherapie kommen möchte. Details wollte sie mir allerdings nicht verraten. Deshalb bist du jetzt hier.“ Ich raufte mir durch die Haare, sah ihn dann verlegen an, schüttelte leicht den Kopf und sprach: „Es ist wohl auch besser so.“ „Was meinst du damit?“, kam es von ihm zurück und ich erklärte: „Es ist wohl besser wenn kein Dritter die Details erfährt und wir uns zukünftig aus dem Weg gehen.“ „Aha.“, erwiderte Emanuil neutral und fragte dann weiter: „Was hast du getan nachdem sie gegangen war?“ Ich schaute auf den Boden und erzählte: „Ich bin ausgerastet, habe mir eine fast volle Flasche Wodka reingeschüttet und als das nichts half eine Hand voll Tabletten eingeworfen.“ „Wie bitte? Welche Tabletten?“, merkte Emanuil erschrocken auf. „Tranquilizer und Schmerzpillen.“, murmelte ich. Dr. Pocovnic rieb sich fassungslos die Stirn, atmete hörbar durch und sagte dann ruhig: „Das hätte dein Ende sein können. Das weißt du, oder? Ich bin erstaunt, dass du überhaupt ansprechbar bist.“ „Ich bin vor ein paar Stunden in meinem Erbrochenen liegend aufgewacht. Unkraut vergeht nicht.“, erwiderte ich gefasst.

Er schüttelte den Kopf und forderte dann: „Zeig mir mal deine Arme.“ Widerwillig krempelte ich die Ärmel meines Sweatshirts hoch. Was hatte ich auch zu verlieren? Betrübt blickte er auf die Verbände und wickelte sie für mich ab.

Dann starrten wir beide auf die unsauberen und teilweise ziemlich tiefen Schnitte. Es sah nicht gut aus und ich war erstaunt darüber, dass ich doch noch genug Selbstheilungskräfte besaß, die daran arbeiteten die Wunden zu schließen. „Ich weiß nicht, was ich noch mit dir machen soll. Du bringst dich selbst ins Grab.“, sagte Emanuil ehrlich besorgt und redete nach einer kurzen Pause weiter: „Hast du heute schon was gegessen?“ Ich nickte und murmelte: „Ja, ein paar Chips.“ Er nahm die Brille ab, legte sie auf den Tisch und massierte sich mit zwei Fingern die Stelle zwischen den Augen. Scheinbar bereitete ich ihm echte Kopfschmerzen. „Und getrunken?“, fragte er weiter. „Einen Schluck Wasser und etwas Fusel.“, antwortete ich leise.

Dr. Pocovnic setzte daraufhin seine Brille wieder auf und sah mich enttäuscht an. „Ich frage mich manchmal, warum ich mir die Mühe mit dir mache. Wir haben hier schon so gute Ansätze erarbeitet, aber wenn du dich nicht darauf einlässt, ist das alles umsonst. Ich will dir nicht einfach nur Glücklichmacher verschreiben, ich will, dass du dir eine nachhaltige, positivere Lebenseinstellung aneignest. Das geht aber nur wenn du mitmachst.“ Wir schwiegen kurz. Im Grunde hatte er ja auch recht. Es gab einen Ernährungsplan, ich wusste, dass mich Alkohol und Drogen allmählich umbrachten und ich lieber die Finger davon lassen sollte, aber ich war so in mir selbst gefangen, dass ich einfach nicht ausbrechen konnte. Der Schatten schien übermächtig zu sein.

„ Weißt du…“, brach Emanuil dann das Schweigen: „Ich bin eigentlich ganz froh, dass das zwischen Silviana und dir vorbei ist. Ich war von der Sache von Anfang an nicht begeistert. Dachte mir aber dann, dass ihr euch vielleicht gegenseitig animieren würdet mehr zu tun. Aber da hatte ich mich wohl geirrt. Ich konnte keine Fortschritte feststellen, eher im Gegenteil.“ „Soll mich das jetzt schockieren?“, konterte ich säuerlich und sah Emanuil scharf an. „Ach nein!“, rief er aus und erklärte sich: „Ich will damit sagen, bevor du dich auf jemand anderen einlässt, musst du erst einmal dich selbst in den Griff kriegen. Ein paar Sachen haben wir doch schon erreicht. Deine Wohnsituation ist wesentlich besser als vor drei Jahren, du hast eine feste Arbeit, du gehst alleine vor die Tür und interagierst mit anderen Menschen auch wenn es dir noch schwer fällt. Wenn du jetzt anfängst richtig mitzuarbeiten, können wir deine gesamte Lebenssituation auf ein viel höheres Niveau heben. Du musst es nur wollen.“ „Wozu?“, warf ich ihm an den Kopf und kurzzeitig machte ich Emanuil damit sprachlos. Er starrte mich an und antwortete dann drängend: „Na für dich selbst! Du hast schon so viel durchgemacht. Willst du denn nicht endlich mal ein gutes Leben führen? Auch einmal glücklich sein?“ Mein Blick senkte sich zu Boden. Ich musste es einsehen. Ich hatte schon so viel Scheiße mitgemacht, dass ich gar nicht mehr daran denken mochte wie es wohl wäre einmal Glück zu haben.

Wortlos stand ich dann auf und ging aus dem Raum. Ich konnte spüren, wie er mir nachschaute, hielt mich aber nicht auf.

6

Zum ersten Mal in meinem Leben saß ich an einer Haltestelle und achtete nicht auf die Leute um mich herum. Ich saß einfach nur da, den Kopf in meine Hände gelegt und meinen Geist vollkommen ausgeschaltet. Ich war fertig, am Ende. So durfte es nicht weitergehen.

Später auf Arbeit schien auch mein Kollege Andrei zu merken, dass mit mir etwas nicht stimmte. Ich war nie der gesprächige Typ, aber heute wirkte ich wohl besonders in mich gekehrt. Er war nur ein Jahr jünger und wir verstanden uns recht gut, wenn ich ihn auch nicht gleich als Freund bezeichnen würde. Er kam dieser Rolle jedoch näher als alle anderen in meiner Umgebung.

In der Kaffeepause, die ich nie mit den restlichen Leuten verbrachte, weil ich lieber meine Ruhe haben wollte, setzte er sich zu mir auf die Stufe des Hinterausgangs. Ich bot ihm eine Zigarette an und nachdem wir ein paar Züge genommen hatten, fragte er schließlich: „Sag mal, ist was passiert?“ „Silviana ist weg.“, antwortete ich leise. „Scheiße, wirklich?“, erwiderte er ausdrucksstark und nach kurzem Schweigen: „Wie geht’s dir damit?“ Ich zeigte ihm meinen linken Unterarm und Andrei rutschte raus: „Was zum Henker!?“

Wir schwiegen einen Moment lang, dann fragte er: „Was sagt Pocovnic dazu?“ „Er findet es besser so.“, antwortete ich knapp und stand auf. Die Pause war fast vorbei und anstelle weiter darüber nachzudenken wie wieder ein Stück meines Lebens zerbrochen war, wollte ich lieber ein paar Bretter zurechtsägen. Andrei klopfte mir auf die Schulter und murmelte: „Lass dich nicht unterkriegen.“ Wenn es nur so einfach wäre.

Die kreischende Bandsäge übertönte meine Gedanken nur notdürftig. Was sollte ich jetzt tun? Wie sollte ich weitermachen? Die Fragen kreisten in meinem Kopf. Wie sollte ich mich dazu überwinden unter Leute zu gehen, wenn ich schon Monate gebraucht hatte um mich halbwegs an Kollegen zu gewöhnen? Dr. Pocovnic hatte wirklich schon viel bewegt aber ich steckte in einer Sackgasse. Ich brauchte jemanden, der mich in alltäglichen Situationen unterstützte. Einmal die Woche mit einem Seelenklempner zu reden und in eine Gruppentherapie zu gehen, in der nur alle immer rumjammerten, half mir einfach nicht weiter. Ich musste wirklich anfangen mehr zu tun, nur wie? Wie fand ich den Mut dazu?

Zum Feierabend rauchten Andrei und ich noch eine Zigarette und unterhielten uns ein wenig. „Was willst du jetzt machen?“, fragte er in die Morgendämmerung. Ich zuckte mit den Schultern. „Willst du versuchen Silviana zurückzugewinnen?“, bohrte er weiter. Den Blick auf den grauen Parkplatz gerichtet antwortete ich: „Nein. Ich glaube das hat keinen Sinn. Ich muss voran gehen. Emanuil hat recht, sie hat mir nie geholfen, im Gegenteil. Sie hat mich daran gehindert Fortschritte zu machen.“ „Das klingt ganz schön hart.“, sagte Andrei so vor sich hin, drückte seine Kippe aus, klopfte mir noch einmal auf die Schulter und meinte: „Schlaf dich aus, heute Abend sieht die Welt schon wieder anders aus. Du brauchst Silviana nicht.“ Ich rang mir ein Lächeln ab. Auf dem Weg zu seinem Auto rief er mir dann noch zu: „Und mach ja keinen Mist! Hörst du? Ich will nicht deine Schicht übernehmen müssen!“ Daraufhin verschwand er in seinem Wagen und brauste davon.

Zu gern wäre ich jetzt auch einfach weggefahren aber das konnte ich nicht. Weder hatte ich ein Auto, noch würde ich in absehbarer Zeit meinen Führerschein zurück bekommen. Dafür durfte ich mich jetzt wieder überwinden in den Bus zu steigen.

Auf dem Weg zur Haltestelle stoppte ich vor dem kleinen Kiosk, der jetzt schon geöffnet hatte und kaufte mir, wie nach jeder Nachtschicht, ein Bier und eine kleine Flasche Hochprozentigen. Das sollte mir helfen die Fahrt zu überstehen. Anschließend würde ich nur noch heiß duschen und mich in einer Ecke meiner Wohnung zusammenrollen. Mir war einfach nur Elend zumute.

7

Die ganze Woche lang beschäftigten mich all diese Gedanken, vor allem Emanuils Worte. Wie ferngesteuert ging ich auf Arbeit, absolvierte meine Schichten, soff und kiffte mich in den Schlaf. Sollte das alles gewesen sein? Sollte ich mein restliches Leben auf diesem Kotzniveau verbringen? Die Sitzung mit Dr. Pocovnic am Mittwoch lief ähnlich wie unser Gespräch am Montag und trotz allen Sträubens überredete er mich weiter an der Gruppentherapie teilzunehmen.

Also ging ich auch hin. Silviana kam nicht und ich erfuhr, dass sie in eine andere Gruppe gewechselt hatte, was für uns beide wohl besser war. Und zum ersten Mal schien auch etwas von dem, was dort besprochen wurde, zu mir hindurchzusickern. Denn zum ersten Mal hörte ich nicht nur das Jammern sondern auch das, was dahinter steckte. Wir alle hatten schlimme Sachen erlebt, wodurch unser Vertrauen in andere Menschen vollkommen zerstört war. Sie alle hatten zwar weit weniger durchgemacht als ich, dennoch inspirierten mich heute ihre Geschichten. Wie immer leistete ich selbst keinen aktiven Beitrag. Was hätte ich auch erzählen sollen. Ich wollte nicht darüber sprechen was mich schon in meinen Alpträumen verfolgte.

Vielleicht musste ich aber beginnen mich zu meinem Glück zwingen. Ich sollte nicht länger darauf warten, dass mir etwas Gutes passierte, ich sollte es mir verdienen. Und als die anderen davon berichteten, wie sie kleine Schritte in die richtige Richtung machten, und sei es nur einmal alleine in einen großen Supermarkt mit vielen Leuten drin zu gehen und etwas zu kaufen, wuchs in mir der Wunsch auch vorwärts zu gehen.

Völlig in Gedanken absolvierte ich meine letzte Nachtschicht in dieser Woche und entwickelte einen Plan wie ich mich am Wochenende einer großen Herausforderung stellen könnte. Nachdem ich dann am Samstag ausgeschlafen hatte, durchforstete ich das Internet nach einer passenden Aktivität. Es sollte sich um eine überschaubare Anzahl an Menschen handeln, möglichst im Dunkeln, weil ich mich da einfach sicherer fühlte, und verbunden mit etwas Angenehmen. Und irgendwie gelangte ich dann auf die Seite dieses kleinen Nachtclubs. Angeblich traten zwei lokale Bands darin auf, schon alleine die Größe des Ladens beschränkte die Anzahl an Personen und die Musikrichtung war genau mein Ding.

Der Club lag neben einem Wohngebiet und war auf zwei Seiten von einem Park umgeben. Ich konnte mich also im Dunkeln nähern und so weit gehen, wie ich es mir zutraute. Dass ich das Lokal an diesem Samstag letztlich auch schon betreten würde, daran zweifelte ich selbst, aber scheinbar gab es dort öfters solche Veranstaltungen und ich würde mich dem Schritt für Schritt annähern können. Einen großen Nachteil gab es allerdings, ich musste ungefähr anderthalb Stunden lang mit Bahn und Bus hinfahren, dafür würde mich aber in der Kneipe auch garantiert keiner kennen.

8

Laut lachend schlenderten inzwischen die drei Freundinnen sich eine Flasche Wein teilend durch den Park. Es war Samstagabend und heute hatte Ilena entscheiden dürfen wo es hin ging. Und ganz nach ihrem Geschmack entschied sie sich für den Schuppen von nebenan mit viel Bier, lauter Musik und verrückten Typen. Zunächst waren ihre zwei Begleiterinnen nicht so begeistert gewesen, dass sie ausgerechnet in eine Metalkneipe gingen, aber mit steigendem Alkoholspiegel erschien das gar nicht mehr so schlimm.

Marina und Oana zogen Ilena gerne mit ihrer Vorliebe für krasse Musik und schräge Leute auf, so auch heute. „Und? Willst du später einen dieser verwahrlosten, rotzigen Kerle mit heim nehmen?“, witzelte Oana und puffte Ilena in die Seite. Die rollte nur mit den Augen und konterte: „Nicht alle Metaller sind verwahrlost und eklig. Ich mag es halt wenn ein Typ Charakter hat und nicht aus so einer Klonfabrik kommt, in der alle den gleichen Haarschnitt und die gleichen Klamotten kriegen.“ Marina stichelte weiter: „Na, dein perfekter Kerl muss eh erst noch erfunden werden. Hauptsache krank im Kopf, sag ich da nur!“ Sie lachte laut auf und rannte los, Ilena setzte ihr ein paar Meter nach, bremste dann aber schnell wieder und winkte nur ab. „Ihr seid beide einfach nur blöd!“ „Ist das deine professionelle Meinung als Ärztin oder nur so daher gesagt?“, rief Oana ihr zu und kicherte hemmungslos. Ilena riss ihr die Weinflasche aus der Hand, trank den ganzen Rest alleine leer und sagte dann: „Das habt ihr jetzt davon!“ „Na toll!“, regte sich Oana künstlich auf und Marina warf sofort ein: „Da musst du aber jetzt die erste Runde ausgeben!“ Grinsend stellte Ilena daraufhin die Flasche in einen Papierkorb und sie gingen anschließend gemeinsam zielstrebig auf die Kneipe zu, aus der bereits laute Musik grollte.

9

Die lange Zugfahrt war schon eine Herausforderung für sich, die ich aber Dank meiner Busreisen halbwegs gut bewältigen sollte. Mit fremden Menschen auf engem Raum zu sein, in einem Gefährt, aus dem man nicht jeder Zeit raus kam, machte mir einfach Angst. Diese Angst spülte ich Schluck für Schluck mit einer halben Flasche Wodka runter. Die andere Hälfte wollte ich mir für Teil zwei des Experiments aufheben.

Noch völlig überzeugt lief ich von der Haltestelle durch den Park, wurde aber je näher ich dem Club kam immer langsamer und als ich die Gruppe an Leuten vor der Tür erblickte, die sich lautstark unterhielten und lachten, blieb ich ganz stehen. Mein Puls schoss in die Höhe und meine Handflächen wurden schwitzig. Energisch goss ich mir den Schnaps in die Kehle und hoffte auf eine Linderung meiner Panik, doch die trat nicht ein.

Angewurzelt stand ich also am Rande des Parks und starrte fixiert auf den Eingang des Clubs. Ich hörte mein Blut rauschen und spürte meine Adern vibrieren. Von Drinnen dröhnten unterdessen die Bässe und immer wenn die Tür aufging, ergoss sich ein Schwall schwerer Gitarrenmusik in die Nacht.

Ich war so in meiner eigenen Welt gefangen, dass ich nicht einmal bemerkte wie sich zwei Jugendliche von Hinten näherten, bis sie bereits links und rechts neben mir standen und mich ansahen. „Alles klar bei dir?“, fragte der eine, doch ich brachte keinen Ton heraus. Der andere sagte dann leise hinter meinem Rücken zu seinem Kumpel: „Alter, der ist bestimmt voll auf Droge!“ „Nehmen wir ihn mit rein?“, fragte ersterer daraufhin ebenso leise und der andere antwortete: „Und schauen was passiert? Klar.“

Ich hatte keine Chance. Unfähig etwas zu sagen oder etwas dagegen zu tun, packten die zwei mich an den Armen und schoben mich zum Eingang des Clubs. Anscheinend mit den Türstehern befreundet, drängten sie mich mit den Worten: „Der muss da jetzt dringen rein.“, in das Lokal zu all den anderen Fremden, die schon wild vor der Bühne herum sprangen.

Die laute Musik schepperte in meinen Ohren und meine Panik trieb mir den Schweiß auf die Stirn. Für einen kurzen Moment erlangte ich die Oberhand und konnte mich losreißen. Völlig verstört rannte ich in Richtung Ausgang, doch die zwei waren schneller und wiesen hastig die Türsteher an: „Lasst den mal nicht raus!“ Entsetzt dass sich mir sogleich einer in den Weg schob, blieb ich wieder wie angewurzelt stehen. Die Jungs packten mich erneut an den Armen, zerrten mich weiter in den Club hinein und stellten mich schließlich einfach neben der Tanzfläche ab. Dann brüllte der eine seinem Kumpel zu: „Und jetzt? Lassen wir den einfach hier stehen und warten bis er ausrastet?“ Der Angesprochene nickte und zeigte auf die Bar. Sie gingen weg und ließen mich hier in dieser lauten Hölle zurück. Das war zu viel.

10

Unterdessen waren die drei jungen Frauen auf Betriebstemperatur gekommen. Ilena holte gerade eine neue Runde Drinks als sie ein verstörendes Gespräch zwischen zwei Kerlen mitbekam. Einer sagte zum anderen: „Und was denkst du? Wie lang wird es dauern?“ Daraufhin antwortete der: „So wie der schon zittert, nicht mehr lange.“ „Hattest du eigentlich gesehen, dass er eine Flasche in der Hand hatte?“ „Nein, aber die ist ja jetzt eh kaputt und ein paar mehr Scherben fallen auf dem Fußboden nicht auf.“ Sie lachten.

Ilena versuchte die Richtung und die Person auszumachen, über welche die zwei zu sprechen schienen. Innerhalb weniger Augenblicke hatte sie ihn entdeckt. Völlig apathisch starrte er über die Köpfe der Leute hinweg an die Wand. Er sah furchtbar aus und irgendwie bekam sie das Bedürfnis ihm zu helfen. Also stellte sie schnell die Gläser ab und näherte sich vorsichtig an.

11

In mir ballte sich inzwischen alles zusammen. Mein Magen rebellierte, meine Hände krampften so stark, dass ich mit einer den Hals der Schnapsflasche zerbrochen hatte und die Splitter in meine Haut drückte. Und nicht nur das, meine Knöchel traten allmählich weiß hervor und meine Fingernägel bohrten sich ebenso wie die Splitter in meine Handflächen, sodass bereits Blut hervorquoll. Dazu stierte ich mit glasigem Blick auf die gegenüberliegende Wand und versuchte verzweifelt meinen Herzschlag zu regulieren, der wilde Sprünge zu machen schien. Das unkontrollierte Zittern meiner Unterlippe und ein nervös zuckendes Augenlid machten meine Anspannung noch deutlicher. Ich konnte weder denken noch handeln. Wie gelähmt stand ich da. Mein Kopf war vollkommen leer. Kalter Schweiß perlte von meiner Stirn. Das Zucken breitete sich langsam auf meinen gesamten Körper aus. Ich wusste nicht ob ich einfach zusammenbrechen oder in einem gewaltsamen Ausbruch gegen die anderen oder mich reagieren würde. Wahrscheinlich stand ich aber bereits kurz vor einem Herzinfarkt oder totalen Kollaps und konnte rein gar nichts dagegen tun. Doch es geschah etwas Merkwürdiges.

Ohne dass ich es überhaupt registriert hatte, war eine junge Frau auf mich aufmerksam geworden und stand plötzlich vor mir. Sie berührte erst vorsichtig den Ärmel meiner Jacke und strich dann beruhigend über meinen ganzen Arm bis zu meiner verkrampften Hand. Diese ungewollte Berührung weckte mich aus meiner Trance und schlagartig lockerte sich mein Griff ein wenig. Doch zum Wegrennen war ich noch immer nicht fähig. Sie nahm nun meine beiden Hände und drehte sie so, dass sie hinein sehen konnte. Ich atmete angestrengt und hektisch, beobachtete sie stumm und konnte an ihren zusammengezogenen Brauen erkennen, dass sie über den Anblick nicht erfreut war. Dann sah sie mir plötzlich in die Augen und erneut schreckte ich zusammen. Die laute Musik übertönend rief sie mir zu: „Das müssen wir sauber machen und verarzten!“ Ich schluckte nur. „Willst du hier raus?“, rief sie weiter und ich zwang mich zu einem verkrampften Nicken. Daraufhin packte sie mich am Handgelenk und zog mich in Richtung Ausgang. Einer der Türsteher stellte sich ihr aber in den Weg und sagte laut: „Der soll doch nicht raus!“ Sie ließ sich allerdings nicht davon beeindrucken und konterte sauer: „Du weißt schon, dass das Nötigung und Freiheitsberaubung ist? Dafür könnte er dich anzeigen! Also, geh beiseite und lass uns durch.“ Anstandslos machte der Kerl daraufhin einen Schritt zur Seite und gab den Durchgang frei.

Sie führte mich an die frische Luft und es ist kaum zu beschreiben, wie befreiend dieser Moment für mich war. Das unsichtbare Seil, das sich um meinen Hals gelegt und mir die Lunge abgeschnürt hatte, fiel spontan von mir ab. Wenn nicht noch dieser Kloß in meiner Kehle gesteckt hätte, hätte ich wahrscheinlich lauthals geschrien. Sie lotste mich bis an die nächste Ecke des Gebäudes und sprach dann beruhigend: „Pass auf, du wartest hier kurz, ich sag meinen Freundinnen schnell bescheid, dass ich gehe, und dann kommst du mit zu mir und ich kümmere mich um deine Hände. In Ordnung?“ Wieder konnte ich nur nervös nicken.

Sie verschwand im Club, ich lehnte mich an die Hauswand, sog tief die frische, kühle Luft ein, fingerte mit meinen blutigen Händen eine Zigarette aus der Innentasche meiner Jacke und zündete sie an. Es war eine Wohltat. Das Nikotin wirkte sehr beruhigend auf meine Nerven und der blaue Dunst schmeckte nach solchen Stresssituationen besonders gut. Tief inhalierte ich ihn, auch wenn mir nach der immensen Anspannung ziemlich schwindlig davon wurde.

12

Ilena suchte ihre Freundinnen im Club und fand sie ausgelassen kopfschüttelnd auf der Tanzfläche zu den brachialen Bässen der Band, die sich gerade auf der Bühne freudig abmühte. Sich zu ihnen drängend, tippte sie erst einmal Oana an, die sie sofort zum Mitmachen animieren wollte. Doch Ilena wand sich schnell aus ihrer Umarmung und brüllte sie stattdessen an: „Es tut mir leid! Ich muss los!“ Vollkommen überrascht hielt Oana sofort inne, rempelte Marina an und plärrte zurück: „Warum?“ „Es gab einen Notfall!“, schrie Ilena. Marina glaubte ihr jedoch nicht und rief amüsiert: „Da steckt sicher ein Kerl dahinter!“ Sogleich stieg Oana lauthals ein: „Was stimmt mit dem nicht?“ Sie strafend ansehend schüttelte Ilena verneinend den Kopf. Endlich machte die Band eine kurze Pause. Schnell nutzte sie die Chance ihre Freundinnen noch ein wenig zu ärgern und antwortete selbstbewusst: „Bis jetzt tippe ich auf Sozio- oder Agoraphobie.“ Ohne eine Reaktion abzuwarten machte Ilena auf dem Absatz kehrt und ging einfach weg. Irritiert schauten die zwei ihrer Freundin nach, die inzwischen zur Tür hinaus verschwand.

13

Wenige Momente später kam sie zurück, blieb vor mir stehen, sah mich an und meinte: „Rauchen solltest du in deinem Schockzustand eigentlich nicht.“ Irgendwie fühlte ich mich ertappt, schaute auf die Zigarette und sie dann an. Sie lächelte und sprach weiter: „Keine Sorge, ich pass auf dich auf.“ Danach nahm sie noch einmal meine Hände und drehte sie um hinein zu sehen. Dass die Kippe noch immer zwischen meinen Fingern klemmte, schien sie nicht zu stören. Wenig begeistert bemerkte sie: „Ja, das müssen wir unbedingt sauber machen und vor allem die Splitter rausziehen sonst entzündet sich das womöglich.“ Ich starrte sie nur an während sie erklärte: „Wenn du einverstanden bist, gehen wir zu mir. Ich wohne gleich um die Ecke. Und ich bin Ärztin in der Notaufnahme, also weiß ich auch was ich tue. In Ordnung?“ Zurückhaltend nickend willigte ich ein. Zu mehr war ich in diesem Moment nicht fähig. Daraufhin griff sie erneut nach meinem Jackenärmel. Bereitwillig ging ich mit ihr mit. Nie im Leben wäre ich so leichtfertig mit einem Kerl mitgegangen und ich wunderte mich sehr darüber, dass sie mich so einfach mit zu sich nahm, obwohl sie noch nicht einmal meinen Namen kannte.

Auf dem Weg zu ihrem Haus versuchte sie mich scheinbar durch Plauderei ein wenig aufzulockern, was ihr aber nur wenig gelang. Ich war zwischen Skepsis, einem flauen Magengefühl und Verwunderung über ihre Freundlichkeit hin- und hergerissen. Sie erzählte über sich, ihre Arbeit und die Wohngegend hier bis wir zum Hauseingang gelangten. Dort blieben wir stehen. Sie drehte sich zu mir und sah in meine Augen. Erwartungsvoll sagte sie dann: „Ich heiße übrigens Ilena.“ Der Kloß in meinem Hals war nicht wirklich kleiner geworden und leise würgte ich hervor: „Razvan.“ Wieder lächelte sie, widmete sich anschließend der Tür und schloss auf.

Schweigend stiegen wir die Treppe empor bis in den vierten Stock. Vor ihrer Wohnungstür hielten wir wieder an. Erneut sah sie mir in die Augen, lächelte und meinte: „Alles gut soweit?“ Ich nickte gehemmt. Dann öffnete sie und wir gingen rein. Betreten blieb ich sofort im Flur stehen. Schon hier wirkte alles viel freundlicher und aufgeräumter als bei mir daheim. Sie zog ihre Schuhe und die Jacke aus, nickte mir zu und ermunterte mich: „Na komm, Jacke aus, Schuhe aus und dann ab in die Küche. Ich suche inzwischen das Desinfektionsmittel und Verbandszeug heraus.“ Unsicher kam ich ihrer Forderung nach, streifte mit den Fingerspitzen meine Jacke ab und warf sie auf die Garderobe, da der Aufhänger abgerissen war. Bei meinen Stiefeln hatte ich mit den kaputten Händen etwas mehr Probleme, popelte irgendwie die Schnürung auf und ließ sie schließlich achtlos an der Seite stehen.

Auf Zehenspitzen schlich ich danach vorsichtig in die Küche. Ilena hatte bereits einen Stuhl für mich bereitgestellt und kam dazu als ich mich schüchtern umsah. „Setz dich. Ich hab jetzt alles zusammen.“, bot sie an und nahm auf dem anderen Stuhl am Küchentisch platz. Alles war so sauber und ordentlich. Verhalten setzte ich mich auf die Stuhlkante. Sie bemerkte natürlich, dass ich mich unwohl fühlte, stand daraufhin auf, holte eine Flasche Wodka aus dem Eisfach und zwei Gläser, schenkte ein und hielt mir eines davon vor die Nase. „Zum lockerer werden?“ Das Angebot nahm ich dankbar an und wir beide tranken sie in einem Zug leer.

Jetzt rückte ich mich auf dem Stuhl zurecht. Sie schien es wirklich ehrlich zu meinen und allmählich überwand ich meine starke Skepsis ihren Absichten gegenüber. Sie breitete etwas Küchenpapier aus und forderte dann: „Okay, leg die Hände mit dem Handrücken auf den Tisch.“ Schüchtern legte ich meine Unterarme auf das Küchenpapier und wartete auf ihre Reaktion. Sie betrachtete wortlos meine zahlreichen Narben, sah mir danach kurz und ernst in die Augen und widmete sich anschließend meinen kaputten Handflächen. Nachdem sie mit etwas Wasser das Blut entfernt hatte, konnte sie mit einer Pinzette die Glassplitter herausziehen. Sehr deutlich erkannte man auch die Stellen, an denen die Fingernägel bis unter die Haut gedrungen waren. Sorgfältig beseitigte sie alle Verunreinigungen, desinfizierte die Wunden gründlich und trug schließlich eine klare Flüssigkeit aus einer kleinen Tube auf. „Das ist flüssiges Pflaster, flexibel und wasserfest.“, erklärte sie dazu.

Nachdem sie die Stellen trocken gepustet hatte, sah sie mich ohne meine Hände loszulassen wieder an und bemerkte: „Das war’s schon. Geht’s dir jetzt besser?“ Ich hatte mich in der Zwischenzeit wirklich etwas beruhigt und nickte mit einem leichten Lächeln. „Du kannst ja sogar Lächeln.“, rief sie daraufhin mit einem breiten Grinsen aus und fügte an: „Das steht dir übrigens.“ Sie ließ meine Hände los und sprach dann weiter: „Willst du noch auf ein Glas Wein da bleiben? Ich würde mich gern noch ein wenig mit dir unterhalten.“ „Weil ich bisher so viel gesagt habe?“, rutschte es mir heraus und verdutzt schmunzelnd sah sie mich an. „Genau deshalb.“, erwiderte sie aber freundlich und bedeutete mir ihr ins Wohnzimmer zu folgen. Und wieder musste ich mir eingestehen, dass ihre gesamte Wohnung wesentlich geschmackvoller und gemütlicher war als das Loch, in dem ich hauste.

Verlegen setzte ich mich aufs Sofa und sah ihr dabei zu wie sie eine Flasche Wein und zwei passende Gläser brachte. Nachdem sie eingeschenkt und wir angestoßen hatten, folgte auch schon ihre erste Frage: „Ohne dir zu nahe treten zu wollen. Was hat es mit den Narben auf sich?“ Irgendwie hatte ich damit gerechnet, dass sie dieses Thema anschneiden würde, nur nicht so schnell. Ich schaute auf meine Arme, sah sie danach an und antwortete ehrlich: „Ich habe da ein paar psychische Probleme.“ Sie lächelte und sagte freundlich: „Das habe ich mir schon gedacht. Soziophobie? Depressionen? Agoraphobie?“ Ich kippte mir das restliche Weinglas die Kehle hinunter, was sie zur Bemerkung „Alkoholismus?“ brachte. Daraufhin bemerkte ich meinen Fehler und sie, dass sie mir äußerstes Unbehagen bereitete. Ich stand also auf, sie ebenfalls und redete auf mich ein: „Es tut mir leid. Das war unfair von mir. Bitte geh noch nicht.“ Betreten sah ich sie an und ihr liebenswertes Lächeln ließ mich wieder einknicken.

Wir sanken zurück auf die Couch, sie füllte mir Wein nach und ich rang mir eine Frage ab: „Woher weißt du darüber bescheid?“ „Ich bin Ärztin, zwar nicht in dem Bereich aber ich habe mich schon immer dafür interessiert.“, antwortete sie bereitwillig und eine Folgefrage kam über meine Lippen: „Und warum bist du dann nicht in die Richtung gegangen?“ „Puh!“, sagte sie schnaufend und erklärte anschließend: „Das ist eine schwierige Frage. Vielleicht weil ich selbst zu verquer im Kopf bin und mich wahrscheinlich zu sehr in die Angelegenheiten hineinsteigern würde? In der Notfallmedizin hat man mit so vielen unterschiedlichen Leuten zu tun, da muss man keine intensiven Bindungen aufbauen. Hauptsache man rettet den Leuten ihren Arsch oder flickt sie wieder zusammen.“ Das war ehrlich. Wir schwiegen kurz und nahmen beide noch einen Schluck Wein.

„Warum warst du heute im Club?“, fragte sie danach. Ich atmete tief durch und versuchte mit eben solcher Ehrlichkeit zu antworten: „Es war ein Selbstexperiment. Ich wollte sehen wie weit ich komme.“ „Das war entweder sehr mutig oder sehr dumm von dir.“, warf sie in den Raum. Schnell versuchte ich mich zu rechtfertigen: „Eigentlich wäre ich von selbst wohl gar nicht reingegangen. Ich stand wie angewurzelt am Rand vom Parkplatz, starrte auf die Tür und konnte mich kein Stück weiter rühren. Und dann kamen diese zwei Typen. Ich hab sie erst gar nicht bemerkt, erst als sie direkt neben mir standen. Sie dachten wohl ich wäre auf Droge und fanden es lustig mich einfach in die Kneipe zu schleppen. Sie wollten rausfinden ob ich durchdrehe, oder so.“ Beklommen nahm ich noch einen Schluck Wein. „Wow. Das ist fies.“, bestätigte Ilena meine innere Wut. Nach kurzem Schweigen forschte sie weiter: „Was denkst du wäre passiert, wenn du länger dort drin geblieben wärst?“ Ich sah sie an und antwortete leise: „Ich hätte wohl jemanden verletzt.“ „Jemand anderen oder dich selbst?“, bohrte sie nach. „Keine Ahnung.“, flüsterte ich. „Hast du schon einmal jemandem außer dir selbst weh getan?“, wollte sie jetzt wissen und legte dabei eine Hand auf meinen Arm. Ich schluckte, sah zu Boden, nickte leicht und sagte nichts.

Sie rückte ein Stückchen näher und fragte nun leise: „Warum hast du das getan?“ Mir schossen die Tränen in die Augen und ich wusste nicht was ich ihr antworten sollte also versenkte ich mein Gesicht in den Händen und würgte nur hervor: „Sie war so kalt.“ Ilena schien zu spüren, dass ich mit den Gedanken und meinen wirren Gefühlen kämpfte, streichelte mir sanft über die Schulter und hinterfragte einfühlsam: „Deshalb verletzt du dich selbst?“ Ich konnte nicht antworten, die Gründe für diese Narben waren so vielfältig, dass es Stunden gedauert hätte sie alle aufzuzählen. Sie streichelte mich weiter. Das fühlte sich seltsam und gleichzeitig sehr behaglich an. Ich konnte mich nicht daran erinnern wann mich das letzte Mal jemand so freundlich, beinahe liebevoll berührt hatte.

Tief durchatmend versuchte ich mich zu beruhigen, sah Ilena wieder an und sprach: „Tut mir leid.“ Überrascht erwiderte sie: „Wieso? Es gibt nichts, was dir leid tun muss.“ „Ich kann dir die Gründe für mein Verhalten nicht nennen. Es gibt viel zu viel, was in meinem Leben schief gelaufen ist. Manchmal habe ich einfach keine Lust mehr weiterzumachen. Ich sollte dich nicht damit belasten. Es ist eh zu spät für mich.“ Daraufhin legte Ilena meine Hand in ihre und redete auf mich ein: „Es ist nicht zu spät. Du brauchst nur die richtige Unterstützung.“ „Was denn, noch einen Seelenklempner?“, konterte ich verzweifelt, woraufhin sie antwortete: „Du bist also in Behandlung?“ Ich strich mir durch die Haare und sagte fast beiläufig: „Ja, seit meinem Suizidversuch.“ Schlagartig wurde mir klar, dass ich das nicht hätte sagen sollen und schämte mich nun ein wenig für meine Labilität. Ilena hatte bei dem Wort Suizid meine Hand gleich etwas fester gedrückt und flüsterte jetzt: „Du hast es tatsächlich schon versucht?“ Ich sah ihr in die Augen und antwortete resigniert: „Nicht nur ein Mal.“

Das leichte Zittern ihrer Unterlippe verriet mir, dass sie das wirklich berührte. Dann rückte sie noch näher, ihr Oberschenkel berührte meinen. Sie legte meine Hand auf ihr Knie, streichelte mir über die Wange und sagte leise: „Ich will, dass es dir besser geht.“ Auf einmal küsste sie mich. Mein Herz machte einen Satz, dass ich gleich fürchtete es würde zerspringen. Mit der Situation vollkommen überfordert, hätte sie jetzt alles mit mir machen können. Ihre Lippen fühlten sich so weich an, so sinnlich. Mein Bauch war voller Schmetterlinge, die Aufregung ließ mich beben. Ihre Küsse wanderten unterdessen über meine Wange und auf meinen Hals. Meine Finger krallten sich in ihr Knie und ich spürte bereits jede Ader in meinem Körper pulsieren als würden sie jeden Moment allesamt platzen.

Ihre Hand glitt auf meinem Rücken unter mein Shirt, sie war warm und angenehm. Das leichte kratzen ihrer Fingernägel erregte mich während sie sich unterhalb meines Ohres festsaugte. Wie gelähmt ließ ich sie einfach weitermachen auch wenn mir das alles viel zu schnell ging und ich mich völlig überrollt fühlte.

Sie flüsterte in mein Ohr: „Ich gehe davon aus, dass du es noch nicht oft mit einer selbstbewussten Frau zu tun hattest, die genau weiß was sie will.“ Ich wollte etwas stottern, brachte aber keinen Ton heraus. Ihre Küsse wanderten zurück über meine Wange und schon pressten sich ihre Lippen erneut auf meine. Jetzt bahnte sich auch noch ihre Zunge einen Weg in meinen Mund, ihre samtweiche, wendige Zunge, die mir den Atem stocken ließ.

Ich war überwältigt, ergab mich ihrem intensiven und wohltuenden Drängen, beteiligte mich nun auch innig an diesem anregenden Zungenspiel, ließ mir ohne nachzudenken das T- Shirt über den Kopf ziehen und genoss das stärker werdende Kratzen ihrer Fingernägel auf meinem Rücken. Doch plötzlich hielt sie inne, sah mich an und schubste mich dann mit Leichtigkeit um. Rücklings fiel ich aufs Sofa. Katzengleich schwang sie sich nun auf meinen Schoß und auf mir sitzend musterte sie mich ausgiebig. Vorsichtig glitten ihre Finger über die zahlreichen Narben auf meiner Brust. An ihrem Blick konnte ich sehen, dass sie sich ernsthaft darüber Gedanken machte. Tatsächlich war mein gesamter Körper von den Spuren meiner Selbstverletzungen überzogen. Sie ahnte es nur noch nicht. Der Schmerz war ein ständiger Begleiter geworden, ohne ihn fühlte ich mich taub und leblos und manchmal musste ich eben ein wenig nachhelfen um mir vor Augen zu führen, dass ich noch immer im Diesseits weilte.

Ich beobachtete sie dabei wie sie mich beobachtete. Ihr gedankenverlorener Blick wich plötzlich einem Schmunzeln und sie zwickte mir leicht in die Brustwarzen woraufhin ich etwas zusammenzuckte. Langsam knöpfte sie nun ihre Bluse auf.

Mein Blut war bereits am kochen und ich konnte kaum atmen als der leichte Stoff von ihren Schultern glitt. Ihr schneeweißer Busen quoll aus dem etwas zu engen BH und am liebsten hätte ich mein Gesicht in ihrem Dekolleté vergraben. Sie umfasste meine Handgelenke und legte meine kühlen Finger auf ihre Brust. Ein leises Seufzen entwich meiner Kehle und fast schämte ich mich für meine maßlose Erregung. Jetzt beugte sie sich zu mir herunter und wenn ich bei diesem Kuss gestorben wäre, wäre ich glücklich gestorben. So etwas hatte ich noch nie zuvor gefühlt. Ilena strahlte ein Selbstbewusstsein aus, das mir Angst machte und mich gleichzeitig ihre Nähe suchen ließ. Am liebsten hätte ich mich jetzt an ihr festgeklammert und sie nie wieder losgelassen.

Flüsternd schlug sie nun vor:  „Wollen wir die Party ins Schlafzimmer verlegen?“ Mehr als ein Nicken brachte ich nicht zustande. Also stand sie auf und sagte etwas lauter: „Ich verschwinde mal ganz kurz im Bad und dann mach ich es uns drüben gemütlich.“ Weiterhin auf dem Rücken liegend und unfähig mich zu rühren, sah ich ihr nach wie sie zur Tür hinaus huschte.

Ich brauchte eine gefühlte Ewigkeit nur um mich aufzurichten. Dann stand sie schon wieder im Wohnzimmer, trug nichts weiter als einen beinahe durchsichtigen Slip und ihren BH, kam zu mir herüber, küsste auf meine Stirn und meinte freundlich: „Deine Chance auch mal fix ins Bad zu gehen.“ Sofort kam ich ihrer Aufforderung nach und stolperte wie betrunken ins Badezimmer. Mich am Waschbecken festhaltend erleichterte ich mich schnell und reinigte mich anschließend mit eiskaltem Wasser. Ich musste mich dringend beruhigen, denn Ilena wollte scheinbar wirklich mit mir schlafen und ich weder sie noch mich enttäuschen.

Nachdem ich auch mein Gesicht mit kaltem Wasser benetzt und mich gründlich abgetrocknet hatte, zog ich die Hose wieder hoch. Ich konnte einfach nicht nackt vor sie treten, ich fühlte mich schon ohne mein T- Shirt irgendwie entblößt.

Im Flur empfing sie mich mit unseren Gläsern in der einen und einer neuen Flasche Wein in der anderen Hand, zwinkerte mir auffordernd zu, machte auf dem Absatz kehrt und ging langsam in Richtung Schlafzimmer. Wie hypnotisiert folgte ich ihren wogenden Pobacken, die nur von einem Hauch aus Netz und Spitze bedeckt waren. Schüchtern betrat ich den Raum, der in einen unheimlichen Schein zweier roter Lichter getaucht war.

Während sie die Gläser abstellte und neu befüllte, glitt mein Blick durch das in Rot- und Schwarztönen gehaltene Zimmer. Etwas Morbides lag in der Luft, der Geruch von Patschuli und Opium- Räucherstäbchen. Dann zog mich das bizarre Gemälde über dem Bett in seinen Bann. Ein Mann lag auf eine Streckbank gefesselt da. Sein schmerzverzerrtes Gesicht verriet seine Pein. Auf ihm hockte eine Dämonin mit einem silbernen Nagel in der Hand. Einer davon hatte scheinbar schon seine Brustwarze durchdrungen und ich fragte mich wie sich das wohl anfühlen würde.

Plötzlich berührte Ilena vorsichtig meinen Arm und riss mich damit aus meinen Gedanken. Nachdem ich heftig erschaudert war und sie ein wenig Schmunzeln musste, erklärte sie kurz: „Das Bild habe ich von einem Bekannten malen lassen, er ist Künstler. Ich dachte mir, sonst fällt immer der Dämon über das hübsche Mädchen her, warum sollte es nicht auch mal umgedreht sein.“ Daraufhin hielt sie mir ein Weinglas unter die Nase und ich trank.

Nachdem sie es mir wieder aus der Hand genommen und zurück auf den Nachttisch gestellt hatte, näherte sie sich verführerisch an, ließ ihre Finger über meine Schultern an meinen Armen herunter gleiten und küsste mich innig. Doch irgendwie fühlte sich dieser Kuss anders an, er war nicht mehr so zärtlich sondern eher fordernd und heiß. Sie drückte mich gegen den Schrank, das kühle Holz jagte mir einen Schauer durch den Körper.

Während sie mich weiter küsste und an meinen Lippen lutschte, zog sie auch schon den Gürtel aus meiner Hose, öffnete gekonnt die Knöpfe und fuhr mit einer Hand hinein. Erschrocken zuckte ich zusammen als sich ihre Finger in meine Weichteile gruben, die mittlerweile gar nicht mehr so weich waren. Mit einem Ruck zog sie mir danach sowohl Hose als auch Unterhose herunter und kniete plötzlich vor mir.

Ich presste meine Handflächen gegen den Schrank da ich glaubte das Gleichgewicht zu verlieren. Vor allem als ihre zarten Lippen auf meinen inzwischen ziemlich steifen Schwanz sanken und sanft seine Spitze umschlossen. Mit der Zunge spielte sie an der Eichel. Es durchfuhr mich wie tausend Nadelstiche. Und als sie ihn immer weiter einsaugte bekam ich das Gefühl ohnmächtig zu werden. Der Raum drehte sich um mich, ich atmete unkontrolliert und konnte die Wogen der Lust, die mich durchströmten kaum noch ertragen.

Für einen Moment wagte ich es meine zusammengekniffenen Augen zu öffnen. Mein Penis war inzwischen komplett in ihrem Mund verschwunden, sie würgte leicht, ließ ihn wieder heraus und erneut vollständig hineingleiten. Beinahe wäre ich jetzt schon gekommen, konnte es aber gerade so noch unterdrücken und stieß sie stattdessen vorsichtig zurück.

Den Hinweis verstehend hielt sie sofort inne und erhob sich wieder. Ein süffisantes Lächeln umspielte ihre glänzenden Lippen. Offenbar hatte ich nicht alles zurückhalten können. Dann sagte sie auffordernd: „Und jetzt gehst du auf die Knie.“ Da die sowieso schon butterweich waren, kam ich umgehend ihrer Forderung nach und glitt mit dem Rücken am Schrank einfach zu Boden.

Als ich dann so vor ihr hockte, sah ich zu ihr hoch, ihr Busen wirkte noch erregender aus dieser Position. Behutsam zog ich ihr das Höschen herunter. Ein glatt rasiertes Tal der Wonne erwartete mich und meine innigen Küsse. Bebend legte ich meine Lippen auf ihre samtweiche Haut und begann mit meiner Zunge an ihr zu spielen. Sie stöhnte leise als ich sie zärtlich leckte und vorsichtig an ihr knabberte. Die Hitze zwischen ihren schneeweißen Schenkeln wurde beinahe unerträglich und immer tiefer drang ich mit meiner Zunge zwischen ihre erregt pulsierenden, feucht werdenden und perfekt geformten, zarten Schamlippen.

Sie stöhnte lauter, krallte sich in meinen Haaren fest und machte schließlich ein paar Schritte zurück ohne mich loszulassen. Vom Schmerz durchströmt folgte ich dem Ziehen an meinen Haaren und ließ mich von ihr auf das Bett zerren. Ohne überhaupt rekapitulieren zu können wie eines zum anderen gekommen war, hatte sie schon meine Handgelenke mit Handschellen an das obere Bettteil gefesselt, mir einen Gummi übergezogen und sich genüsslich auf mich gesetzt.

Ihre Bewegungen machten mich wahnsinnig. So gern hätte ich meine Finger in ihre Schenkel gegraben doch ich konnte es nicht. Endlich ließ sie auch den BH fallen und ihre Brüste im rhythmischen Takt ihrer Lust auf und ab hüpfen. Zwischendurch hielt sie kurz inne, ließ mich an ihren Nippeln lecken und setzte dann ihren Ritt auf mir fort. Beide atmeten wir schwer im Ringen um unsere Befriedigung und sie wurde immer stürmischer. Noch nie hatte ich solch einen Vulkan im Bett gehabt, ich wusste dass sie bald ausbrechen würde, konnte den Zeitpunkt aber nicht genau bestimmen.

Ihre Fingernägel bohrten sich in meine Brust, glitten dann weiter nach oben und als ich das Funkeln in ihren Augen sah, hauchte ich: „Tu es!“ Ohne weiter darüber nachzudenken legte sie jetzt ihre Finger um meinen Hals und begann mich zu würgen. Wie ein nicht enden wollender Stromschlag durchflutete mich dieses extrem erregende Zittern.

Ilena hielt sich nun nicht mehr zurück. Ihre Hände umschlossen fest meine Kehle, die sie erbarmungslos zudrückte während ich mich zwischen Wollust und Schmerz gebeutelt unter ihr wand. Ein wenig Panik stieg langsam in mir hoch und verstärkte diese Gefühle. Sie ließ mir keine Chance mehr zum Atmen, die Bilder verschwammen vor meinen Augen und dann explodierte ich.

Es war der heftigste und gleichzeitig schlimmste und schönste Orgasmus, den ich bisher erlebt hatte. Ich konnte nicht atmen, pulsierte am ganzen Körper, spürte jede einzelne Zelle erschauern. Und Ilena ging es nicht anders. Das unkontrollierte Zucken ihres Unterleibs, das mich beinahe irre machte, verriet den Höhepunkt ihrer Leidenschaft. Sie konnte es nicht mehr steuern, räkelte sich laut stöhnend auf mir, gab endlich meine Kehle frei und als die erhitze Luft in meine Lungen strömte, wusste ich wieder was es hieß am Leben zu sein.

Ich war überwältigt. Der kalte Schweiß auf meiner Stirn perlte zur Seite hinab. Ilena hatte den Kopf nach hinten gelegt und atmete schwer. Sie schien jeden einzelnen Moment auszukosten. Mein Herz raste, der Raum drehte sich.

Dann sah sie mich auf einmal an als hätte sie gerade etwas Furchtbares getan und hauchte aufrichtig: „Entschuldigung.“ In diesem Augenblick musste ich anfangen zu grinsen. Der Endorphinschub, den sie mir gerade verschafft hatte, war so überwältigend, dass mir nichts anderes übrig blieb. Sichtbar erleichtert stieg sie in mein breites Lachen ein, legte ihre Stirn auf meine und küsste mich kurz darauf liebevoll.

Noch auf mir sitzend löste sie nun die Handschellen. Tiefrote Striemen hatten sich um meine Handgelenke gebildet und blieben als eindeutige Zeichen unseres Liebeskampfes zurück. Sie sah mir in die Augen und lächelte breit. Ein Gefühl der Zufriedenheit sickerte in mich und am liebsten wäre ich hier nie wieder weggegangen. Doch leider war ich nur zu Gast. Meine Zufriedenheit wurde schlagartig von Traurigkeit getrübt, dass diese Nacht schon vorüber war und ich jetzt wohl hinaus in die Dunkelheit und einsame Kälte musste.

Als Ilena ein paar Minuten später von mir herunter geklettert war, streckte sie sich genüsslich und schlug dabei vor: „Was meinst du? Hüpfen wir noch fix unter die Dusche und kuscheln uns dann unter der Decke zusammen?“ Irritiert antwortete ich: „Du willst dass ich bleibe?“ Sie kam auf mich zu, gab mir einen Kuss auf die Wange und meinte freundlich: „Na klar! Denkst du etwa ich schmeiß dich jetzt einfach raus? Was hältst du denn von mir?“ Peinlich berührt stotterte ich: „Tut mir leid, tut mir leid. Das war nicht so gemeint.“ Grinsend fasste sie daraufhin nach meinem kaputten Handgelenk und zog mich mit sich ins Bad.

Auch wenn das Duschen schnell nebensächlich wurde und wir uns lieber gegenseitig am ganzen Körper mit Schaum einrieben, fühlte ich mich irgendwie erfrischt und wesentlich entspannter als sonst. Ilena brachte eine Seite in mir hervor, von der ich geglaubt hatte sie sei längst verstorben und begraben.

Später lagen wir gemeinsam im Bett. Sie hatte sich an mich geschmiegt und einen Arm über meine Brust gelegt. Eine angenehme Wärme ging von ihr aus und zum ersten Mal seit Jahren spürte ich ein wenig Glück. Es kam mir irgendwie surreal vor und ich fragte mich, wie lange es wohl währen würde.

14

Noch surrealer war das Erwachen am nächsten Morgen. Ich schlug die Augen auf, mein Mund war trocken und kalter Schweiß perlte von meiner Stirn. Wie ein Stein hatte ich bis jetzt geschlafen, doch das nervtötende Kribbeln in meinen Fingerkuppen machte mich nervös. Ich sah zur Seite. Ilena atmete ruhig und entspannt. In mir wuchs dagegen die Unruhe. Angespannt versuchte ich jetzt möglichst vorsichtig meinen Arm unter ihrem Nacken hervorzuziehen, schaffte es als sie sich murmelnd auf die andere Seite drehte und stand dann schleunigst auf.

Schnell lief ich in die Küche, griff nach der Tür des Eisfachs und hielt kurz inne. Musste das jetzt wirklich sein? Meine unkontrolliert zitternde Hand erleichterte mir die Entscheidung. Ich war eindeutig auf Entzug, das würde nicht lange gut gehen. Also kramte ich die Wodkaflasche aus dem Tiefkühler und trank hastig einen großen Schluck. Wie Eis und Feuer zugleich rann der Schnaps meine Kehle hinunter. Die Anspannung löste sich ein wenig und war nach zwei weiteren großen Schlucken völlig verschwunden. Den restlichen Schnaps legte ich zurück in das Fach. Ilena würde merken, dass etwas fehlte aber das war mir in diesem Moment egal.

Nachdem ich mir den Schweiß im Bad abgewaschen und mit kaltem Wasser meine Kehle nachgespült hatte, kehrte ich zurück ins Schlafzimmer und kuschelte mich wieder unter die Decke. „Wo warst du?“, murmelte Ilena beinahe vorwurfsvoll im Schlaf, legte ihren Arm wieder um mich und versank erneut in ihre Träume. Ich sagte nichts und dämmerte benommen davon.

15

Kurze Zeit später erwachte ich davon wie ihre Hand über meinen Bauch streichelte. Ich war nicht gewohnt, dass mir jemand auf diese Weise Zuneigung zeigte. Eigentlich war ich gar keine Zuneigung gewohnt. Sie hielt die Augen weiterhin geschlossen, drückte sich für einen Moment fest an mich und atmete tiefenentspannt durch. Ob sie das überhaupt wahrnahm? Ich merkte es jedenfalls sehr deutlich und wusste nicht recht wie ich darauf reagieren sollte, also verhielt ich mich ganz still. Auf einmal küsste sie meine Schulter und ihre Hand wanderte weiter nach unten. Plötzlich war ich hellwach. Wollte sie mir so einen guten Morgen wünschen? Noch immer blieb ich ganz ruhig liegen, da ich keine Ahnung hatte was ich tun sollte. Ilena flüsterte: „Na komm schon. Ein wenig Morgengymnastik?“ Ich sah sie an, schluckte und ließ sie meine Hand auf ihre Hüfte ziehen.

Mit zittrigen Fingern strich ich über ihren Schenkel, den sie inzwischen quer über mich gestreckt hatte. Jetzt fummelte sie nach etwas in ihrem Nachttisch und platzierte dann ein Kondom auf meinem Bauch. Nervös popelte ich es aus der Verpackung und legte es an. Überraschend rollte sie sich anschließend auf den Rücken und zog mich ein Stück weit mit sich. Der eindeutigen Aufforderung folge leistend kroch ich über sie und drängte mich zwischen ihre Beine. Wohlig brummend signalisierte sie mir weiterzumachen und ein leiser Seufzer entfleuchte ihr als ich etwas energisch in sie eindrang. Irgendwie überkam es mich jetzt. Auch wenn ich keinen Fehler machen wollte, hatte ich das Gefühl, dass Ilena eine etwas härtere Gangart mochte, also hielt ich sie unter mir fest und stieß immer wieder kräftig in sie bis nur noch heftige Stöhnlaute aus ihrer Kehle drangen.

Immer wilder werdend brachte ich sie zum Glühen. Ihre Fingernägel kratzten über meinen Rücken bis sich dünne blutige Rinnsaale bildeten. Derb krallten sich ihre Hände schließlich in meinen Hintern während ich eines ihrer Knie bis auf ihre Schulter drückte. Ich musste ihr den Mund zuhalten damit sie nicht schrie als sie unter mir zuckend ihren Höhepunkt erreichte. Sie biss rigoros in meinen Finger. Der Schmerz brachte mir den vollen Genuss, der sich jetzt heiß in ihr ergoss.

Abgekämpft hielt ich inne, meine Hand lag noch immer auf ihrem Mund und mein Finger zwischen ihren Zähnen. Sie atmete schnell, ich auch. Plötzlich läutete es an der Tür. Wir beide horchten auf. Ilena keuchte dann: „Wie spät ist es?“ Ich stammelte: „Ignorier es.“ So verknotet wie wir noch waren, versuchte sie einen Blick auf die Uhr zu erhaschen. Es klingelte wieder. Ilena: „Hey! Komm schon! Lass mich los!“ Ich schüttelte den Kopf und antwortete: „Es ist gerade so schön in dir.“ Irgendwie kam sie an den Wecker auf ihrem Nachtschrank heran, blickte darauf und erschrak: „Verdammt! Los, runter von mir! Das sind meine Mädels.“ „Die gehen auch wieder weg.“, erwiderte ich ruhig, doch Ilena protestierte: „Nein! Es war ausgemacht, dass sie heute zum Brunch kommen. Bitte!“ Widerwillig zog ich mich aus ihr zurück und rollte zur Seite. Schnell sprang Ilena aus dem Bett und eilte beim dritten Klingeln, das jetzt sehr anhaltend war, zur Tür.

In die Gegensprechanlage rief sie hastig: „Sorry Mädels! Ich hab total verpennt! Kommt rein!“, dann drückte sie den Türöffner, zog die Tür einen Spalt weit auf und klemmte einen Schuh dazwischen. Eilig stolperte sie anschließend ins Schlafzimmer zurück, kramte im Schrank, zerrte zwei Handtücher heraus, von denen sie mir eines ins Gesicht warf und sah mich dann an. „Wenn du magst, kannst du gerne duschen gehen, fühl dich einfach wie zuhause. Oder leiste uns ein wenig Gesellschaft beim Brunch. Ganz wie du magst.“ Sie zurückhaltend beim Anlegen eines Bademantels beobachtend antwortete ich leise: „Ich glaube, das ist nichts für mich. Ich bleib lieber hier.“ Daraufhin lächelte sie mich an, zog den Knoten der Kordel fester, ging hinaus in den Flur und schloss die Tür hinter sich.

Ich konnte hören wie sie ihre Freundinnen an der Wohnungstür empfing und sich entschuldigte: „Tut mir echt leid Mädels, ich hab total verschlafen. Kommt rein. Ihr wisst ja wo alles ist, ich mach inzwischen mal Kaffee.“ Mir war unwohl bei dem Gedanken diesen Fremden zu begegnen. Sicherlich würden sie mir nur unangenehme Fragen stellen und mich aushorchen und beurteilen.

Ich entfernte das Kondom, wickelte es in ein paar Taschentücher und rollte mich zurück auf das Bett. Lieber verbrachte ich die nächsten Stunden dösend hier als unter Beobachtung von Ilenas Freundinnen. Auf dem Bauch liegend und die Arme ums Kopfkissen geschlungen, dämmerte ich wieder ein wenig dahin.

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Unterdessen legten Oana und Marina ihre Jacken und Schuhe ab. Natürlich waren ihnen Razvans Lederjacke, die quer auf der Kommode lag, und seine achtlos in die Ecke geschobenen Springerstiefel nicht entgangen. Oana puffte ihrer Freundin in die Seite und flüsterte: „Hey. Scheinbar hat sie den Kerl nicht nur mit heim genommen sondern ihn auch nicht mehr wieder weggelassen.“ Marina grinste und meinte leise: „Ob der noch in der Kiste liegt?“ Kurz zurückgrinsend widmete sich Oana dann ganz vorsichtig der Türklinke zum Schlafzimmer und öffnete einen kleinen Spalt. Neugierig äugten sie beide ins Zimmer und tatsächlich lag ein Kerl auf Ilenas Bett, der zu schlafen schien. Leider konnten sie nicht mehr erkennen. Er hatte sein Gesicht im Kopfkissen vergraben, sein nackter Rücken wurde von langen, schwarzen Haaren überdeckt und der Rest verschwand unter einer Decke. Behutsam schloss Oana die Tür und flüsterte anschließend Marina zu: „Jetzt weißt du auch warum sie verpennt hat.“ Lachend gingen beide nun ins Wohnzimmer, packten die frischen Brötchen auf den Tisch und halfen Ilena beim Tragen der randvollen Kaffeetassen und aller anderen Dingen, die man für ein ausgewogenes Frühstück brauchte.

Nachdem sie alle beisammen saßen und mit einem Glas Sekt angestoßen hatten, warf Marina eine Frage in den Raum: „Dein Lover will wohl nicht mit uns frühstücken?“ Ilena verschluckte sich an ihrem Kaffee und antwortete hustend: „Welcher Lover?“ Grinsend erklärte Oana: „Na der, dessen Stiefel noch im Flur stehen und der in deinem Bett liegt.“ Ein wenig fühlte sich Ilena ertappt und versuchte sich zu rechtfertigen: „Ja, ich konnte ihn nicht einfach rausschmeißen. Er hat mir leid getan.“ „Und deshalb hast du ihn in dein Bett und dein Höschen gelassen?“, stichelte Oana weiter. „Hey!“, rief Ilena aus und wand ein: „Ich bin eben ein hilfsbereiter Mensch. Er war verletzt und ich hab ihm geholfen und dann ist es halt passiert. Er ist wirklich nett, nur eben sehr schüchtern. Können wir jetzt bitte über etwas anderes reden?“ „Oh bitte nicht!“, sagte Marina laut und weiter: „Das ist gerade zu lustig. Welche Macke hat er, dass er dir gefällt?“ „Was soll das heißen?“, ereiferte sich Ilena und Oana fuhr dazwischen: „Na, alle Typen, die du bisher hattest, waren irgendwie verquer. Der letzte wäre in meinen Augen sogar als Serienmörder durchgegangen, so unheimlich war der. Also? Was stimmt mit dem jetzigen nicht?“ Ilena sah sie zweifelnd und gleichzeitig vorwurfsvoll an. Dann erzählte sie leise: „Ihr habt ja keine Ahnung. Der arme Kerl hat gestern echt viel durchgemacht. Zwei Typen haben ihn einfach in den Club geschleppt, wo er eine Panikattacke bekam. Dabei hat er eine Glasflasche in seiner Hand zerdrückt und sich ernsthaft verletzt. Ich musste ihm gleich mehrere Splitter aus der Handfläche ziehen. Seine Unterarme, seine Brust und Oberschenkel sind mit zahlreichen Narben überzogen, die er sich größtenteils selbst zugefügt hat. Er leidet offensichtlich an Depressionen, trinkt krankhaft Alkohol und hat Angst vor anderen Menschen beziehungsweise Menschenansammlungen. Ich will gern wissen was ihn so hat werden lassen, was ihm in seinem Leben passiert ist, dass er sich das antut. Es ist eine ernsthafte Angelegenheit und ich hoffe, dass ihr keine weiteren Scherze darüber macht.“ Etwas betreten musterten die zwei ihre Freundin. Dann fragte Marina aufrichtig: „Aber was fasziniert dich nur an solchen kaputten Leuten? Der braucht professionelle Hilfe und keine Hobbypsychologin.“ „Keine Sorge, er ist in Behandlung. Mich interessieren schwierige Charaktere einfach. Ich kann es nicht erklären. Ich will nur nicht, dass ihr mich oder ihn deswegen verurteilt.“, erklärte Ilena weiter. Oana sah sie durchdringend an und meinte dann leise: „Das klingt ja fast als hättest du dich verknallt.“ Peinlich getroffen krümmte sich Ilena daraufhin grinsend zusammen und beschwerte sich lachend: „Wieso sagst du nur so was?“ 

17

Natürlich hatte ich mitbekommen wie sie ins Zimmer schauten und mich deswegen schnell tot gestellt. Auf gar keinen Fall wollte ich in ein peinliches Gespräch verwickelt werden. Aber jetzt wurden die Krämpfe in meiner Magengegend allmählich unerträglich, sodass ich sie nicht mehr ignorieren konnte. Unter Schmerzen krümmte ich mich zusammen, versuchte mich durch schnelles Atmen zu entspannen und stand auf. Eilig zog ich dann die Klamotten an, die noch immer auf dem Fußboden verstreut lagen und öffnete anschließend vorsichtig und leise die Tür. Ich hörte wie die Frauen im Wohnzimmer ausgelassen scherzten und lachten. Das war meine Chance. Ich schlüpfte in den Flur, fummelte in Windeseile meine Zigarettenpackung und ein Feuerzeug aus meiner Jacke und rannte auf Zehenspitzen in die Küche. Es duftete herrlich nach frisch gebrühtem Kaffee, dem ich einfach nicht widerstehen konnte. Schnell durchsuchte ich die Schränke nach einer Tasse, fand einen Pot, füllte ihn zur Hälfte mit dem Heißgetränk und goss den restlichen Wodka aus dem Eisfach hinein. Ilena wusste von meinem Problem also würde sie nicht sauer sein. Und wenn sie es war, konnte ich es auch nicht ändern. Ohne mein Shirt, das wahrscheinlich noch irgendwo im Wohnzimmer lag, fühlte ich mich zwar irgendwie nackt aber der Drang nach der Befriedigung meiner Sucht ließ mich trotzdem auf den Balkon treten. Es war ein sonniger aber kühler Tag. Sofort überzog eine Gänsehaut meinen Oberkörper.

Die heiße Tasse umklammernd ging ich barfuß weiter bis an die Brüstung. Nahm einen Schluck Wodka- Kaffee, der wohltuend in meiner Kehle brannte, und stellte die Tasse dann auf einem kleinen Tischchen ab. Jetzt öffnete ich die Zigarettenpackung und stand vor einer schwierigen Entscheidung. Reichte der Schnaps im Kaffee und eine normale Zigarette damit ich mich besser fühlte oder sollte ich schwerere Geschütze auffahren? Der Joint, den ich eigentlich für den Notfall eingepackt hatte, lachte mich hinterhältig an. Ich entschied mich jedoch dafür ihn aufzuheben. Auch wenn mich die Schmerzen gerade in Schach hielten, musste er als letzter Strohhalm übrig bleiben, wenn nichts anderes mehr half. Also zündete ich eine Kippe an und inhalierte genussvoll den blauen Dunst. Die Kälte konnte ich kaum noch spüren.

Vor mich hin sinnierend starrte ich auf die Straße vor dem Haus. Menschen liefen herum, Autos fuhren vorbei. Alles schien so normal zu sein. Nur ich stand hier oben und wusste, dass ich nicht in diese Gesellschaft passte. Ich war ein Außenseiter und würde es womöglich auch immer bleiben.

Plötzlich hörte ich ein leises: „Hallo?“ hinter mir. Erschrocken drehte ich mich um. Glücklicherweise war es Ilena, die in der Balkontür stand und mich aufmerksam musterte. „Was machst du denn da draußen? Ist dir nicht kalt?“, fragte sie freundlich. „Kaffee und Zigarette.“, stammelte ich nur. Sie nickte und kam ein paar Schritte näher. „Das Angebot steht noch. Wenn du dich zu uns gesellen willst, kannst du das gerne tun.“, sprach sie dabei. Ich schüttelte leicht den Kopf. „Es ist auf jeden Fall eine besser kontrollierte Umgebung als gestern im Club. Überleg es dir.“, sagte sie nur, streichelte mir kurz über die Schulter und ging anschließend zurück in die Küche. Eigentlich hatte sie recht. Nachdem ich aufgeraucht hatte und der Kaffeepot leer war, fasste ich deshalb einen Entschluss.

Leise huschte ich zurück ins Schlafzimmer und holte das Handtuch. Ich fühlte mich irgendwie ausgekühlt und hoffte, dass mich eine heiße Dusche auf Vordermann brachte. Am Wohnzimmer vorbei, in dem sie sich hörbar unterhielten, eilte ich ins Bad, schloss mich ein und drehte das Wasser auf. Als das heiße Nass meinen Rücken berührte, zog sich noch einmal alles in mir zusammen. Die Kratzer von heute Morgen waren wohl tiefer als sie aussahen, blutrote Spuren liefen an mir herunter und in den Abfluss. Aber es half. Wesentlich belebter schüttelte ich ein paar Minuten später die letzten Wassertropfen von mir, trocknete mich ein wenig ab und schlüpfte zurück in meine Klamotten.

Scheinbar hatten sie im Wohnzimmer die Dusche gehört, denn jemand klopfte auf einmal zaghaft an die Badezimmertür. Ich verhielt mich ganz still. „Ich hab dein T- Shirt hier.“, sagte Ilena gerade so laut, dass ich es hören konnte. Erleichtert öffnete ich das Schloss. Grinsend streckte sie mir das Shirt entgegen, drückte mir einen Kuss auf und ging wieder zurück ins Wohnzimmer. Schnell zog ich mich fertig an, kämmte mit Ilenas Kamm durch meine verfitzten Haare, spülte meinen Mund mit Mundwasser aus und atmete tief durch.

18

Vor der geschlossenen Tür des Wohnzimmers blieb ich kurz darauf mit der Hand auf der Klinke stehen. Sicherlich konnten sie meinen Umriss durch den Milchglaseinsatz inmitten des Holzrahmens sehen, was für mich bedeutete, dass es kein Zurück gab. Dennoch unterhielten sie sich ungezwungen weiter. Vielleicht hatten sie mich auch gar nicht bemerkt? Noch einmal atmete ich tief durch und öffnete langsam die Tür. Drei aufmerksame Augenpaare richteten sich auf mich als ich einen Schritt vorwärts machte. Freudestrahlend sprang Ilena daraufhin auf, griff nach meiner Hand und lotste mich zum Tisch. Als ich mich schüchtern zwischen die Freundinnen auf den Boden gesetzt hatte, brach sie das peinliche Schweigen: „Darf ich vorstellen? Das sind Oana und Marina. Oana und Marina? Das ist Razvan.“ Sie lächelten mich an und begrüßten mich freundlich: „Sehr nett dich kennenzulernen.“ Ich nickte zurückhaltend. „Magst du ein Brötchen und noch eine Tasse Kaffee?“, fragte Ilena nett.“ Ich sah auf den Tisch und fragte mich ernsthaft wann ich das letzte Mal eine Semmel mit Marmelade gegessen hatte. Wann hatte ich überhaupt das letzte Mal etwas gegessen? Ohne weiter auf eine Antwort zu warten, schnitt sie mir einfach eines der Brötchen auf und fragte dann weiter: „Butter oder Margarine?“ „Butter.“, sagte ich leise.

Während mich die anderen zwei ausgiebig musterten, ließ es sich Ilena nicht nehmen mir eine Semmel fertig zu machen und sie vor mir auf den Tisch zu legen. „Ich hoffe du magst Käse mit Preiselbeermarmelade?“, sprach sie dazu. Danach stand sie auf und holte noch etwas Kaffee aus der Küche. Unsicher starrte ich auf das Brötchen, nahm es in die Hand und biss mit etwas Überwindung hinein. Mir war äußerst unwohl dabei, da mich Oana und Marina ungeniert beobachteten. Zum Glück kam Ilena schnell zurück und setzte sich wieder zu uns. „Schmeckt’ s?“, fragte sie mit einem Lächeln. Ich musste zugeben, dass die Kombination nicht einmal schlecht war und nickte. Mir war nur leider vor Aufregung übel und ich hatte keine Ahnung was ich dagegen tun sollte.

Erstaunlicherweise halfen mir aber die anderen zwei Frauen dabei diese Anspannung abzubauen, indem sie anfingen vollkommen harmlose Fragen zu stellen. Oana wollte als erstes wissen: „Was machst du, wenn du dich nicht in seltsamen Clubs herumteibst? Arbeitest du?“ „Ja.“, konnte ich voller Stolz behaupten und redete aufgeregt weiter: „In einem Baumarkt, Möbel aufbauen, Bretter zuschneiden und so was.“ Überrascht sah mich Ilena an und bemerkte interessiert: „Wie geht das wenn du so schlecht mit anderen Menschen umgehen kannst?“ „Nachtschicht.“, erwiderte ich. Nachts gab es keinen Kundenverkehr und nur wenige Kollegen, das machte alles einfacher. „Und wo wohnst du?“, fragte Marina nun. Zwischen zwei Schlucken Kaffee antwortete ich bereitwillig: „Ferentari.“ Auf einmal waren alle still und starrten mich an. Ich wusste, dass das nicht gerade als bestes Viertel galt, aber die Sprache verschlagen sollte es einem dann doch nicht. Ich war überhaupt froh eine eigene Wohnung zu haben. Sie verstanden das.

Bisher hatte ich selten ein so ungezwungenes Gespräch geführt. Ohne es überhaupt zu bemerken, war ich ein Teil dieser kleinen Runde geworden, aß ein Brötchen, das nebenbei bemerkt das leckerste Brötchen meines bisherigen Lebens war, bildete ich mir jedenfalls ein, und unterhielt mich tatsächlich mit fremden Menschen. Ilena hatte dieses Wunder bewirkt und brachte mich dazu mich seit langem einmal wieder etwas wohler zu fühlen.

Eine Zeit lang saßen wir so zusammen, dann warf Oana einen Vorschlag in den Raum: „Wir könnten doch heute Abend ein paar Cocktails trinken gehen.“ Betreten setzte ich den Kaffeepot ab und warf Ilena einen fragenden Blick zu. War ich ebenfalls gemeint? „Von mir aus gern.“, sagte Ilena und sprach mich jetzt direkt an: „Du kannst gerne mitkommen, wenn du willst. Du musst aber nicht.“ Ich murmelte: „Ich weiß nicht recht. Willst du denn noch einen Abend mit mir verbringen?“ Sie strahlte mich an, rückte näher zu mir und legte eine Hand auf meine Schulter. „Natürlich will ich, dass du mitkommst. Aber nur wenn du es auch möchtest und du morgen nicht zeitig zur Arbeit musst.“ Ich schüttelte den Kopf und antwortete leise: „Nachtschicht. Ich arbeite immer Nachtschicht.“ „Also kommst du mit?“, fragte nun Marina und ich nickte schüchtern.

Kurz darauf verabschiedeten wir die zwei Freundinnen. Ilena schloss die Tür und schielte mich von der Seite her an, sie lächelte. „Was?“, fragte ich skeptisch und sie antwortete: „Du bist echt süß wenn du dich so genierst.“ „Wie bitte?“, sprudelte es aus mir heraus. Sie lachte und drückte mir einen Kuss auf die Wange. Dann schlenderte sie zurück ins Wohnzimmer und begann den Tisch abzuräumen. Ich folgte ihr und half ein wenig dabei.

In der Küche holte sie anschließend eine Flasche Wein aus einem Unterschrank, stellte sie auf den Tisch und sah mich dabei an. „Ich weiß, dass du ein kleines Drogenproblem hast. Wird dir das helfen den Tag zu überstehen?“ Ich schluckte und antwortete stotternd: „Drogenproblem?“ Ilena sah mich immer noch an und sagte sanft: „Razvan, ich bin Ärztin in einer Notaufnahme. Die Einstichvernarbungen in deinen Armbeugen kommen garantiert nicht vom Blutspenden.“ Ertappt sah ich zu Boden, doch sie ergriff meine Hand und sprach weiter: „Ich verurteile dich nicht dafür, da ich keine Ahnung habe wie es dazu kam. Ich will nur wissen, ob du das heute hinkriegst oder es Probleme geben könnte.“ Nachdem ich tief durchgeatmet hatte, antwortete ich leise: „Ich krieg das hin, keine Sorge.“

19

Wir räumten weiter auf und begaben uns danach zurück ins Wohnzimmer. Ilena war für meinen Geschmack etwas zu neugierig, ich konnte es ihr aber nicht verübeln. Als wir wieder auf dem Sofa saßen und es uns ein wenig gemütlich gemacht hatten, begann sie erneut mir Fragen zu stellen. „Da wir vorhin das Thema hatten, erzählst du mir wie du da hineingeraten bist? Also in die Drogen und die Selbstzerstörung, wenn ich das so nennen darf?“ Ich sah sie durchdringend an und schwieg. Beim besten Willen konnte ich ihr nicht einfach erzählen, weshalb ich so abgerutscht war. Zum einen würde die Geschichte ewig dauern und ich hatte keine Ahnung wo ich überhaupt anfangen sollte. Und zum anderen fehlte mir schlicht und ergreifend das Vertrauen. Mein Psychiater hatte schon viel Geduld aufbringen müssen um mir ein paar Details zu entlocken, da fiel es mir in dieser Umgebung noch wesentlich schwerer. Sie spürte meinen Unwillen und hakte nicht nach. Ich war ihr sehr dankbar dafür, dass sie stattdessen das Thema wechselte: „Du bist also ein richtiger Metalhead? Was sind deine Lieblingsbands?“ Mir ein Lächeln abringend antwortete ich: „Ich glaube nicht, dass du die kennst.“ „Spiel mir doch was vor.“, sagte sie dann, stand auf und holte ihren Laptop hervor. Nachdem sie ihn aufgeklappt und angeschalten hatte, suchte sie eine Musikplattform heraus und drehte den Bildschirm zu mir. Unsicher tippte ich einen Bandnamen ein und drückte auf Play. Die verzerrten Gitarrensounds und das nervenaufreibende Gekreische schien sie aber wenig zu beeindrucken. „Na ja, das ist nicht ganz so mein Fall. Hast du was Melodischeres parat?“, meinte sie dann und ließ mich ein paar weitere Bands heraussuchen.

Ich hätte ihr wohl tausende Lieder vorspielen können, mein Kopf war voll davon. Doch Gruppe Nummer fünf gefiel ihr und wir ließen die Musik im Hintergrund dudeln während wir uns weiter unterhielten. „Bist du schon auf Konzerten gewesen?“, wollte sie nun wissen und ich schüttelte den Kopf. „Du?“, erwiderte ich dann. Sie grinste und begann mir Fotos auf ihrem Laptop zu zeigen. Da waren Festivals und Live- Konzerte ganz verschiedener Art vertreten. Immer war sie umringt mit Leuten, die sie alle zu kennen und Spaß zu haben schienen. Und da ich ihr nichts weiter erzählen wollte und konnte, ließ ich sie gerne aus dem Nähkästchen über all die tollen Sachen, die sie schon bei solchen Events erlebt hatte, plaudern. Ich war neidisch und ärgerte mich wieder ein wenig über mich selbst, dass ich das nicht auf die Reihe kriegte. Aber irgendwann würde auch ich es schaffen auf solch ein Konzert oder sogar ein Festival zu gehen.

Die Stunden verflogen. Seltsamerweise fühlte ich mich wohl in Ilenas Gegenwart. Sie hatte eine beruhigende Wirkung auf mich. Sogar die Flasche Wein war mir noch nicht zum Opfer gefallen. Als jetzt aber der Abend und das Treffen mit ihren Freunden zum Cocktails- Trinken näher rückte, wurde ich zunehmend unruhiger. Ilena entging aber auch gar nichts und zuvorkommend holte sie die Flasche Wein und ein Glas für mich. Schüchtern nahm ich das Angebot an und eigentlich war mir die Sache auch unglaublich peinlich, doch es ging einfach nicht anders. Mit Alkohol konnte ich die Panikattacken besser unterdrücken und mir wurde nicht so schnell alles zu viel.

„Was hältst du davon, wenn wir vorher ein paar Entspannungsübungen machen?“, sagte sie als ich das erste Glas leer hatte. Scheinbar sah ich sie ziemlich irritiert an, was sie zum Lachen brachte und zu einer näheren Erklärung: „Ich war mal in einem Kurs für autogenes Training und Stressbewältigung. Vielleicht helfen dir ein paar Atemübungen um dich in angespannten Situationen etwas zu beruhigen. Was denkst du?“ Emanuil hatte auch schon mehrfach versucht mich zu so etwas zu überreden, mir war aber immer unwohl bei dem Gedanken gewesen mich mit fremden Leuten in einen Raum zu setzen. Schon die Selbsthilfegruppe kostete mich anfangs eine gewaltige Überwindung. Das war zwar mit der Zeit etwas besser geworden aber immer noch nicht ganz einfach für mich da hinzugehen.

Skeptisch zuckte ich mit den Schultern, was Ilena als Einverständnis interpretierte, mein Handgelenk umfasste und mich mit auf den Boden zog. Wir setzten uns gegenüber im Schneidersitz auf den Teppich. Ruhig sprach sie: „Halt den Rücken gerade, die Schultern locker und schließ deine Augen.“ Etwas verkrampft kam ich der Aufforderung nach als sie bereits ihre Augen geschlossen hatte. „Jetzt atmen wir tief ein, zählen bis fünf und dann wieder aus.“, redete sie in einem entspannten Tonfall weiter. Ich machte mit. Wir wiederholten das Ganze drei Mal bevor sie meinte: „Konzentrier dich ganz darauf, wie die Luft durch deine Nase in deine Lunge strömt. Als könntest du jedes einzelne Molekül spüren.“ Tatsächlich hatte das tiefe Atmen eine beruhigende Wirkung auf mich. Ich fühlte die Kühle der Luft wenn sie in mich strömte und die Wärme derer, die ich herauspustete. „Atme so ruhig weiter und hör jetzt dabei auf deinen Herzschlag.“, sagte Ilena leise. Das gleichmäßige Pulsieren meines Herzens wirkte sehr entspannend und beinahe bekam ich den Eindruck, dass wenn ich so darauf achtete, es immer langsamer schlug. „Fühlst du deine innere Ruhe?“, fragte sie sanft. Ich hauchte: „Ja.“ „Dann öffne jetzt deine Augen und nimm diese Ruhe mit in die Realität.“, sprach sie weiter. Vorsichtig blinzelnd öffnete ich die Lider und sah dabei in ihr lächelndes Gesicht. „Und? Ein wenig besser?“, wollte sie wissen. Tatsächlich fühlte ich mich ein wenig gelöster und der Schrecken der bevorstehenden Konfrontation mit anderen Menschen und einer fremden Umgebung war etwas abgemildert. Das konnte aber auch daran liegen, dass Ilena mich dabei begleitete. Ihre Stärke und ihr Selbstbewusstsein gaben mir eine gewisse Sicherheit. Ich bekam langsam den Eindruck ihr wirklich vertrauen zu können.

20

Wider all meine Erwartungen verlief der Abend sogar recht gut. Die Bar, die Oana herausgesucht hatte, mixte besonders starke Getränke, was mir und meinem nervösen Zustand natürlich zugute kam. Ilena half mir mich in die Gruppe einzufügen und mich mutig der Herausforderung zu stellen. Ich war total überrascht welche Geduld sie dafür aufbrachte und dass sie mich tatsächlich wieder mit zu sich nach Hause nahm. Irgendwie wäre ich auch zu mir heim gekommen doch ihre Einladung noch eine Nacht bei ihr zu verbringen, konnte ich einfach nicht ausschlagen.

Angetrunken stolperten wir spät nachts in ihre Wohnung. Nachdem sie die Tür verschlossen hatte, zerrte sie mir die Jacke runter und drückte mich rücklings an die Wand. „Du hältst doch ein bisschen was aus, richtig?“, fragte sie direkt in mein Gesicht und schob ihre Hand dabei in meinen Hosenbund. Überrumpelt antwortete ich: „Ja. Mich bringt nichts so schnell um.“ Daraufhin küsste sie mich intensiv und drängte mich in ihr Schlafzimmer. Energisch schubste sie mich dort auf das Bett, warf sämtliches Bettzeug herunter, riss mir regelrecht die Klamotten vom Leib und legte mich wieder in Ketten. Anscheinend stand sie auf diese Machtspielchen und da ich das geborene Opfer war, wehrte ich mich nicht gegen ihren Übergriff. Im Gegenteil, der Gedanke an den süßen Schmerz, der mich wohl bald erwartete, erregte mich zunehmend.

Jetzt zog sie sich aus und setzte sich auf meinen Bauch. „Ich hab etwas ganz irres mit dir vor, das habe ich mich bisher bei keinem Kerl getraut.“, sagte sie in meine Augen starrend. Dieser eine Satz trieb meinen Puls in schwindelnde Höhen. Mit einer Hand kratze sie über meine Brust während sie mit der anderen meine anschwellende Lust knetete. Zwischen ihren Schenkeln wurde es warm und feucht. Was hatte sie im Sinn? Was hatte sie sich bisher nicht getraut? „Bist du bereit?“, fragte sie dann mit zitternder Stimme. „Wofür?“, erwiderte ich ebenso nervös. Ilena lächelte mich aber nur an, stieg von mir herunter und ging für ein paar Sekunden aus dem Zimmer.

Als sie wieder kam, hielt sie eine Verpackung in der Hand. Dank der Kombination aus schummrigen Licht und dem Fusel, der noch immer meinen Kopf vernebelte, konnte ich nicht erkennen worum es sich handelte, dennoch überkam mich ein ungutes Gefühl bei der Sache. Sie legte die Verpackung auf meinen Bauch, drückte Desinfektionsmittel aus einer Tube in ihre Hand und verrieb es gründlich. Noch immer versuchte ich herauszufinden was sie vor hatte, konnte mir aber bislang keinen Reim darauf machen.

Ich beobachtete sie angespannt auch als sie nun die Verpackung aufriss und ein metallisch glänzender, wenige Millimeter dicker Stab zum Vorschein kam. Fies grinsend hielt sie mir das lange nadelförmige Ding vor die Nase. Ich schluckte nervös. Dann griff sie ungeniert nach meinem Penis und begann ihn wieder zu kneten bis er sich ihr hart entgegen reckte.

Extrem erregt, nicht unbedingt im positiven Sinne, erwartete ich Ilenas nächste Aktion. Sie zwinkerte mir noch einmal zu, meine Lippen zitterten vor Aufregung, dann schien sie auf einmal vollkommen konzentriert zu sein, benetzte den Stab mit etwas Gleitgel und setzte ihn auf die Spitze meiner empfindlich geschwollenen Eichel. Ein beunruhigtes Seufzen drang aus meiner Kehle als sie nun leichten Druck ausübte und mir das einige Zentimeter lange Stäbchen langsam in die Harnröhre schob.

Ich biss die Zähne zusammen und begann am gesamten Körper zu beben. Ich konnte das Gefühl einfach nicht einordnen, es befand sich irgendwo am Rande zum Schmerz, war aber auszuhalten und ich schlingerte verwirrt zwischen Ekel und Geilheit herum. Wie betitelte man etwas, das man als unangenehm und gleichzeitig irgendwie erregend empfand?

Als der Stab nur noch ein kleines Stückchen aus mir heraus schaute, hielt Ilena inne. Ich hatte unbemerkt die Luft angehalten und atmete jetzt tief durch als sie mit der Hand über meine Brust streichelte. Dann schwang sie sich wieder auf meinen Bauch, ihre wohlgeformten Brüste schimmerten matt im getönten Licht der roten Nachttischlampen. Sie küsste mich, rückte dann weiter nach oben und drückte mir ihre heiße, feuchte Muschi auf den Mund. Während ich daraufhin anfing sie zu lecken und mit meiner Zunge ausgiebig zu erforschen, begann sie an mir zu spielen. Es war einfach nur grausam.

Ihre Hand zwang mich zu vollster Erregung, ihr Tau, den ich begierig aufsaugte, tropfte schon fast in meinen Mund. Mein Puls raste. Ich konzentrierte mich nur noch auf dieses scheußlich- schöne Gefühl, das sie in mir auslöste, das Ziehen in meinem Unterleib, den Druck.

Als ich dann endlich irgendwann kam, schrie ich vor Schmerz und schnell drückte sie sich fester auf mich. Es strömte wie lähmendes Feuer durch meine Adern und ich befürchtete ohnmächtig zu werden. Bebend, zitternd, gepeinigt atmete ich die Wärme zwischen ihren Schenkeln. „Mach weiter.“, forderte sie. Mit vernebelten Sinnen ließ ich erneut meine Zunge arbeiten, schmeckte sie, spielte mit ihr.

Stöhnend vor Lust genoss sie jede Berührung, zog plötzlich und ohne Vorwarnung den Stab aus mir heraus, was einen weiteren schmerzerfüllten Schrei meinerseits verursachte, und drückte sich wieder fester auf meinen Mund. Sie kam im gleichen Moment und es ergoss sich dazu ein lauwarmer Schwall über mein Gesicht und in meine Kehle. Würgend und röchelnd wand ich mich mit zusammengekniffenen Augen unter ihr. Für einen Moment war ich vollkommen überfordert, wusste nicht mehr wo mir der Kopf stand und befürchtete unter ihr zu ersticken.

Geschafft rutschte sie glücklicherweise ein paar endlose Sekunden später wieder zurück auf meinen Bauch und ließ mir etwas Raum zum atmen. Panisch sog ich Luft in meine Lunge, jeder Zentimeter meiner Haut schien zu schmerzen, ich ekelte mich vor mir selbst und es brannte fürchterlich in meinem Unterleib und in meinen Augen. Was hatte sie nur getan? Was sollte ich davon halten?

Keinen klaren Gedanken fassen könnend, spürte ich wie sie behutsam mein Gesicht abtrocknete. Endlich traute ich mich sie anzusehen. Mit gerötetem Blick erfasste ich ihr sanftes und entschuldigendes Lächeln und auf einmal erschien mir alles nicht mehr so schlimm. „Tut mir leid. Das war keine Absicht.“, sagte sie leise. Ich hatte das dringende Bedürfnis nach einer Dusche.

Als könne sie Gedanken lesen, schlug Ilena vor: „Pass auf. Ich mach dich jetzt los, dann gehst du schön warm duschen und ich kümmere mich um ein Gläschen Wein, frische Laken und dass wir es uns noch ein wenig gemütlich machen können.“ Noch immer geschockt nickte ich zustimmend.

Sie löste behutsam die Handschellen, glitt von mir herunter und half mir beim Aufstehen. Mir war schwindlig und übel. Torkelnd schlurfte ich daraufhin ins Bad, stieg in die Wanne, setzte mich und drehte das Wasser auf. Erst nach ein paar Minuten wurde ich langsam wieder klar im Kopf. Hatte sie das wirklich gerade mit mir getan? Angeekelt spuckte ich vor mich in die Wanne, spülte dann hastig meinen Mund mit heißem Wasser aus und trank auch ein paar Schlucke davon.

Einige weitere Minuten später klopfte es leise an die Tür. „Alles klar da drin?“, hörte ich Ilena sagen und würgte ein gezwungenes „Ja.“ hervor. So etwas hatte ich echt noch nie erlebt und war mir gerade auch nicht sicher ob ich das noch einmal erleben mochte.

Als ich mich ein wenig gesammelt hatte, stellte ich das Wasser ab und stieg aus der Wanne. Im Spiegel über dem Waschbecken sah ich dann in meine geröteten Augen und musste plötzlich grinsen. Diese Frau war einfach einzigartig, widerlich und reizvoll zugleich. Anscheinend hatte ich den ersten Schock überwunden, doch mein nächster sollte gleich folgen.

Nichtsahnend begab ich mich zur Toilette und als die ersten Tropfen ins Becken fielen, wäre ich beinahe vor Pein zusammengebrochen. Als hätte mir jemand eine glühende Klinge in die Weichteile gerammt, ging ich für einen Moment in die Knie. Ilena hörte scheinbar den dumpfen Schlag, als ich auf dem Boden aufsetzte und klopfte noch einmal an die Tür. Ich schimpfte verbissen: „Scheiße! Was soll das?“ Beruhigend redete sie vom Flur aus auf mich ein: „Keine Sorge, das wird wieder besser. Atme. Bleib locker und lass es einfach laufen.“ Mühsam richtete ich mich wieder auf und befolgte unter Tränen ihren Rat auch wenn mir dabei fast schwarz vor Augen wurde.

Vollkommen am Ende stolperte ich nach diesem neuerlichen Schock in den Flur. Ich konnte mich kaum auf den Beinen halten. Ilena fing mich ab, stütze mich und lotste mich ins Schlafzimmer wo ich erschöpft und erschlagen auf die frisch bezogene Matratze fiel. Sie schob mir ein Kissen unter den Kopf, zog behutsam eine Decke über mich, streichelte mir das Haar aus dem Gesicht und küsste mich auf die Wange. Schon ging es mir wieder besser.

Nachdem sie kurz das Zimmer verlassen hatte, schlüpfte sie ebenfalls unter die Decke und kuschelte sich warm und wohlig an mich. Ein Gefühl der Geborgenheit machte sich in meiner Magengegend breit. Die Welt schien auf einmal wieder in Ordnung zu sein. Sie legte ihren Arm um mich und gemeinsam schliefen wir ein.

21

Der nächste Morgen holte mich jedoch zurück in die Realität. Ein Wecker klingelte und riss mich aus meinem komaähnlichen Schlaf. Benommen registrierte ich wie Ilena den Alarm abstellte und mir dann über die Wange streichelte. „Wir müssen aufstehen.“, sagte sie leise. Ich brummte: „Muss das sein? Wie spät ist es?“ „Es ist um acht. Wir trinken jetzt noch gemütlich einen Kaffee, dann bring ich dich zum Bus.“, erklärte sie freundlich und küsste mich auf die Stirn. Das Wörtchen Bus löste einen sofortigen Adrenalinschub in mir aus. Sie hatte recht, ich musste heute zurückfahren und auf Arbeit gehen. Erschrocken setzte ich mich hastig auf, sie schaute mich irritiert an. „Alles in Ordnung?“, fragte sie dann und drückte meine Hand. Ich stotterte: „Ja, wird schon, der Gedanke ans Busfahren hat mich nur gerade etwas aufgeregt.“ Sie lächelte und sagte: „Keine Angst, ich begleite dich zur Haltestelle. Alles wird gut.“ Nachdem sie mir noch einmal über den Arm gestreichelt hatte, stand sie auf, legte einen Bademantel um und ging in die Küche. Ich folgte ihrem Beispiel.

Als wir dann gemeinsam am Küchentisch saßen und uns einen Kaffee gönnten, schaute sie mich auf einmal durchdringend an und wollte wissen: „Wie wollen wir eigentlich verbleiben? Sehen wir uns wieder?“ „Dein Ernst?“, rutschte es mir heraus, woraufhin sie anfing zu lachen. „Ja, mein voller Ernst! Auch wenn es total verrückt klingt.“, antwortete sie schließlich. „Von mir aus gern.“, sagte ich daraufhin leise und Ilena machte einen Vorschlag: „Nachdem wir diese Woche beide unterschiedliche Schichten arbeiten, denke ich, wir sollten uns nächstes Wochenende wiedersehen. Wir können ja Nummern austauschen und immer mal telefonieren, wenn du möchtest. Da überlegen wir uns, was wir machen.“ Ich nickte freudig, versuchte meine Begeisterung aber ein wenig zu bremsen, damit ich nicht ganz so bedürftig herüber kam.

Nachdem wir nun den Kaffee ausgetrunken hatten, begleitete mich Ilena zur nächsten Haltestelle. Mein Herz raste schon als ich von Weitem die anderen Menschen sah. Ich war vollkommen nüchtern und wusste auch keine Möglichkeit die Panik in diesem Moment zu betäuben. Ilena bemerkte meine Angst als ich ihre Hand immer fester zusammendrückte bis ich ihr weh tat und sie sich aus meinem Griff befreien musste. Gebannt starrte ich auf die Leute, die auf der anderen Straßenseite auf den Bus warteten. Ich bemerkte nicht wie Ilena mich aufmerksam musterte. Mein Mund fühlte sich trocken an und alles in mir wehrte sich dagegen noch einen Schritt weiter zu gehen.

Dann kniff sie mir plötzlich in den Arm. Erschrocken fuhr ich herum. Schnell legte Ilena ihre Hände auf meine Schultern, blickte mir tief in die Augen und redete auf mich ein: „Erinnere dich an das Entspannungstraining. Atme ruhig ein und aus, zähle bis zehn. Du schaffst das.“ Ich versuchte verzweifelt meine Angst in den Griff zu kriegen, doch so leicht funktionierte das heute nicht. Ich wusste, dass sie nicht mitkommen würde und ich diese Fahrt alleine durchstehen musste. Es war vollkommen widersinnig. Immerhin war ich auch alleine her gekommen und nichts war passiert. Mir fehlte der Schnaps. Ich zitterte.

Ihre sanfte Stimme drang nur mühsam zu mir hindurch. „Beruhige dich. Es wird nichts geschehen. Du brauchst keinen Alkohol um solche Situationen zu meistern. Du bist stark genug es auch ohne Betäubung zu schaffen.“, sprach sie weiter. Ihre Worte klangen dumpf und hohl in meinen Ohren. Ich wollte es ja, ich konnte es nur nicht.

Mit sichtlichem Widerwillen griff Ilena nun in ihre Handtasche. Sie holte tatsächlich eine kleine Schnapsflasche hervor, die sie wohl in weiser Voraussicht von daheim mitgebracht hatte. „Ich hatte gehofft, wir könnten auf das hier verzichten.“, sagte sie leise und beinahe vorwurfsvoll als sie mir die Flasche präsentierte. „Du hast das eigentlich nicht nötig und ich kann es auch wirklich nicht gut heißen, dass du dir und deinem Körper das weiterhin antust. Es ist schon erstaunlich dass du überhaupt noch irgendwie funktionierst. Aber irgendwann wirst du daran zugrunde gehen. Verstehst du mich?“ Sie hatte so recht und dennoch fokussierte sich in diesem Moment meine gesamte Aufmerksamkeit auf den Schnaps.

Ihre Bemühungen wurden von meiner Sucht übertüncht und ihre lieben Worte prallten einfach ab. Jede Zelle meines Körpers sehnte sich inzwischen nach der süßen Vernebelung meiner Sinne. „Ich geb dir die Flasche, wenn du mir versprichst, dass das der einzige Alkohol sein wird, den du heute zu dir nimmst. Einverstanden?“, schlug Ilena jetzt vor und streckte mir den Schnaps entgegen. Für einen Moment musste ich zögern, denn gerade hätte ich wohl auch meine Seele an den Teufel verkauft nur um an das Gesöff zu kommen. Wenn ich ihr dieses Versprechen gab, befürchtete ich, dass ich es spätestens vor meiner Schicht brechen würde. Wie sollte ich mir das schön reden? In dem Wissen, dass ich es nicht einhalten würde, nickte ich dennoch betreten und murmelte: „Versprochen.“ Ich dachte, sie ahnte es. Trotzdem gab sie mir nun mit einem sanften Lächeln auf den Lippen die Flasche und nahm mich anschließend in den Arm. Ihr Abschiedskuss war warm und innig.

„Telefonieren wir später?“, fragte sie leise als sie danach einen Schritt zurück trat. „Gerne.“, antwortete ich ein wenig niedergeschlagen. Dann drückte sie mir einen weiteren Kuss auf und schritt anschließend langsam davon. Ein paar Sekunden lang sah ich ihr nach. Sie drehte sich noch zweimal zu mir um, winkte und verschwand um die nächste Ecke. Fasziniert und gleichzeitig irritiert sah ich noch in die Richtung obwohl sie schon längst nicht mehr sichtbar war. Dann kam der Bus.

Aufgeschreckt und irgendwie beflügelt stürmte ich auf die andere Straßenseite und in das Gefährt hinein. Drinnen schmiss ich mich dann auf einen Sitz, öffnete hastig die Flasche und trank einen großen Schluck. Ein warmes Gefühl machte sich in mir breit. Die Blicke der älteren Dame, die mich fassungslos anstarrte weil ich um zehn Uhr morgens völlig unverhohlen in der Öffentlichkeit starken Alkohol trank, trübten jedoch diese Wärme. Ich versuchte sie und die aufsteigende Scham zu ignorieren, genehmigte mir noch einen Schluck und sah aus dem Fenster.

Die unruhige Stadt zog an mir vorbei, mit all ihrer Ignoranz. Zu gern hätte ich dazu gehört und trotzdem widerte sie mich an. Wenn ich all diese Menschen sah, die so selbstsicher ihren Alltag bestritten, fühlte ich mich wieder wie Dreck.

Von der anderthalb-stündigen Reise geschafft, stolperte ich in meine Wohnung, krachte die Tür hinter mir zu und drehte den Schlüssel herum. Anschließend ließ ich mich aufs Sofa fallen und ergab mich dem Moment des Selbsthasses. Ich war ein Niemand und keinen würde es interessieren, wenn ich auf einmal nicht mehr da wäre.

In diesem Augenblick erschien Ilenas Lächeln vor meinem inneren Auge. Sie würde es wahrscheinlich interessieren. Mit dem Gedanken strömte auf einmal eine gewisse Ruhe durch mich hindurch und mit einem sich langsam steigernden wohligen Gefühl ließ ich das vergangene Wochenende Revue passieren.

Nach dem extrem unangenehmen Auftakt hatten sich die letzten zwei Tage zu einem wahnsinnig aufregenden und intensiven Erlebnis entwickelt. Ein Funken Glück schoss durch mein Herz. Genussvoll lehnte ich mich daraufhin zurück und hielt diese Eindrücke fest.

22

Eine ganze Weile lang hatte ich einfach nur so auf dem Sofa gelegen bis unerwartet mein Telefon klingelte. Abwesend griff ich danach und sah aufs Display. Es war Emanuils Nummer. Nur widerwillig nahm ich den Anruf an. „Hey Razvan, wie geht’s?“, hörte ich ihn freundlich sagen. Ich antwortete zurückhaltend: „Ja, geht schon. Was gibt es denn?“ „Ich würde dann gerne mal kurz vorbei kommen und etwas mit dir besprechen. Bist du daheim?“, erklärte er kurz. „Wo soll ich sonst sein?“, erwiderte ich irritiert. „Gut, bis in einer halben Stunde.“, legte er fest und anschließend auf.

Leicht beunruhigt ließ ich meinen Blick durch die Wohnung gleiten. Emanuil war schon lange nicht mehr hier gewesen und so schnell würde ich den Saustall auch nicht in Ordnung bringen können. Also sprang ich auf und versuchte es mit Schadensbegrenzung.

Eilig sammelte ich alle Sachen ein, die achtlos auf dem Boden herum lagen und stopfte sie in einen Schrank. Dabei fielen mir auf einmal die Male an meinen Handgelenken auf, die die Handschellen hinterlassen hatten. Die durfte Emanuil keinesfalls zu Gesicht bekommen. Hastig stürmte ich deshalb ins Schlafzimmer und durchwühlte meinen Kleiderschrank nach den Armbändern, die ich mal irgendwann besessen hatte. Zum Glück fand ich sie auch und sie verdeckten genau die schlimmsten Stellen.

Dann ging ich noch fix mit dem Staubsauger durch. Es klingelte als ich das Ding gerade ins Schlafzimmer zurück schob, schloss schnell die Tür und ließ Dr. Pocovnic zur Haustür rein.

Als er in meinem Flur stand, wurde mir noch unwohler. Scheinbar hatte er etwas sehr Wichtiges mit mir zu besprechen, sonst wäre er hier nicht aufgekreuzt. Wir gingen ins Wohnzimmer, aufmerksam sah er sich dabei um. Ein paar leere Schnapsflaschen standen auf dem Regal, die er misstrauisch beäugte aber kein Wort dazu sagte.

Wir setzten uns auf die Couch und er begann sein Anliegen vorzutragen: „Also, Razvan. Ich habe lange darüber nachgedacht und es fällt mir auch nicht leicht dir das jetzt zu sagen.“ Kurze Pause. „Der Zwischenfall mit Silviana hat mir gezeigt, dass ich die letzten Jahre wohl zu lasch mit dir umgegangen bin. Du machst zwar geringfügig Fortschritte, ich sehe aber keine Ambitionen bei dir, mehr dafür zu tun. Deshalb muss ich dich ab sofort dazu zwingen.“ Völlig überrumpelt rutschte ich ans andere Ende des Sofas und starrte ihn fassungslos an. So ernst und streng hatte ich Emanuil bisher noch nie erlebt.

Er sah mir in die Augen und offenbarte seinen Plan: „Ich muss dich dazu zwingen deine Komfortzone öfters zu verlassen und an einem geregelten, normalen Tagesablauf zu arbeiten. Wie sieht dein durchschnittlicher Tag momentan aus?“ Stammelnd antwortete ich: „Ich geh arbeiten, komm nach Hause, schlafe und geh wieder arbeiten.“ „Ich denke, du lässt dabei aus, dass du dir nach der Arbeit so lange Schnaps in die Kehle schüttest bis du einschlafen kannst. Und dann trinkst du vor der Arbeit, damit du es überhaupt schaffst aus dem Haus zu gehen. Lieg ich da richtig?“, provozierte er mich. Ertappt sah ich zu Boden.

Emanuil atmete hörbar durch und führte weiter aus: „Genau diesen Kreis müssen wir durchbrechen. Ich habe also eine Aufgabe für dich.“ Er öffnete daraufhin die Tasche, die er bei sich trug und holte einen Schreibblock hervor, den er mir anschließend entgegen streckte. Vorsichtig, als könne das Papier mich beißen, nahm ich den Block und las was darauf geschrieben stand. Es waren Rezepte. Irritiert sah ich ihn an und Emanuil erklärte: „Das sind ganz einfache Rezepte, von denen du jeden Tag eines ausprobieren sollst. Das hat folgenden Hintergrund. Du wirst täglich in den Supermarkt gehen müssen um die Zutaten zu holen und du wirst deine Ernährungssituation umstellen, sprich regelmäßige Mahlzeiten einnehmen, die du selbst zubereitest. Dadurch lernst und übst du diese ganz alltäglichen Vorgänge, die dir zunehmend eine Routine geben werden. Und diese Routine wird dir helfen besser im Alltag klar zu kommen.“ Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter und fragte leise: „Und wenn ich das nicht kann?“ Emanuil klang schon fast sauer als er sagte: „Oh, und ob du das kannst. Du musst es nur auch wollen.“

Ich wagte es nicht zu widersprechen. Daraufhin holte er noch etwas aus seiner Tasche hervor und legte es vor mir auf den Couchtisch. „Das ist eine kleine Kamera, mit der man auch Videos aufzeichnen kann. Ich möchte, dass du deine neue tägliche Routine dokumentierst und mir jeden Abend, bevor du zur Arbeit gehst, das Video schickst. Auch wenn das jetzt nach totaler Überwachung klingt, denke ich dass du diese Kontrolle brauchst, weil du dich sonst nicht an die Regeln hältst und spätestens morgen wieder alles schleifen lässt.“ Jetzt war ich nicht nur fassungslos sondern regelrecht schockiert. Aufgebracht sagte ich laut: „Das kannst du nicht von mir verlangen!“ „Im Rahmen meiner therapeutischen Maßnahmen ist das durchaus eine Sache, die ich verlangen kann. Du führst ab sofort eine Art Videotagebuch, damit wir herausfinden wie wir deinen Alltag verbessern können. Und gleichzeitig kontrolliere ich so die Umsetzung der Maßnahmen, die wir ergreifen. Damit musst du jetzt klar kommen.“, erwiderte er beharrlich. „Und wenn ich mich weigere?“, warf ich ihm mit einem scharfen Ton an den Kopf.

Ruhig und sehr ernst beantwortete Emanuil auch diese Frage: „Dann zwingst du mich dazu härtere Maßnahmen zu ergreifen.“ Er zog ein offiziell aussehendes Schreiben aus seiner Tasche und hielt es mir hin. Mit zitternden Händen nahm ich es entgegen und las: „Aufgrund der wiederholten Widersetzung gegen therapeutische Maßnahmen, Missachtung festgelegter Regeln und mangelndem Willen zur Verbesserung seiner Lebenssituation, schätze ich Razvan Alsani als unter diesen Umständen nicht therapierbar ein. Ich empfehle daher die Verlegung in die kontrollierte Umgebung einer Klinik und die Durchführung einer stationären Behandlung.“ Mir schossen die Tränen in die Augen und ich konnte nicht weiterlesen. Ich sprang auf, warf Pocovnic den Zettel hin und schrie ihn vorwurfsvoll an: „Wenn ich nicht mitspiele, lässt du mich einweisen?“ „Ich sehe keine andere Möglichkeit mehr.“, antwortete er gefasst.

Heulend und am ganzen Körper bebend sank ich zurück auf die Couch und winselte: „Warum tust du mir das an?“ Emanuil legte eine Hand auf meine Schulter und erklärte beschwichtigend: „Noch habe ich gar nichts getan. Razvan, wir eiern hier seit zwei Jahren mit kaum erkennbaren Fortschritten herum. Wenn du jetzt nicht das Ruder in die Hand nimmst, kann ich dir nicht mehr helfen. Du lässt mir keine andere Wahl. Ich muss jetzt einfach anfangen mehr Druck auszuüben damit du endlich die Initiative ergreifst und anfängst etwas ändern zu wollen.“

Ich schniefte, schluckte die Tränen hinunter und griff erneut nach dem Block. Im Grunde hatte er recht, ich musste mehr tun. Nur dass er es mit diesen radikalen Mitteln durchzusetzen versuchte, warf mich völlig aus der Bahn. „Okay.“, sagte ich leise, woraufhin er mir auf den Rücken klopfte, das Schreiben wieder einpackte und aufstand. „Ich wusste, dass dich das anspornen wird.“

Auf dem Weg zur Tür drehte er sich noch einmal zu mir um und sprach: „Ich empfehle dir mit dem einfachsten Rezept anzufangen, Nudeln kochen kann wirklich jeder. Und ich gebe dir noch zwei Strikes. Beim Dritten geht das Schreiben an die Klinik und eine Vollmacht dich zu holen, notfalls auch mit Polizei. Immerhin neigst du zur Selbstverletzung und ich will nicht, dass du dir etwas antust. Alles klar?“ „Strikes bedeutet was?“, fragte ich mit verschleiertem Blick. „Du darfst noch zwei Mal Scheiße bauen, ohne dass ich gleich zu dieser Maßnahme greife. Beim dritten Mal jedoch ist der Spaß endgültig vorbei.“, erklärte er kühl und ging danach einfach raus.

Völlig fertig blieb ich zurück. War das jetzt mein Weckruf gewesen? Musste es wirklich erst so weit kommen, dass ich mich ändern wollte? Musste Emanuil tatsächlich drohen damit ich endlich etwas tat? Scheinbar schon. Ich hatte nicht geahnt, dass er mittlerweile dermaßen die Schnauze voll hatte, dass ich ihn so zur Verzweiflung brachte. Die Sache mit Silviana, obwohl er bis jetzt nicht einmal wusste was genau vorgefallen war, hatte das Fass wohl zum Überlaufen gebracht.

23

Eine Zeit lang starrte ich auf den Rezeptblock. Keine einzige Zutat hatte ich hier. Jetzt musste ich mich also überwinden und in den Supermarkt gehen. Und wie ich es verstanden hatte, durfte ich nur für jeweils ein Gericht einkaufen, damit ich jeden Tag vor dieser Herausforderung stand.

Der innere Schweinehund war ziemlich groß und fauchte und kratzte als ich mich dem Eingang des Marktes näherte. Mit feuchten Handflächen und einem unangenehmen Zucken am Auge trat ich durch die Schiebetür ein. Mich nervös umschauend schritt ich durch die Gänge auf der Suche nach den richtigen Lebensmitteln. Als ich Nudeln, Salz und eine Soße gefunden hatte, blieb ich vor dem Schnapsregal stehen. Bisher hatte ich meinen Fusel immer vom Kiosk geholt, doch hier war die Auswahl wesentlich größer und günstigere Preise gab es ebenfalls. Entschlossen griff ich nach einer Flasche.

Auf einmal stand ein Mann neben mir und sprach mich an: „Alles in Ordnung? Sie finden alles?“ Erschrocken starrte ich ihn an und stotterte: „Ja, alles gut.“ „Sie haben vor die Sachen auch zu bezahlen?“, fragte er weiter und ich nickte irritiert. Scheinbar hatte mein nervöses Auftreten seine Aufmerksamkeit erregt und machte mich irgendwie verdächtig. „Ich bin kein Ladendieb, ich fühle mich in der Öffentlichkeit nur sehr unwohl und mein Therapeut zwingt mich zum Einkaufen.“, rechtfertigte ich hastig meine befremdliche Erscheinung. Verwirrt sah er mich an und schien einen Moment lang abzuwägen ob er mir das glauben sollte. Dann lächelte er aber und entschuldigte sich: „Tut mir leid, wenn ich Ihnen Unannehmlichkeiten verursacht habe. Wir sind wegen der steigenden Diebstahlzahlen in letzter Zeit nur sehr vorsichtig geworden. Lassen Sie sich nicht weiter von mir stören und vielen Dank für Ihren Einkauf.“ Anscheinend war die Erklärung für mein Verhalten so absonderlich, dass er sie einfach glauben musste und den Verdacht gegen mich fallen ließ. Entspannt zog er von Dannen und ich ging eilig zur Kasse. Ich wollte hier nur so schnell wie möglich wieder raus.

Daheim betrachtete ich mir meinen Einkauf und obwohl ich absolut keine Lust dazu hatte, nahm ich die Kamera zur Hand, probierte kurz aus wie sie funktionierte und machte eine Aufnahme von den Zutaten. Anschließend stellte ich einen Topf mit Salzwasser auf den Herd. Um Emanuil zufrieden zu stellen musste ich die Nudeln ja wohl auch kochen und wenigstens ein paar Bissen davon essen. Die Soße kippte ich einfach in einen anderen Topf und ließ sie darin heiß werden. Zum Schluss saß ich dann mit einem fertigen Teller vor mir am Küchentisch, bediente erneut die Kamera, filmte das Essen und dann kurz mich, wie ich mir einen Löffel davon in den Mund steckte. Auf jeden Fall würde Emanuil mein genervter Gesichtsausdruck auffallen.

Eigentlich hatte ich weder Hunger noch Appetit auf diese Mahlzeit, zwang mich aber dennoch zu ein paar weiteren Happen, kümmerte mich anschließend darum, dass das Video per Email an Pocovnic ging und räumte das Geschirr letztlich in die Spüle. Lästigerweise musste ich die Töpfe und das ganze Zeug ja auch wieder reinigen.

Jetzt schon entnervt, brachte ich diese Zusatzarbeit hinter mich und gerade als ich damit fertig wurde, klingelte erneut mein Telefon. In Erwartung, dass mich Emanuil wegen des Videos anrief, ging ich patzig ran: „Was ist jetzt?“ Doch am anderen Ende war nicht Doktor Pocovnic sondern Ilena, die gleich fragte: „Hey! Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?“ Schnell entschuldigte ich mich: „Oh, Ilena! Es tut mir leid, ich dachte mein Therapeut ruft mich an.“ „Und warum bist du ihm gegenüber so unhöflich?“, wollte sie jetzt natürlich wissen. Zögernd versuchte ich es zu erklären: „Er kam heute Nachmittag zu mir und hat mich vor ein Ultimatum gestellt. Entweder ich tanze jetzt nach seiner Pfeife oder er lässt mich einweisen.“ „Wie bitte?“, rief Ilena überrascht aus und fragte gleich weiter: „Was sollst du denn machen?“ Ich ließ mich aufs Sofa fallen und redete weiter: „Ach, er will dass ich einkaufen gehe und Essen koche und solche Sachen.“

Kurzzeitig war es ganz still am anderen Ende der Leitung, dann sagte Ilena vorsichtig: „Hm, vielleicht ist das ja gar keine schlechte Idee.“ „Du bist auf seiner Seite?“, erwiderte ich säuerlich und sie erklärte: „Ja, wenn du anfängst dich mit solchen profanen Dingen zu beschäftigen und sie bewältigst, werden dir später auch schwierigere Aufgaben leichter fallen. Ich bin mir sicher, dass er dir wirklich nur helfen will.“ „Aber findest du die Drohung nicht gleich etwas überzogen?“, ereiferte ich mich. Doch auch in dieser Hinsicht konnte Ilena meinen Ärger bremsen. „Ich kenn dich ja jetzt nicht so lange, dass ich das wirklich gut beurteilen kann. Eventuell brauchst du aber den Druck.“, sagte sie freundlich.

Wir schwiegen kurz und ich ließ mir ihre Worte derweilen durch den Kopf gehen. Dann brach sie die Stille: „Verbock das bloß nicht! Ich habe dich gerade erst kennengelernt und will das gern weiter vertiefen. Wenn du das versaust, werde ich echt sauer!“ Diese Aussage zauberte tatsächlich ein Lächeln auf mein Gesicht und ich musste mich bedanken: „Du bist wirklich lieb. Das hab ich gar nicht verdient.“ „Meine Pause ist leider gleich vorbei. Du kannst mich aber gern später anrufen. Wenn du magst.“, sagte sie noch, dann verabschiedeten wir uns. Irgendwie zufrieden blieb ich auf dem Sofa sitzen und streckte mich aus. Ich hatte noch fast zwei Stunden bis ich zur Arbeit musste, die wollte ich genießen.

24

Etwa eine halbe Stunde bevor ich los musste, begann trotz aller Entspannung das Zittern. Ich hatte Ilena versprochen heute nichts mehr zu trinken und gerade jetzt war ich mir nicht mehr sicher ob ich das durchhalten würde. Nervös ging ich im Raum auf und ab und fragte mich warum? Sie konnte es doch eh nicht kontrollieren. Wenn ich aber mein Versprechen brach, würde ich nicht nur sie sondern auch mich belügen. War es mir das wert?

Wippend vor dem Küchenschrank stehend betrachtete ich meine Vorräte. Vielleicht konnte ich ja einen Kompromiss eingehen und nur eine klitzekleine Portion mitnehmen? Nur so viel damit die innere Unruhe abgemildert werden würde.

Ich redete mir ein, dass das vollkommen in Ordnung sei obwohl es sich eher ums Gegenteil handelte. Trotzdem griff ich nach der kleinsten Flasche, die ich finden konnte, stellte sie gleich wieder zurück, griff noch einmal danach, stellte sie wieder in den Schrank und schloss die Tür. Es war einfach zu viel.

Unruhig machte ich mich dann auf den Weg zur Bushaltestelle. Dabei kam ich wie immer an einem der zwei Kioske vorbei, die mein Leben bisher erträglich gemacht hatten. Stur ging ich weiter, sah die Leute an der Haltestelle und machte auf dem Absatz kehrt. Ich hatte noch ein paar Minuten um mich selbst in den Griff zu bekommen, ging zurück zum Kiosk und durchforschte das Sortiment. Meinem früheren Vorhaben entgegenkommend bestellte ich nur einen Flachmann und eine Schachtel Kippen. Das würde mich wenigstens die Busfahrt überstehen lassen.

Etwas abseits stellte ich mich danach an die Haltestelle und saugte hastig eine Zigarette ein. Zwei kleine Schlückchen aus dem Flachmann später kam schon der Bus. Eilig suchte ich mir einen Platz und igelte mich in meine Kapuzenjacke ein. Mich sollte bloß keiner ansprechen oder mir zu nahe kommen.

Auf Arbeit verlief zunächst alles wie immer, nur dass ich schon seit über einer Stunde mal dringend pinkeln musste, mich aber nicht traute aufs Klo zu gehen. Aber jetzt konnte ich es nicht mehr zurückhalten. Vorsichtig sah ich in die Kabinen, immerhin wollte ich unbedingt alleine sein, atmete dann vor der Toilette stehend tief durch und versuchte mich zu entspannen. Auch wenn der Schmerz nicht mehr so schlimm war wie heute morgen, konnte ich mir ein gequältes Stöhnen nicht verkneifen. Ich bekam nicht mit wie jemand anderes den Raum betrat und konzentrierte mich nur auf mein Geschäft und das Brennen, das bis in meine Brust ausstrahlte. Als ich endlich sowohl mit dem Pinkeln als auch mit den Nerven fertig war, atmete ich erleichtert durch. Den nächsten Toilettengang würde ich wohl auch wieder so lang wie möglich hinauszögern.

Mit rot unterlaufenen Augen und leicht schwankend trat ich anschließend aus der Kabine. Andrei wusch sich gerade die Hände, musterte mich im Spiegel und fragte als ich mich an das Waschbecken nebenan stellte: „Ist alles in Ordnung mit dir?“ Ich nickte nur und drehte das Wasser auf. Jetzt sah er mich direkt an und meinte: „Wirklich? Du siehst furchtbar aus und was du da drinnen abgezogen hast, klang auch nicht gerade gesund. Harnwegsinfekt?“ „Alles gut, ich bin nicht krank, außer im Kopf.“, sagte ich leise. Er lächelte und bohrte weiter: „Bist du dir da ganz sicher? Was hast du am Wochenende gemacht, dass es dir heute kacke geht?“ Irgendwas in mir wollte ihm unbedingt von Ilena erzählen also antwortete ich: „Ich war in einem Club und habe jemanden kennengelernt.“ „Halt, halt, halt!“, rief Andrei aus und redete dann weiter: „Du warst tatsächlich alleine in einem Club und hast auch noch eine Frau angesprochen?“ „Nicht ganz.“, sagte ich schmunzelnd und erklärte dann: „Ich wollte testen wie weit ich gehen kann und wollte eigentlich auch nicht in den Club rein, zwei Typen waren aber anderer Meinung und haben mich reingeschleift. Kurz bevor ich ausgetickt und Amok gelaufen wäre, hat mich tatsächlich eine junge Frau angesprochen und mich vor dieser persönlichen Hölle gerettet. Es stellte sich raus, dass sie Ärztin ist und mein Dilemma ziemlich schnell durchschaut hatte. Das Ende vom Lied: Wir haben das gesamte Wochenende miteinander verbracht und ich bin erst heute Mittag wieder daheim gewesen.“ Nicht dass ich angeben wollte aber ein wenig war ich deshalb schon stolz auf mich.

Fassungslos starrte Andrei mich an, schüttelte den Kopf und sprach: „Du Hund! Das gibt’s doch nicht! Gerade erst getrennt, läuft dir schon die nächste in die Arme und das auch noch unter diesen Umständen. Du hast echt Schwein!“ Nach einer kurzen Pause fügte er aber etwas weniger begeistert an: „Kann es aber sein, dass du dir bei der Kleinen was eingefangen hast, bezüglich Schmerzen beim Wasserlassen?“ Schnell schüttelte ich den Kopf und erwiderte: „Nein, das hängt eher damit zusammen, dass sie ganz schön pervers ist.“ Daraufhin löste ich die Armbänder und zeigte ihm die tiefblauen Abdrücke, die die Handschellen an meinen Gelenken hinterlassen hatten. Seinem Gesichtsausdruck konnte ich entnehmen, dass er nicht recht wusste wie er darauf reagieren sollte also sagte ich: „Ich erspar dir die Einzelheiten. Wir sollten wohl auch wieder zurück zur Arbeit gehen, sonst wundern sich die anderen womöglich noch.“

In der ersten Pause rief ich Ilena an. Sie freute sich wirklich meine Stimme zu hören und entschuldigte sich vielmals als ich ihr von dem Zwischenfall auf dem Klo erzählte. Beruhigend versicherte sie mir aber, dass dieser Zustand nicht mehr lange anhalten würde. Nachdem wir noch ein wenig geplaudert hatten, verabschiedeten wir uns für die Nacht. Gleichzeitig kam Andrei zum Personaleingang des Baumarktes raus um noch eine zu rauchen. Ich glaube er hörte noch wie ich säuselte: „Bis morgen Mittag.“ Schmunzelnd setzte er sich neben mich auf die Ladekante und meinte beiläufig: „Das klingt doch vielversprechend.“

Nachdem wir uns beide eine Zigarette angezündet hatten, brach er das Schweigen: „Mich beschäftigt das jetzt schon den ganzen Abend. Was hat die eigentlich mit dir angestellt?“ So wirklich ins Detail gehen wollte ich dabei nicht und erzählte ihm deshalb nur ein paar Auszüge: „Na ja, die steht scheinbar auf SM und Fesseln und Würgen und so nen Scheiß.“ „Und du machst da mit?“, hakte Andrei sichtlich besorgt nach. Ich nickte und erklärte: „Du weißt, dass ich mich gelegentlich selbst verletze und, auch wenn es krank klingt, irgendwie auf die Schmerzen stehe. Also ist sie ja wohl perfekt für mich, oder?“ Nachdenklich sog Andrei an seiner Kippe und antwortete leise: „Hm, du solltest es aber nicht zu weit treiben. Solche Spielchen können schnell auch gefährlich werden. Scheinbar hat sie dich ja schon ernsthaft verletzt.“ „Sie ist Ärztin. Ich gehe davon aus, dass sie weiß was sie tut. Dass auch mal was schief geht, damit kann ich leben. Wenn es mir zu viel wird, hör ich auf.“, erwiderte ich gelassener als ich eigentlich war. Zweifelnd sah mich Andrei daraufhin an und stellte fest: „Als ob du dann so einfach Nein sagen könntest. Lass dich nicht von ihr ausnutzen, hörst du?“ Er stand auf und ging wieder rein. Eigentlich hatte er ja recht, ich war schon innerhalb der letzten zwei Tage so dermaßen über meine Grenzen hinausgeschossen, dass es mir beinahe Angst machte. Ich konnte nicht erahnen wohin das mit Ilena führen und wie weit sie gehen würde. War ich neugierig und mutig genug es darauf ankommen zu lassen?

Mit diesen Gedanken im Hinterkopf ging ich zurück an die Arbeit. Die restliche Nacht verlief ruhig. Ich schaffte es tatsächlich nur mit diesem einen Flachmann aber dafür mit dem Doppelten an Zigaretten komplett durchzuhalten, sogar die Heimfahrt überstand ich dank dem kleinen Schluck, den ich mir übriggelassen hatte. Nur zum Einschlafen brauchte ich eine zusätzliche Dosis, die ich im wohltuenden, grünen Kraut eines Joints fand. Ich sollte ja nur weniger trinken, vom Kiffen war nie die Rede gewesen.

25

Nachmittag und Abend verliefen wie immer, bis auf den unangenehmen Teil des Einkaufens und Essenkochens. Wieder hatte ich ernsthafte Probleme damit in den Laden zu gehen, überwand mich dennoch irgendwie, nur um dann in der Küche zu sitzen und Gemüse klein zu schnippeln, furchtbar! Doch der Gedanke daran, dass Emanuil seine Drohung wirklich wahr machen würde, spornte mich an. Auch die Idee, dass ich mit Ilena vielleicht doch eine kompatible Person gefunden hatte, oder besser sie mich. Zum ersten Mal seit langem hatte ich wirklich das Gefühl etwas an meiner Situation ändern zu können und zu wollen, auch wenn mir das ein wenig Angst machte. Ach was sage ich, enorm viel Angst machte.

Mit weiterhin eingeschränktem Alkoholkonsum versuchte ich die Herausforderung der Busfahrt zu bewältigen und die Nacht zu überstehen. Dass ich einen gewissen Pegel auf Arbeit brauchte, war meinen Kollegen bewusst und ich ihnen unglaublich dankbar, dass sie das nicht dem Chef verrieten. Ich machte mein Zeug ja eigentlich gut, wodurch das auch nicht weiter auffiel.

Obwohl ich telefonieren im Grunde hasste, freute ich mich auf das Gespräch mit Ilena in meiner Pause. Es hatte etwas so Normales ihr eine gute Nacht zu wünschen, fast als wäre ich ein normaler Mensch.

Nur irgendwie kam mir diese Nacht unglaublich lang vor. Die Minuten schlichen regelrecht dahin und der Stapel an Arbeit wollte und wollte nicht kleiner werden. Tapfer kämpfte ich mich dennoch bis in den Morgen durch, kaufte mir einen neuen Flachmann am Kiosk, da der eine heute leider nicht gereicht hatte, und fuhr in einen Dämmerzustand fallend nach Hause.

Von Müdigkeit und dem Alkohol benommen stocherte ich nach dem Schlüsselloch.

Zunächst überhörte ich die Rufe, da keinesfalls ich gemeint sein konnte, doch die Stimme kam schnell näher und als ich mich umdrehte, stand auf einmal Ilena freudestrahlend vor mir. Vollkommen überrascht versuchte ich eilig die Schnapsflasche verschwinden zu lassen, ließ sie deshalb hinter mir in die vertrocknete Rabatte neben dem Eingangsbereich fallen. Natürlich hatte sie das bemerkt, lächelte aber nur, lief die letzten paar Schritte auf mich zu und noch ehe ich zu Ende fragen konnte: „Was machst du denn hier?“, hatte sie ihre samtweichen Lippen schon auf meine gepresst. Einen innigen Kuss später sah sie mir tief in die Augen und bemerkte: „Na? Freust du dich?“ Mir hatte es die Sprache verschlagen, also nickte ich nur. „Wollen wir nicht rein gehen?“, fragte sie dann. Aus meiner vorübergehenden Trance gerissen, machte ich mich eilig ans Werk und schloss auf. Gemeinsam schritten wir wortlos durchs Treppenhaus bis vor meine Wohnungstür.

Einen Moment lang hielt ich dort inne und murmelte: „Ich habe länger nicht aufgeräumt.“ „Das ist mir egal.“, erwiderte sie leise und drückte meine Hand. Zurückhaltend öffnete ich also die Tür, schob mich vor ihr hinein und versuchte wenigstens auf dem Weg ins Wohnzimmer ein paar Dinge zu bereinigen. Es war jedoch vergebens, aber Ilena ließ sich nichts anmerken. Stattdessen folgte sie mir einfach nach, hielt mich plötzlich am Arm fest, damit ich mich zu ihr umdrehen musste und küsste mich erneut. Wie weggewischt war auf einmal meine Müdigkeit als wir uns der Leidenschaft hingaben.

Ich hatte keine Ahnung wie lange wir uns gegenseitig verwöhnten, diese Nähe fühlte sich einfach nur verdammt gut an. Ilena kannte nicht nur die harte Masche sondern gab sich auch gern einmal der ebenso befriedigenden regulären Version hin. Momentan war sie wohl der einzige Mensch, den ich so nah an mich heran ließ, selbst Silviana hatte das nicht geschafft. Gut, sie hatte es auch nie versucht, da sie solchen Dingen ebenso hilflos gegenüber stand wie ich.

Wie ging es ihr jetzt wohl? Hatte sie diesen schrecklichen Vorfall inzwischen verkraftet? Ich mochte nicht daran denken und versuchte mich auf die Gegenwart zu konzentrieren.

Arm in Arm fanden wir uns schließlich auf dem Sofa wieder, gleichermaßen erschöpft und zufrieden. Jemanden wie Ilena hatte ich noch nie kennengelernt.

Nach ein paar Minuten Erholung fragte ich: „Deshalb bist du hergefahren?“ „Und weil ich dich vermisst habe.“, antwortete sie entspannt. Es war mir vollkommen schleierhaft, wie mich jemand vermissen konnte. „Wann bist du denn da heute Morgen los?“, wollte ich deshalb wissen. „Halb sechs oder so.“, sagte sie ruhig und meinte noch: „Mach dir keine Platte, ich habe ein paar Stunden geschlafen, mir geht es gut. Willst du jetzt nicht lieber ne Runde pennen?“ Ich war viel zu aufgewühlt um auch nur ein Auge zuzukriegen. „Wenn du magst, können wir aber auch dein tägliches Kocherlebnis auf eine frühere Stunde verlagern und gemeinsam essen, also ne Art Brunch. Einverstanden?“ „Das klingt gut.“, antwortete ich und sagte noch: „Ich habe aber nichts da, das wir kochen könnten.“ „Dann lass und gemeinsam Einkaufen gehen.“, schlug Ilena freudig vor, rollte sich von der Couch und sprang auf.

Gern hätte ich etwas von ihrer Energie abgehabt und erhob mich etwas mühselig vom Sofa.

Vollkommen nackt tänzelte sie inzwischen ins Bad. Lächelnd sah ich ihr nach.

26

Im Bad angekommen sah sich Ilena aufmerksam um. Es war nicht besonders ordentlich oder sauber aber das hatte sie auch nicht erwartet. Nach einer erfrischenden Katzenwäsche, zog auf einmal Razvans Spiegelschrank über dem Waschbecken ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sollte sie wirklich hinein sehen? Kurz zweifelte sie noch an sich, öffnete dann aber von der Neugier übermannt vorsichtig eine Tür und riskierte einen Blick hinein.

Nachdem sie die erste Packung in den Fingern hielt und darauf Trimipramin las, schlug ihre Neugier jedoch in Fassungslosigkeit um. Schnell öffnete sie auch noch die anderen zwei Türen und stöberte durch das umfangreiche Sortiment an verschreibungspflichtigen Medikamenten, die sich munter in Razvans Badezimmerschrank tummelten. Ein Präparat zur Abmilderung seiner offensichtlich anliegenden Depressionsneigung hätte sie ja noch verstanden, aber wozu brauchte er auch noch Wirkstoffe wie Lithium und Diazepam? Sie mochte sich gar nicht ausmalen welch fatalen Medikamentencocktail er mit dem Inhalt diese Schränkchens zusammenbrauen konnte.

Doch den größten Schock erlebte sie als sie auf einmal die Adrenalinspritze in der Hand hielt, die er garantiert von keinem Arzt bekommen, sondern eher im Krankenhaus geklaut oder von einem Dealer gekauft hatte. Die Vernarbungen in seinen Armbeugen wiesen zwar deutlich auf einen früheren Drogenmissbrauch hin, das schien aber kein aktuelles Problem zu sein. Also, wozu hatte er dann noch diese Spritze? Hob er sie für den Notfall auf, wenn er sich doch einmal eine zu hohe Dosis aus dem Überangebot an Beruhigungsmitteln gegönnt hatte?

Etwas verstört legte Ilena eilig alle Packungen zurück in den Schrank und machte ihn zu. Nachdenklich ging sie dann zurück ins Wohnzimmer, wo Razvan am Couchtisch hockte und sich tatsächlich einen Joint baute. Die Überraschungen hielten heute wohl nicht so schnell auf.

27

Mir war weder nach Einkaufen noch nach Essen zumute aber Ilena zuliebe raffte ich mich auf und beschloss mir eine

kleine Stimmungsaufhellung zu genehmigen. Für sie wollte ich gut drauf sein. Aber als sie aus dem Bad kam und mich auf einmal so vorwurfsvoll ansah wie ich mir gerade diesen Joint baute, verging es mir gleich wieder ein bisschen. „Ist das dein Ernst?“, fragte sie gerade heraus. Stotternd erwiderte ich: „Na, wenn wir gleich raus gehen, will ich nicht ganz so viel Panik schieben. Das hilft mir dabei.“ Hörbar atmete sie durch, ich sah auf den Tisch, sie kam näher und setzte sich neben mich. „Flipp jetzt bitte nicht aus.“, sagte sie dann und nach einer kurzen Pause: „Ich hab in deinen Spiegelschrank gesehen und bin jetzt ehrlich beunruhigt. All diese starken Medikamente, warum hast du die? Woher hast du die? Wozu brauchst du eine Adrenalinspritze? Ernsthaft, das ist saugefährlich und macht mir echt Angst.“ Ich starrte weiterhin auf meine Finger und schwieg, auch als ich spürte wie sie mich direkt von der Seite her ansah. „Weiß dein Therapeut von dem ganzen Kram? Ich glaube nicht, dass der dir das alles verschrieben hat.“, bohrte sie weiter. Ich schüttelte den Kopf und fühlte mich wie ein kleiner Junge, der beim Süßigkeiten Stehlen erwischt worden war. Nun legte Ilena eine Hand auf meine Schulter und flehte mich regelrecht an: „Bitte Razvan, schmeiß das ganze Zeug weg. Solange diese Präparate hier sind, bringst du dich nur selbst in Gefahr. Ich will mir nicht so viele Sorgen um dich machen müssen.“ Jetzt erst wagte ich es sie anzusehen und nickte stumm. Sie lächelte daraufhin, stand auf und zog sich an.

Den unfertigen Joint auf dem Tisch liegen lassend folgte ich ihrem Beispiel. Also musste ich dieses Einkaufsszenario wohl doch nüchtern überstehen. Schon in diesem Moment war es mir unglaublich peinlich mich so verletzlich und panisch vor ihr zu zeigen, doch ich hatte keine andere Wahl als tapfer zu bleiben.

Ein paar Meter vor dem Eingang des Supermarkts blieb ich dann stehen. Meine Handflächen waren feucht, mein Mund trocken und mein Puls sicher jenseits von gut und böse. Unsicher starrte ich wie die letzten Tage auch auf die Tür. Entschlossen griff Ilena daraufhin nach meiner Hand und zog mich vorwärts. Sie wurde mein Halt innerhalb der folgenden für mich quälend anstrengenden Minuten.

Aufgeweckt drückte sie mir drinnen einen Tragekorb in die Hand und wuselte dann vor mir durch die Gänge. Im Gegensatz zu mir hatte sie scheinbar einen Plan. Schnell wanderten Käse, Butter, Kaffee, Orangensaft, Milch, Toast und Eier in den Korb, den ich eingeschüchtert hinter ihr her trug. Zwischendurch lächelte sie mich immer wieder an, strich über meinen Arm oder gab mir ein Küsschen auf die Wange. Ich weiß nicht recht was sie damit bezweckte aber wahrscheinlich wollte sie mich einfach nur bei Laune halten. Es gelang ihr. Ihre unglaubliche Präsenz lenkte mich beinahe vollkommen von meiner Nervosität ab.

Wieder daheim musste ich sie erst einmal in ihrem Tatendrang bremsen und zwar bevor sie die Eier in eine Schüssel schlagen konnte. „Warte, ich muss erst den Einkauf dokumentieren.“, erklärte ich mein Einschreiten, drapierte die Lebensmittel auf dem Küchentisch und machte eine Aufnahme davon. Skeptisch musterte sie mich dabei und fragte schließlich: „Ist das wirklich nötig? Glaubt dir dein Therapeut sonst nicht, dass du einkaufen warst?“ „Ich will es nicht drauf ankommen lassen.“, erwiderte ich betreten und stellte die Kamera beiseite.

Ilena war fantastisch. Innerhalb weniger Minuten hatte sie uns ein tolles Frühstück gezaubert mit Rührei und gegrilltem Käsetoast. Als ich das Essen filmte und wie ich in den Toast biss, konnte ich mir nicht vorstellen, dass Emanuil glauben würde ich hätte das zubereitet. Von Ilena war in den Aufnahmen keine Spur zu sehen. Ich wollte nicht, dass er jetzt schon etwas von ihr erfuhr, so kurz nach dem Fiasko mit Silviana, an dem ich immer noch zu kauen hatte.

Dann saßen wir beide entspannt am Küchentisch und genossen eine ausgedehnte und richtig schmackhafte Mahlzeit.

Daran hätte ich mich tatsächlich gewöhnen können. Anscheinend störte mich am Einkaufen, Kochen und Essen hauptsächlich die Tatsache, dass ich das alleine machen musste. In ihrer Gesellschaft machte das alles einfach viel mehr Spaß. Aber eventuell lag es auch nur an ihrer Persönlichkeit und mir hätte es mit niemandem sonst gefallen. Ilena war dabei mich zu verändern, drastischer als ich es mir jemals hätte vorstellen können. Und so schnell, dass es richtig unheimlich war.

Leider musste sie nach dem Essen gehen, einmal weil ich dringend noch ein paar Stunden Schlaf brauchte und zum anderen weil sie pünktlich auf Arbeit sein wollte. In fester Umarmung standen wir im Flur meiner Wohnung als sie sprach: „Wir sehen uns dann Samstag?“ „Ja.“, erwiderte ich nur. „Ich habe auch schon eine Idee was wir unternehmen.“, erzählte sie beiläufig. Ich wurde hellhörig und fragte: „Ach ja? Was denn?“ Ilena drückte mir einen Kuss auf, löste ich aus meiner Umarmung und antwortete hintergründig: „Das verrate ich noch nicht. Du wirst aber einen Rucksack brauchen, warme Klamotten zum Wechseln und eine Zahnbürste.“ Skeptisch zog ich die Augenbrauen zusammen und hinterfragte: „Willst du mit mir wegfahren?“ Sie nickte und grinste schelmisch. „Mehr verrate ich jetzt aber nicht.“, sagte sie dann, öffnete die Wohnungstür, warf mir noch einen Handkuss zu und verschwand die Treppe hinunter aus meinem Blickfeld.

Irritiert und etwas nervös starrte ich ihr nach. Was hatte sie wohl mit mir vor?

28

Voller Spannung wartete ich auf den kommenden Samstag, die reinste Folter. Schon seit Jahren war sie die erste Person, auf deren Begleitung ich mich tatsächlich freute. Mit meinem gepackten Rucksack und einem Beutel voll Medizin, so nannte ich manchmal die überlebensnotwendige Dosis an Alkohol und anderen Betäubungsmitteln, die mich immer begleiteten wenn ich mich auf unbekanntes Terrain begab, stand ich vor der Haustür und wartete auf Ilenas Ankunft.

Ich konnte ihr Auto hören bevor es um die Ecke bog. Die Musiklautstärke in diesem kleinen Gefährt musste mörderisch sein. Die Scheiben vibrierten als sie den Wagen vor mir stoppte. Nachdem sie die Musik ein wenig leiser gedreht hatte, öffnete sie das Fenster auf der Beifahrerseite und rief mir zu: „Was ist? Willst du Wurzeln schlagen oder einsteigen? Schmeiß dein Zeug auf den Rücksitz!“ Schüchtern kam ich der Aufforderung nach, packte Rucksack und Beutel hinter den Beifahrersitz und nahm anschließend auf selbigem Platz. Ilena grinste mich an als ich sie skeptisch musterte, griff nach meinem Shirtkragen und zog mich an sich heran um mir einen ausgiebigen Kuss aufzudrücken. Sie wirkte irgendwie immer so fröhlich. Das irritierte mich, da ich das nie vorher erlebt hatte.

Sie drehte die Musik noch etwas leiser und wir fuhren los. Schweigend beobachtete ich die Häuser und Menschen, die an mir vorbei zogen. Und endlich durchbrach sie die Stille: „Willst du denn nicht wissen, wo wir hin fahren?“ „Na klar will ich das!“, platzte es aus mir heraus. Sie lachte, boxte mir in den Arm, meinte fröhlich: „Dann frag doch einfach!“, und offenbarte mir ihren Plan: „Nicht weit südlich der Stadt gibt es ein sehr schönes Waldgebiet mit einem großen See. Dort fahren wir hin, suchen uns ein lauschiges Plätzchen und verbringen das Wochenende mit Natur pur und fernab von nerviger Technik. Was sagst du?“

Mein Adrenalinspiegel war zwar die ganze Zeit über schon hoch gewesen aber jetzt sprengte er mit einem Satz vollends den Rahmen. Aufgeregt sagte ich laut: „Ich war noch nie campen!“ „Echt nicht? Nicht einmal als du klein warst?“, antwortete sie überrascht. „Nein.“, erwiderte ich leise und eine seltsam gedrückte Stimmung machte sich plötzlich breit.

Kurz musterte sie mich, stellte aber keine weiteren Fragen, machte die Musik wieder etwas lauter und schweigend fuhren wir weiter.

Als sie dann in einen einsamen Waldweg einbog, wusste ich dass wir beinahe angekommen waren. „Dürfen wir hier sein?“, fragte ich ernsthaft interessiert, da ich mir nicht vorstellen konnte, dass wir einfach in den Wald fahren durften. Doch Ilena sagte nur: „Wo kein Richter, da kein Henker!“ und fuhr langsam auf holpriger Piste weiter.

Mitten im Nirgendwo hielten wir an. Ilena hatte das Auto an den Rand des Weges manövriert und stellte es genau zwischen zwei Büschen ab. Dann stoppte sie den Motor und schaute mich an. „Ich denke, hier ist ein schönes Plätzchen.“ Ich blickte aus dem Fenster und wusste nicht recht was sie meinte. Für mich sah hier alles gleich aus, Bäume, Büsche, Laub und Moos auf dem Boden. Was auch immer.

Wir stiegen aus und das erste was mir in den Sinn kam, war mir eine Zigarette anzuzünden. Ilena öffnete unterdessen den Kofferraum und forderte: „Komm! Nicht nur qualmen sondern auch machen. Ich trag bestimmt nicht alles alleine.“ Das Rauschen der Blätter im Wind erschien mir fremd als ich zum Heck des Wagens ging und ihr half ein paar Taschen auf die kleine Lichtung unweit des Weges zu tragen. Ein seltsames Gefühl machte sich in mir breit, eine irrationale Angst vor dem, was hier im Wald, fernab der Zivilisation, fernab meiner sicheren vier Wände passieren könnte. Konnte ich Ilena wirklich trauen? Scheinbar bemerkte sie, wie ich sie beobachtete und warf mir ein herzliches Lächeln zu, das ich nur gezwungen erwidern konnte. Ungelogen, ich hatte tatsächlich ein wenig Schiss.

Misstrauisch starrte ich sie regelrecht an als sie die erste Tasche öffnete, eine Plane und ein Seil heraus holte und alles sorgfältig auf dem Boden ausbreitete. Plötzlich sah sie mich an und sagte aufmunternd: „Das wird das Zelt, ein ganz einfaches Ding, hängen wir zwischen zwei Bäumen auf. Hilfst du mir dabei?“ Ich nickte, drückte meine Kippe auf dem Boden aus und fand mich dann dabei wieder wie ich eine Schlinge um den Stamm eines Baumes knüpfte, sehr verwirrend.

29

Wider all meine Erwartungen wurde die Sache aber richtig gut. Wir bauten ein kleines Zelt als Unterschlupf auf, sehr gemütlich muss ich zugeben. Und als wir damit fertig waren, breitete Ilena eine Iso- Decke mitten in der Lichtung aus, stellte eine Feuerschale daneben und gemeinsam mit einer Flasche Wein ließen wir uns schließlich nieder. In der Dämmerung begann das Feuerchen nicht nur Licht sondern auch eine behagliche Wärme auszustrahlen. Wir tranken und genossen die Geräusche des Waldes, die sich zwischen Rauschen, Murren und leisem Knirschen auf uns ergossen. Nebeneinander lagen wir letztlich auf der Decke und starrten in die Wipfel. Die ersten Sterne zeigten sich am Himmel und irgendwie war mir richtig friedlich zumute.

„Ich hab mal eine persönliche Frage.“, durchschnitten Ilenas Worte plötzlich die Friedlichkeit des Waldes. Ich schloss die Augen, schnaufte und murrte ein „Ja?“. Weiter in die Wipfel starrend sagte sie: „Was meinen eigentlich deine Eltern zu deiner jetzigen Situation? Unterstützen sie dich oder sind sie eher distanziert?“ Mein innerer Friede zersplitterte schlagartig wie auf den Boden fallendes dünnes Glas. Ich schluckte und antwortete leise: „Meine Eltern? Meine Eltern sind tot.“ Ilena schnappte kurz nach Luft und erwiderte: „Oh! Das tut mir sehr leid.“ „Muss es nicht.“, beruhigte ich sie und erklärte: „Mein Vater war ein dreckiger Mistkerl und meine Mutter hat immer nur weggesehen. Sie haben es beide verdient.“ Jetzt drehte sich Ilena zu mir und fragte weiter: „Wann sind sie? Na du weißt schon.“ „Abgekratzt?“, spuckte ich förmlich aus. „Ja.“, sagte sie sanft. Ich sah sie an, in ihre großen grünen Augen und antwortete: „Ich war dreizehn. Ist also schon lange her.“ Sie erwiderte meinen Blick ein wenig skeptisch und bohrte nach: „Und wie ging es weiter? Ich meine, du warst dreizehn, wer hat sich um dich gekümmert?“ Eigentlich hatte ich so gar keine Lust darüber zu sprechen, vertraute ihr aber dennoch an: „Ich kam ins Heim. Wohin auch sonst?“ „Hattest du denn keine Verwandten, die dich aufnehmen konnten?“, hinterfragte sie meine Aussage und wirkte etwas irritiert als ich hart „Nein!“ sagte.

Den Kopf zurück auf die Decke senkend flüsterte Ilena: „Das ist traurig. So ganz alleine auf der Welt.“ Mir rollte eine Träne aus dem Augenwinkel und ich war froh, dass sie das nicht sehen konnte. Jetzt fühlte ich mich fast schon schlecht dabei, dass ich das Gespräch so abgewürgt hatte, und versuchte die Situation zu retten: „Wie sind deine Eltern?“ Überrascht antwortete sie: „Och, eigentlich ganz toll. Mein Vater ist Arzt und meine Mutter Anästhesistin. Da lag es nahe, dass ich auch was im medizinischen Bereich mache, Familientradition. Meine kleine Schwester studiert gerade, sie will Tierärztin werden. Hast du Geschwister?“ „Hatte.“, seufzte ich in die Nacht und konnte hören wie Ilena daraufhin ebenfalls leise seufzte. Die folgende Frage schien sie Überwindung zu kosten, das konnte ich an dem leichten Zittern ihrer Stimme hören. „War es ein Unfall?“ „Wie kommst du darauf?“, erwiderte ich. „Na wenn sowohl deine Eltern als auch dein Bruder oder deine Schwester tot sind, muss es doch ein schreckliches Ereignis gegeben haben.“, stellte sie fest und ich sprach: „Schrecklich ja, Unfall auch irgendwie, zwing mich bitte nicht mehr zu erzählen.“ Wir schwiegen. Eine weitere Träne quoll aus meinem Augenwinkel.

Irgendwann richtete ich mich dann auf und bemerkte ins inzwischen tiefe Dunkel, das nur vom rötlichen Schein unserer Feuerschale erwärmt wurde: „Ich glaube, ich brauch jetzt einen Joint.“ Ilena kicherte daraufhin: „Hast du etwa was dabei?“ „Ich geh doch nicht ohne aus dem Haus!“, konterte ich und grinste sie an.

Im Schneidersitz hockten wir auf der Decke und teilten uns das berauschende Grünzeug. Ich hatte mich glücklicherweise wieder etwas gefangen und entschuldigte mich aufrichtig: „Es tut mir wirklich leid, dass ich vorhin so schroff war.“ Ilena lächelte mich an, sprang auf einmal auf, griff nach meiner Hand und zog mich hoch. „Alles gut! Keine Entschuldigungen! Lass uns tanzen!“, rief sie dabei. Irritiert ließ ich sie für einen Moment gewähren und beobachtete sie amüsiert bei ihrem Freudentanz. Torkelnd fiel sie schließlich lachend in meine Arme und säuselte: „Oh man, was ist das denn für ein Kraut? Das ist ja verdammt stark!“ „Was anderes wirkt bei mir nicht mehr.“, bestätigte ich ihre Vermutung und sank mit ihr zusammen zurück auf die Decke. „Mir ist schwindlig.“, murmelte sie in meinem Arm liegend und schloss die Augen. Sie sah so hübsch aus. Der milde Schein des Feuers unterstrich ihren strahlenden Teint.

Ich legte mich wieder zurück, bettete ihren Kopf auf meine Brust und ehe wir es uns versahen, schliefen wir ein.

30

Mir wäre im Traum nie eingefallen irgendwo unter freiem Himmel im Wald zu schlafen, doch mit Ilena war das möglich. Sie brachte mich in unbekanntes Terrain und mit ihr an meiner Seite fühlte ich mich sogar gut dabei. Klar hatte ich noch Angst vorm Unbekannten, aber dank ihr kam ich Schritt für Schritt meinen Grenzen näher und weitete diese sogar noch aus. Es war unheimlich.

Die Morgensonne kitzelte uns wach und das aufgeregte Zwitschern der Vögel in den Ästen. Ilena räkelte sich. Tatsächlich hatten wir die ganze Nacht mitten auf der Lichtung auf dieser Campingdecke verbracht. Das Feuer in der Schale war längst erloschen und sanfte Nebelschwaden hingen in den Büschen zwischen den Bäumen. Ich fühlte mich erfrischt. Tau hatte sich an den Grashalmen abgesetzt und glitzerte hypnotisch. Den Kopf schüttelnd vertrieb ich die letzten Nachwehen des recht starken Joints, den wir vor wenigen Stunden genossen hatten. Ilena stand auf, streckte sich und zog den Pulli aus. Fasziniert beobachtete ich sie dabei. „Ich fühl mich fantastisch!“, sagte sie laut. Ihr hautenges T- Shirt zog meinen Blick auf sich, oder besser das, was sich darunter befand. Ihre Nippel zeichneten sich ab und ließen einen Hauch von Erregung durch mich fließen.

Sie bemerkte natürlich wie ich sie anstarrte und warf mir ein provozierendes Schmunzeln zu. „Soll ich uns ein Käffchen machen?“, fragte sie mit einem Zwinkern in meine Richtung. „Wir haben Kaffee?“, rutschte es mir heraus. „Ich bin gut vorbereitet.“, sagte sie nur, drehte sich um, wackelte mit dem Po und ging zum Auto. Interessiert sah ich ihr dabei zu wie sie im Kofferraum kramte und nach wenigen Sekunden mit zwei Bechern in der Hand zurück kam. „Es ist zwar kein frisch gebrühter Kaffee, erfüllt aber seinen Zweck.“, bemerkte sie als sie mir den Napf mit dem Espresso- Mix aus dem Kühlregal in die Hand drückte. Ich lachte und stichelte: „Oh nein, das Zeug? Ich dachte, ich krieg hier richtigen Kaffee, so all inklusive, und nicht so einen Instant- Kram.“ „Ich kann den auch gern alleine trinken.“, konterte sie daraufhin und versuchte mir den Becher wieder wegzunehmen.

Ein wenig liebevolles Gerangel später saßen wir nebeneinander auf der Decke und genehmigten uns den Kaffee. Alles schien perfekt. Doch dann offenbarte sie mir endlich ihre wahren Absichten hinter dem Ausflug.

„Ich muss dir gestehen, dass ich dich nicht ohne Hintergedanken hergelockt habe.“, sagte sie leise ohne mich dabei anzusehen. Skeptisch zog ich die Augenbrauen zusammen und ließ sie weiter sprechen. „Ich möchte dich gern fotografieren.“ Überrascht meinte ich: „Ich bin doch gar nicht fotogen.“ Jetzt sah sie mich an, lächelte und erklärte: „Ich denke schon. Weißt du? Ich bin da in so einem Forum für Leute, die auf spezielle Sachen stehen, also Bondage, SM und so was. Immer wieder teilen ein paar von denen Fotos von ihren Erlebnissen. Und da würde ich auch gerne einmal mit dabei sein. Bis jetzt hatte ich nur noch nicht den richtigen Typen vor der Kamera.“ „Und du denkst, ich bin der richtige Typ?“, warf ich ein. Sie sah mir in die Augen und erwiderte: „Ja! Zum Beispiel finde ich deine Narben als Motiv sehr interessant und bin überzeugt, dass ich da ein paar sehr außergewöhnliche Bilder machen könnte. Aber natürlich nur mit deinem Einverständnis. Was sagst du?“ „Wie viel von mir willst du zeigen?“, fragte ich zögerlich. Schnell versuchte Ilena meine Skepsis abzumildern: „Ich werde dich nicht bloß stellen. Und wenn du das so willst, wird man auf keinem Foto dein Gesicht sehen.“ „Also keine Gefahr, dass mich jemand erkennt?“, sagte ich daraufhin. Ilena nickte mit einem leichten Lächeln auf den Lippen.

Ich war mir verdammt unsicher. Aber ich war auch neugierig. Ich wollte ihr ja vertrauen, doch mein innerer Schweinehund schien übermächtig. Nervös an meinen Fingernägeln spielend beobachtete ich sie misstrauisch aus den Augenwinkeln. Der Gedanke Bilder von mir im Internet zu sehen, bereitete mir Unbehagen. Würde mich wirklich keiner erkennen können? Bei meiner Vergangenheit schien es mir durchaus plausibel, dass auch alte Bekannte in solchen Foren herumstreiften. Wollte ich denen wirklich meinen Körper zeigen? Wollte ich wirklich meine Narben mit der Welt teilen?

Ilena nippte an ihrem Kaffee und brach anschließend das angespannte Schweigen: „Vorschlag, ich mach die Bilder von dir, wir sehen sie uns gemeinsam an und wenn sie dir nicht gefallen, lösche ich sie wieder. Ich verspreche, dass ich auch keines ohne deine Einwilligung veröffentlichen werde. In Ordnung?“ Tief durchatmend versuchte ich meine innere Unruhe zu überwinden und nickte einverstanden. Sie stellte mich vor eine neuerliche Herausforderung. Was würde diese wohl mit sich bringen?

31

Ich glaube, sie versuchte es mir so angenehm wie möglich zu machen, trotzdem stand ich zitternd vor ihr. Meine Kleidung war gefallen, meine blanken Fußsohlen berührten den feuchtkühlen und stacheligen Waldboden, ein seltsames Gefühl. Nervös folgte ich ihren Anweisungen und als erstes sollte ich mich hinknien, den Kopf senken und meine Arme mit der Innenseite nach oben auf meine Beine legen. Ich versuchte mich nicht zu sehr zu verkrampfen während sie mir die Haare ins Gesicht kämmte. Dann ging sie einen Schritt zurück und schoss sie die ersten Bilder.

Nachdem sie mich aus verschiedenen Perspektiven aufgenommen hatte, hockte sie sich neben mich und zeigte mir auf dem kleinen Bildschirm der Kamera die Aufnahmen. Sie sahen gut aus, in Grautönen gehalten und weit weniger obszön als ich erwartet hatte. Es lag sogar eine gewisse Ästhetik darin, wenn man auf den leicht verstörenden Anblick unzähliger Narben stand.

Das nächste Motiv war schon ein wenig krasser. Ilena führte mich zu einem Baum und wollte, dass ich die Arme um den Stamm legte. Dann band sie meine Hände zusammen, ging um mich herum und machte Fotos aus verschiedenen Winkeln wie ich da so an den Baumstamm gefesselt da stand. Ich drückte mein Gesicht in die Rinde. Aber auch sie war sehr darauf bedacht, dass man mich nicht erkannte, nutzte immer wieder mein Haar um meine Gesichtzüge zu verdecken. Und dann ging es erst richtig los.

Überraschend trat sie hinter mich und kratzte mit den Fingernägeln über meinen Rücken, ich seufzte aus Nervosität und ein wenig Erregung. Daraufhin presste sie ihren Körper gegen meinen, legte ihre Hand an meine Kehle und flüsterte: „Hast du etwas dagegen, wenn ich dich jetzt ein wenig malträtiere?“ Ich schluckte und hauchte unüberlegt und mit gesteigerter Aufregung: „Nein.“ Sie löste sich von mir, ging zum nächsten Strauch und brach einen längeren, biegsamen Zweig ab. Ich ahnte, dass die folgenden Schläge damit äußerst schmerzhaft werden würden und sollte recht behalten.

Der erste Hieb zog sich quer über meinen Rücken und entlockte mir einen erschrockenen Schrei. Es zwirbelte bestialisch auf meiner Haut. Ich biss die Zähne zusammen und steckte den zweiten Schlag besser weg, auch wenn es mir dabei ein paar Tränen in die Augen trieb. Meine Finger verzweifelt in die Rinde des Stammes grabend, nahm ich jeden einzelnen Hieb tapfer hin. Es fühlte sich an als würde meine Haut aufplatzen und bereits Unmengen an Blut über meinen Rücken und an meinen Beinen hinunter laufen. Es war einfach nur brutal und gleichzeitig so befreiend und erregend, dass ich tatsächlich eine Erektion bekam.

Ilena hielt inne. Meine Rückseite war völlig ramponiert und ergab für ihre Fotos ein groteskes Gemälde der Gewalt.

Ich war völlig benommen und sah nicht kommen was sie mir als nächstes antun wollte. Sie bereitete etwas vor, band mich vom Baumstamm los, führte mich auf die andere Seite der Lichtung und fesselte mir meine Hände auf dem Rücken zusammen. Erst als sie mir die Schlinge um den Hals legte, kam ich wieder etwas zu mir. Ich sah nach oben. Ein Seil hing über einem starken Ast. War es wirklich das wonach es aussah?

Plötzlich spürte ich einen heftigen Ruck und wie sich die Schlinge um meine Kehle enger schnürte. Panisch begann ich sofort zu zappeln, was meine Lage jedoch nur noch verschlimmerte. Schnell eilte Ilena daraufhin zu mir und schrie mich an: „Nicht so wild! Willst du dich umbringen? Du kannst mit den Zehen den Boden berühren! Ganz ruhig!“ Sie hielt mich an den Armen fest und versuchte meine Panik zu mildern. Tatsächlich hatte sie mich nur so weit hochgezogen, dass ich noch immer mit den Füßen ein wenig den Waldboden erreichte.

Nachdem sie nun den Knoten in meinem Nacken etwas gelockert hatte und ich wieder ein bisschen besser atmen konnte, versuchte ich mich zu beruhigen. Mein Adrenalinspiegel klebte irgendwo unter der Decke, ich zitterte am ganzen Leib und die Anstrengung zehrte an meinen Kräften und meinen Nerven.

Doch ganz plötzlich machte sich ein seltsames Gefühl in mir breit, das Gefühl alles beenden zu können, ein friedliches Gefühl. Ich wollte dem Drang nachgeben und ließ meine Muskeln langsam erschlaffen. Die Schlinge zog sich wieder fester um meinen Hals, doch dieses Mal rastete ich nicht aus, ich wollte es einfach geschehen lassen. Ich vergaß alles um mich herum. Meine Knie knickten ein und endlich hing ich mit vollem Gewicht an meinem Galgen.

Allerdings geriet jetzt Ilena in Panik, sie bemerkte mein Einsinken, stellte eilig ihre Kamera auf den Boden und stürmte zu mir. Sie tätschelte mein Gesicht, bemerkte meinen gelösten Blick, holte in Windeseile ein Messer und trennte das Seil über meinem Kopf durch. Ich sackte einfach zu Boden und blieb liegen. Schnell lockerte sie daraufhin den Knoten und entfernte die Schlinge. Beinahe wäre ich erlöst gewesen. Hätte sie mich doch nur gehen lassen.

32

Ilena war da wohl anderer Meinung. Sie kniete neben mir, streichelte über meinen Kopf und fühlte nach meinem Puls. „Was machst du denn?“, flüsterte sie aufgelöst. Deprimiert und völlig vernebelt ließ ich sie gewähren. Als sie merkte, dass ich wach war, half sie mir auf und führte mich zu dem kleinen provisorischen Zelt. Ohne ein Wort brachte sie mich dazu, dass ich mich hinlegte, kuschelte sich an mich und zog eine Decke über uns beide. Ihr warmer Körper brachte meine Lebensgeister zurück.

Ich war nicht zum ersten Mal dem Tod so nah gewesen und früher auch schon näher. Seit meiner Kindheit war diese Todessehnsucht ein Teil von mir. Ich konnte nichts dagegen tun, sie war so tief in mir verwurzelt, dass ich mich manchmal einfach hinreißen ließ. Und vorhin war solch ein Moment gewesen. Ich hatte mich einfach treiben lassen, immer näher an den Rand des Wasserfalls, hatte die kalte Umarmung bereits gespürt und mich ihr ganz und gar hingeben wollen. Ilena hatte mich in diese Lage gebracht und mich auch wieder aus ihr befreit, ein paradoxer Gedanke.

Nun lag ich auf der Seite, sie drückte sich an meinen Rücken und hatte einen Arm um mich geschlungen. Plötzlich hörte ich sie leise schniefen. Weinte sie etwa? Von der Situation überfordert, wand ich mich aus ihrem Arm und drehte mich zu ihr um. Mit verschleiertem Blick starrte sie mich fragend an. Tatsächlich sah ich eine Träne über ihre Wange rollen. Schnell wischte sie sie weg. „Du willst sicher wissen, warum ich mich habe so hängen lassen.“, fragte ich in die Stille, bemerkte wie blöd das klang und fügte an: „Das Wortspiel war nicht beabsichtigt.“ Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Dann flüsterte sie: „Ja bitte, erklär es mir.“ Ich rang nach Worten: „Weißt du, ein Teil meiner Persönlichkeit sehnt sich nach dem Tod. Schon als Kind war ich für alle immer nur der Fußabtreter, seitdem begleitet mich auch diese Sehnsucht. Und mir ist es schon mehrfach passiert, dass wenn sich die Gelegenheit ergibt, ich dem Ableben nahe genug komme, renne ich nicht davon sondern bleibe stehen und ergebe mich. Es ist verrückt.“ „Bitte erzähl mir mehr von dir, ich will es verstehen, ich will dich verstehen. Was ist nur passiert, dass du so unglaublich traurig bist?“, redete sie auf mich ein und streichelte sanft über meinen Arm. Ich drehte mich wieder weg. Wenn ich ihr einen Teil meiner Geschichte offenbaren sollte, wollte ich ihr dabei nicht in die Augen sehen. Es war einfach zu schwierig.

Nachdem ich wieder mit dem Rücken zu ihr lag, griff ich hinter mich, fühlte nach ihrem Arm und legte ihn über mich. Dann begann ich meine Geschichte: „Ich versuche dir zu erzählen, was nach dem Tod meiner Schwester und meiner Eltern geschah. Im Heim hielt ich es nicht lange aus. Die Ereignisse hatten mich dermaßen verstört, dass ich die Gegenwart anderer Menschen nicht mehr ertragen konnte. Ich verlegte mein Leben in den Park, kam anfangs zwar immer noch wenigstens nachts zurück, doch auch das erledigte sich nach ein paar Wochen. Im Park ließen mich alle in Ruhe, jeder hatte mit sich selbst zu tun. Die Schule interessierte mich nicht mehr und wahrscheinlich hätte ich es auch nicht geschafft noch einen Fuß hineinzusetzen. Ihre mitleidigen Blicke verfolgten mich. Ich lernte schnell, dass ich meinen Lebensunterhalt auch so bestreiten konnte, stahl was ich brauchte, und nachdem das im Laden auffiel, klaute ich Zigaretten und Alkohol aus einem anderen um diese gegen Essen zu tauschen. Aber auch das ging nur eine Zeit lang gut. Als man mich dann ein paar Mal erwischt hatte, wurde ich ins Jugendgefängnis gesteckt. Keinen interessierte wirklich was mit mir geschah. Doch im Knast lernte ich schnell ein paar andere Typen kennen, die mir nach der Zeit einen Job verschaffen wollten. Ich war unscheinbar und deshalb bestens als Kurier geeignet. Also fing ich an Drogen zu verkaufen. Das war recht lukrativ und ging wieder eine Zeit lang gut bis…“. Ich stockte. Ilena drückte meinen Oberarm aufmunternd mit ihrer Hand. Mir war nicht wohl dabei weiterzureden aber ich hatte es ihr versprochen also überwand ich mich: „Bis ich eines Tages an diesen Typen geriet. Ich brachte eine Lieferung zu ihm nach Hause, er bezahlte anstandslos und fragte mich dann aber, ob ich ihm nicht etwas Gesellschaft leisten wollte. Völlig naiv ließ ich mich darauf ein. Er bot mir was von dem Stoff an, den er gerate gekauft hatte und kurz darauf saßen wir bei ihm auf der Couch, koksten, tranken Schnaps und zogen uns Hardcore- Pornos rein. Ich weiß nicht mehr, wie es dann weiter ging, irgendwie hatte er mich plötzlich in der Zerre und ich wehrte mich nicht dagegen.“ Ich machte eine Pause, atmete tief durch, würgte eine Träne hinunter und sprach mit zitternder Stimme weiter: „Erst am nächsten Morgen kam ich wieder zu mir. Ich lag in seinem Bett und schämte mich. Er war nicht da, also suchte ich schnell meine Klamotten zusammen und wollte nur noch weg. Bevor ich mich aber zur Tür hinausstehlen konnte, hielt er mich zurück, kam lächelnd näher und drückte mir das Doppelte von dem in die Hand, was er für die Drogen bezahlt hatte. Und da wurde mir etwas klar. Ich konnte viel mehr Geld verdienen, wenn ich nicht nur Stoff sondern auch mich verkaufte. Kaputt war ich sowieso, darauf kam es also nicht mehr an.“ Ilena bebte, ich konnte es genau spüren wie sie mit sich kämpfte als sie fragte: „Wie alt warst du da?“ Betreten antwortete ich leise: „Als ich meine Familie verlor, war ich dreizehn Jahre alt, als ich zum Stricher wurde gerade vierzehn.“ Sie schniefte. Scheinbar berührte sie meine Geschichte ebenso wie sie mich noch immer fertig machte.

Ein paar angespannte Minuten später, in denen ich krampfhaft versuchte mir die Tränen zu unterdrücken, fragte sie weiter: „Und wie bist du aus dieser Sache wieder rausgekommen?“ Ich zog ihren Arm fester um mich, schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter und erzählte weiter: „Der verhängnisvolle Abend hatte seine Spuren hinterlassen. Ich verkaufte weiter Drogen, ging gleichzeitig Anschaffen und begann dann selbst den Scheiß zu nehmen um die Erinnerungen an die ekligen Typen zu unterdrücken, die sich so schamlos an mir vergingen. Es war ein Teufelskreis, eine Abwärtsspirale, die sich immer enger um mich zog. Und trotzdem machte ich das über drei Jahre lang mit. Allerdings wurde die Kohle irgendwann immer schneller alle also musste ich mich auch auf immer schmutzigere Deals einlassen. Ich ließ mich für Geld misshandeln, teilweise echt übel zurichten. Das ging so weit, dass ich versuchte mich zum ersten Mal umzubringen, mit einer Überdosis. Leider vertrug ich zu dem Zeitpunkt schon so viel, dass das was ich mir leisten konnte einfach nicht ausreichte um mir den Rest zu geben. Jemand fand mich, schaffte mich ins Krankenhaus und da traf ich auf Emanuil. Er fand ziemlich harte Worte und gab mir noch ein paar Monate bis ich wahrscheinlich tot sein würde, entweder durch meine eigene oder die Hand eines anderen. Er öffnete mir die Augen, dass es so nicht weitergehen konnte. Ich willigte schließlich ein mir helfen zu lassen.“ Wir schwiegen ziemlich lange.

 

„Du hast es später dann noch einmal versucht dich umzubringen? Warum?“, fragte Ilena schließlich leise. „Ich weiß nicht genau.“, erwiderte ich resigniert und versuchte es zu erklären: „Irgendwie war mir einfach danach. Es fühlte sich richtig an. Ich fuhr mit hundert Sachen auf der Landstraße und plötzlich hatte ich keine Lust mehr. In der nächsten Kurve steuerte ich frontal auf einen Baum zu. Blöderweise war ich nicht angeschnallt. Anstelle in dem Wagen zerquetscht zu werden, schleuderte es mich durch die Windschutzscheibe raus auf das Feld. Ich hatte schwere Kopfverletzungen, mehrere angebrochene Wirbel, ein paar kaputte Knochen und gerissene Organe und lag etwa zwei Wochen lang im Koma. Trotzdem überlebte ich es, verdammte Ärzte.“

33

Vollkommen unerwartet löste sich Ilena auf einmal von mir und verschwand aus dem Zelt. Ich hatte keine Ahnung warum, machte mir dennoch so einige Sorgen und Vorwürfe. Hatte ich sie mit meiner Geschichte erschreckt? Selbst Emanuil wusste noch nicht alle Details. Er hatte mittlerweile viel erfahren aber wie es so richtig in mir aussah, konnte er manchmal nur erahnen. Es tat mir unglaublich leid.

Schnell suchte ich mir deshalb ein paar Klamotten zusammen und kroch aus dem Zelt. Ilena kniete mitten auf der Lichtung und faltete die Decke zusammen. Ich konnte von hier aus sehen, dass ihr die Tränen übers Gesicht liefen. Erschlagen schlurfte ich zu ihr und kniete mich ebenfalls hin. Sie sah mir in die Augen und meinte zaghaft: „Du musst mich hassen.“ Völlig überrumpelt schüttelte ich den Kopf und erwiderte: „Wieso sollte ich? Du bist das Beste, was mir seit Jahren passiert ist.“ Verschwommen starrte sie mich an. „Du hast so viel durchgemacht und ich denke nur darüber nach wie ich mich durch dich profilieren kann, blöde Fotos, Angeberei, Schwachsinn!“, konterte sie aufgebracht. Ich senkte den Blick und sie sprach weiter: „Kannst du dir vorstellen wie dumm ich mir gerade vorkomme? Es tut mir so, so unglaublich leid. Ich bin nicht besser als die Typen von damals. Ich nutze dich aus, misshandle dich, tu dir weh.“ Sie schniefte, Tränen tropften auf ihre Hände.

Tief berührt ergriff ich die selbigen und erklärte: „Ilena, alles was du mit mir machst, was du mir antust, genieße ich. Seitdem du in mein Leben getreten bist, fühle ich mich wieder lebendig. Ich war in der Eintönigkeit und in mir selbst gefangen. Du hast mich befreit. Du ahnst nicht wie unglaublich dankbar ich dir bin. Du holst mich aus meinem Schneckenhaus, auf eine bizarre und trotzdem erfrischende Weise. Du lässt mich über meinen eigenen Schatten springen. Das ist genau das, was mir all die Jahre gefehlt hat. Ich würde mich von dir umbringen lassen und wäre glücklich dabei.“

Wir sahen uns lang in die tränenfeuchten Augen, ein seltsam tiefgründiger Moment, der mich alles vergessen ließ. Auf einmal hörte ich mich flüstern: „Ich liebe dich.“ In diesem Augenblick fiel mir Ilena um den Hals und wir küssten und innig.

Nachdem sich unsere Lippen voneinander gelöst hatten, fragte sie aufrichtig: „Wollen wir zurückfahren?“ Ich nickte. Daraufhin packten wir schnell alle Sachen zusammen und verließen diesen beschaulichen Ort, der uns wohl beiden lange in Erinnerung bleiben würde.

So sah es also aus, ich hatte mich wirklich in diese Frau verliebt. Das konnte ich nicht verleugnen. Sie war auf eine Weise aufrichtig und ehrlich zu mir, wie ich es nie zuvor erlebt hatte. Es machte mir Angst.

34

In unseren Gedanken verloren, schwiegen wir während der gesamten Fahrt. Auch als wir in meine Wohnung kamen, sprachen wir nicht, stellten nur meine Sachen ab und fielen uns danach in die Arme.

Erst am nächsten Morgen kehrte ein wenig Normalität in die Situation zurück. Ilena kochte Kaffee, ich putzte mir die Zähne und gesellte mich anschließend zu ihr. Ihr Haar hatte sie zu einem wilden Knoten gebunden und natürlich bemerkte sie, wie ich sie wieder einmal anstarrte. Mit einem Lächeln auf den Lippen stellte sie zwei Tassen auf den Tisch und bemerkte: „Und? Alles gut?“ Ich dachte kurz nach, forschte in mir und antwortete irritiert und gleichzeitig glücklich: „Ja! Und selbst?“ Jetzt strahlte sie. „Ob du es glaubst oder nicht, ich fühle mich großartig!“, rief sie förmlich aus und fragte dann: „Wie geht es deinem Rücken?“ Ich grinste und gab zu: „Der ist ganz schön lädiert, aber ich werde es überleben. Fallen eigentlich die blauen Striemen an meinem Hals auf?“ Ilena sah etwas genauer hin und meinte schließlich verlegen: „Geht schon gerade noch. Mann, ich bin aber auch fies. Sorry.“  Ich griff nach ihr, zog sie an mich und küsste sie. Anschließend setzten wir uns beide mit einem Lächeln im Gesicht an den Tisch und frühstückten.

Daran hätte ich mich wirklich gewöhnen können.

Leider musste Ilena bald los um rechtzeitig auf Arbeit zu kommen. Bis zum Beginn meiner Nachtschicht hatte ich glücklicherweise noch ein wenig mehr Zeit. An der Wohnungstür verabschiedeten wir uns und machten aus später zu telefonieren. Ich sah ihr noch nach wie sie die Treppen hinunter verschwand, schloss dann die Tür und lehnte mich innen an. Es war ein seltsames Gefühl glücklich zu sein und ich konnte mich nicht erinnern, wann ich es vorher jemals gespürt hatte.

Irgendwie beschwingt ging ich nach ein paar Minuten zurück ins Wohnzimmer, stellte lautstark Musik an und begann danach die Küche aufzuräumen. Seltsamerweise fiel mir das heute gar nicht schwer, im Gegenteil. Ich hatte Lust die ganze Wohnung zu putzen.

Mitten im Werkeln fiel mir gar nicht auf wie schnell die Zeit verging und wie spät es eigentlich schon war.

Auf einmal schrillte die Türklingel. Erschrocken sah ich auf die Uhr und fragte mich, wer abends um sechs wohl noch zu Besuch kommen mochte. Vielleicht war es auch nur ein Nachbar, der sich über die laute Musik beschweren wollte.

Misstrauisch stellte ich sie deswegen ab und drückte den Knopf der Gegensprechanlage. „Ja hallo?“, fragte ich vorsichtig hinein und bekam zur Antwort: „Herr Alsani? Ich habe hier einen Einschreibebrief, dessen Erhalt Sie mir gegenzeichnen müssten. Scheint etwas Wichtiges zu sein.“ In meinem Kopf ratterten die Gedanken. Immer noch misstrauisch ließ ich den Mann dennoch rein und öffnete einen Spalt weit die Wohnungstür. Es war wirklich ein Bote, drückte mir freundlich den Brief in die Hand und ließ mich dafür unterschreiben. So schnell wie er gekommen war, verschwand er dann auch wieder.

Noch im Flur untersuchte ich den Umschlag ausgiebig. Mit dem Namen des Absenders konnte ich nicht viel anfangen, es schien sich aber um eine Firma zu handeln. Entschlossen riss ich ihn daraufhin auf und holte das mehrseitige Schreiben hervor. Gleich auf der ersten Seite prangte in fetten Lettern das Wort „Vorladung“. Mir wurde schlecht.

Ich ließ den Umschlag achtlos auf den Boden fallen und schlurfte in die Küche. Nachdem ich mich hingesetzt hatte, wagte ich es weiter zu lesen. Und schon nach wenigen Zeilen konnte ich es nicht mehr fassen. Silviana hatte mich tatsächlich angezeigt.

Völlig von der Rolle holte ich mir eine Flasche Schnaps aus dem Regal und trank sie mit einem Zug leer. Ich hätte kotzen können doch es machte sich nur ein unkontrolliertes Zittern in meinem gesamten Körper breit. Was sollte ich jetzt tun? Ich kannte weder einen Anwalt, noch konnte ich mir einen leisten. Sie würden mich ins Gefängnis stecken, das würde ich nicht überleben. Panik stieg in mir hoch.

Aufgelöst las ich mir die Zeilen immer und immer wieder durch, bekam das Zittern allmählich nicht mehr unter Kontrolle. Ich musste mich irgendwie runter bringen damit ich wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, also ging ich ins Bad, griff wahllos in den Spiegelschrank und warf mir ein paar Beruhigungsmittel ein. Das Chaos in meinem Kopf war unermesslich. Gerade jetzt, als sich alles endlich zum Besseren wendete, bekam ich solch eine Hiobsbotschaft. Für einen Moment war ich glücklich gewesen und jetzt brach die Welt erneut über mir zusammen. Durfte ich denn nicht wenigstens ein Mal in meinem Leben auf der Gewinnerseite stehen?

Mein Herz raste, drohte beinahe aus der Brust zu springen. Die Beruhigungsmittel schienen nicht zu helfen. Ich überlegte ob ich noch etwas Stärkeres im Haus hatte und erinnerte mich an meine Junky- Zeiten zurück. Damals hätte ich mir wahrscheinlich Heroin in die Blutbahn gepfiffen. Hatte ich vielleicht noch irgendwo welches da?

Unkoordiniert begann ich die Küchenschränke zu durchwühlen, schmiss einfach alles auf den Fußboden bis ich plötzlich die kleine verstaubte Kaffeedose in der Hand hielt. Bebend und hyperventilierend versuchte ich mit verkrampften Fingern den Deckel von der Dose zu reißen. Klimpernd fiel er schier endlose Sekunden später endlich zu Boden und rollte unter den Tisch.

Ich sah mich kurz um. Die Küche war zum reinsten Saustall mutiert. Überall lagen Tücher, Besteck und Kochgeräte. Aber das war jetzt nicht wichtig. Ich schüttete den Inhalt der Dose über das Schreiben auf dem Tisch aus. Aus dem unverdächtigen Häufchen uralten Kaffees schaute tatsächlich der Zipfel einer kleinen Plastiktüte hervor. Mit den Nerven am Limit zog ich es raus und hielt nun wahrhaftig die letzten Überreste des bräunlichen Pulvers in der Hand. Sollte ich es wagen? War ich wirklich so verzweifelt? Ja.

Mit Löffel und Feuerzeug bewaffnet stolperte ich zurück ins Bad. Nur schwer ließ sich das alte Zeug auflösen und ich hatte keine Ahnung ob es überhaupt noch seine Wirkung entfalten würde. Dennoch kramte ich eine Einwegspritze aus dem Medizinschrank, klemmte einen Zigarettenfilter vor die schmale Öffnung und saugte das Gift hinein. Als ich die Kanüle aufschraubte, sah ich tief in die klare, gelbbräunliche Flüssigkeit. Alle Hoffnung lag nun darin, dass sie mir helfen würde mich in den Griff zu kriegen bevor ich überreagierte und womöglich noch vor Panik aus dem Fenster sprang.

In meinem Wahn hatte ich völlig vergessen ein Gummiband oder etwas anderes zum Abbinden meines Armes mitzunehmen. Also popelte ich das Dreiecktuch aus dem Verbandskasten auf dem Schränkchen. Eilig wickelte ich es dann um meinen Arm und zurrte es fest. Jetzt war es so weit. Sollte einmal die Nadel in meiner Haut stecken, gab es kein Zurück mehr. Mein konzentriertes Vorgehen hatte das Zittern ein wenig in Zaum gehalten. Dafür fühlten sich meine Fingerkuppen irgendwie taub an und mein gesamter Körper kribbelte nervös. War ich so weit? Ich dachte ans Gefängnis und spürte sofort einen neuen Angstschwall durch meine Innereien fahren. Das war der ausschlaggebende Punkt.

Entschlossen ließ ich die Nadel auf eine meiner leicht hervortretenden Venen sinken und anschließend in sie hinein gleiten. Es war schon eine Weile her, dass ich das zum letzten Mal getan hatte und trotzdem ging ich seltsam routiniert vor. Während ich das Zeug in meine Blutbahn drückte, schoss mir ein neuerlicher Gedanke durch den Kopf: Was, wenn ich mittlerweile so entwöhnt war, dass diese Dosis viel zu viel war und ich mich damit umbrächte? Es war zu spät. Das Heroin prickelte erfrischend in meinem Arm. Die Spritze fiel klirrend ins Waschbecken. Ich löste die Verschnürung des Dreiecktuches.

Urplötzlich ergoss sich der Schwall der heftigen Drogenmischung in meinen gesamten Kreislauf. Das Prickeln verwandelte sich zunehmend in Feuer. Schlagartig wurde mir schwindlig, meine Knie butterweich und alles in mir krampfte sich zusammen. Ich konnte jede Faser meiner verbrennenden Innereien in Zeitlupe wahrnehmen. Es war eindeutig eine Scheißidee gewesen. Allerdings verfehlte das Zeug nichts von seiner Wirkung, immerhin dachte ich jetzt nicht mehr über den bevorstehenden Prozess und die mögliche Inhaftierung nach. Vielmehr war ich verzweifelt mit meinem verrückt spielenden Körper beschäftigt und dem betäubenden Gefühl, dass sich beim Abklingen des Brennens verbreitete.

Völlig benommen torkelte ich daraufhin ziellos und desorientiert in den Flur. Ich konnte mich nicht mehr auf den Beinen halten, knallte gegen die gegenüberliegende Wand und ging zu Boden. In mich zusammengesunken, meine Gliedmaßen nicht mehr unter Kontrolle, wälzte ich mich spastisch zuckend auf den Rücken und versuchte mich hartnäckig in eine aufrechtere Position zu bringen.

So würde es also zu Ende gehen. Dieses Mal hatte ich mir wirklich eine Überdosis verpasst. Wenigstens würde ich nicht mehr vor Gericht gezerrt werden. Mein Herzschlag verlangsamte sich spürbar. Jede einzelne Zelle in mir schmerzte, ich fühlte mich wie eine breitgeschlagene, breiige Masse, die langsam vor sich hin schmolz und verkohlte. Jede Bewegung war mittlerweile unmöglich geworden. Mir war so dermaßen übel. Kurz darauf begann ich mich zu übergeben. Es dauerte mindestens eine halbe Stunde bis ich mich ausgekotzt hatte, fiel währenddessen ungehalten zur Seite hin um und blieb liegen. Ganz langsam wurde es dunkel.

35

Es war kurz nach zehn Uhr abends. Mehrfach hatte Ilena schon versucht Razvan telefonisch zu erreichen. Eigentlich hatte er sie vor Antritt seiner Schicht noch anrufen wollen, es aber nicht getan. Unruhig klingelte sie zum wiederholten Male bei ihm durch, keine Reaktion. Kurz entschlossen setzte sie sich daraufhin ins Auto und kämpfte sich durch den Nachtverkehr der Stadt. Der Weg erschien ihr unendlich lang und sie hatte eine dunkle Vorahnung, dass etwas Schreckliches passiert sein musste.

Unterdessen gingen auch Anrufe bei Andrei und Emanuil ein. Razvan war nicht zur Arbeit erschienen und bei beiden wollte man sich erkundigen wo er abgeblieben sei. Doch beide hatten sie keine Ahnung. Andrei war nicht wohl bei der Sache. Er wusste, dass sein Kollege das Wochenende mit dieser Ilena verbringen wollte und dass die scheinbar ziemlich brutal mit ihm umsprang. Vielleicht hatte sie ihn ernsthaft verletzt und er lag jetzt irgendwo in einem Krankenhaus? Voller Sorge stieg auch er in sein Auto und machte sich auf den Weg.

Emanuil war schon fast im Bett gewesen und versuchte nun ebenfalls erst einmal Razvan per Telefon zu erreichen. Niemand ging ran. Nachdem er es mehrfach probiert hatte, zog er sich wieder um, gab seiner Frau einen Gute- Nacht- Kuss und rannte aus dem Haus. In all den letzten Monaten hatte sich der junge Mann als ein sehr zuverlässiger Angestellter bewiesen, war selten unpünktlich gewesen und hatte wenn doch immer vorher Bescheid gesagt. Was war wohl passiert, dass er heute unentschuldigt fehlte und auch nicht an sein Telefon ging? Er musste einen triftigen Grund dafür haben, sonst sah sich Emanuil gezwungen ihm einen ersten Strike zu verpassen.

Als erste traf Ilena vor Razvans Wohnkomplex ein. Er reagierte nicht auf ihr Läuten, woraufhin sie sämtliche Klingelknöpfe drückte bis endlich das ersehnte Summen des Türöffners erklang. Eilig stürmte sie die Treppe empor und begann hektisch an seine Wohnungstür zu klopfen. Keine Reaktion. Nur die ältere Frau von Nebenan öffnete auf einmal ihre Tür und textete Ilena zu: „Was soll denn das? Um diese Uhrzeit? Da können Sie doch nicht so einen Lärm machen!“ Ilena entschuldigte sich und redete auf sie ein: „Verzeihen Sie mir. Ich habe die Befürchtung, dass meinem Freund etwas Schlimmes passiert ist. Haben sie zufällig einen Schlüssel für seine Wohnung?“ Die Frau schüttelte den Kopf und meinte: „Nein, natürlich nicht. Wieso auch? Rufen Sie doch den Schlüsseldienst. Oder vielleicht kann Sie ja der Hausmeister rein lassen.“ Schnell ließ sich Ilena die Nummer des Hausmeisters geben und rief ihn sofort an. Niemand reagierte auf ihren Anruf. Wahrscheinlich war das Büro um diese Zeit nicht besetzt. Inzwischen verzog sich die Frau wieder in ihre Wohnung. Verzweifelt spielte Ilena unterdessen mit dem Gedanken die Feuerwehr zu holen. Doch was, wenn Razvan gar nicht zuhause war? Vielleicht war ihm ja etwas auf dem Weg zur Arbeit passiert. Bukarest war eine gefährliche Stadt und die Gegend hier nicht die beste.

Ihre Unruhe stieg und gerade als sie sich entschlossen hatte nach einem weiteren Klopfversuch doch die Feuerwehr zu holen, kam ein Mann mittleren Alters die Treppe hoch. Verwundert sah er Ilena kurz dabei zu wie sie gegen die Tür hämmerte und „Razvan!“ rief, sodass er gleich fragen musste: „Hallo? Darf ich erfahren wer Sie sind?“ Verzweifelt sah sie ihn an und erklärte aufgeregt: „Ich bin Ilena, seine Freundin. Und wer sind Sie?“ „Emanuil, Razvans Therapeut. Warten Sie, ich habe einen Notfallschlüssel.“, antwortete er ruhig und begann in seiner Tasche zu kramen. Er holte den Schlüssel hervor und steckte ihn in das Schloss.

Jetzt traf auch Andrei ein und war sichtlich über das Aufgebot vor der Wohnung erstaunt. „Dr. Pocovnic? Hat Sie auch jemand angerufen? Was ist denn eigentlich los?“, fragte er irritiert. Emanuil gab ihm die Hand und erwiderte: „Hallo Andrei, das werden wir gleich herausfinden.“ „Und wer bist du?“, wand sich Razvans Freund nun misstrauisch an die junge Frau, die ihn daraufhin skeptisch musterte und erwiderte: „Ilena, seine Freundin. Hat er nichts von mir erzählt?“ „Oh doch!“, sagte Andrei daraufhin bedeutungsvoll aber ohne weitere Erklärung. Emanuil hatte inzwischen aufgeschlossen und gemeinsam stürmten sie nun die Wohnung.

Razvan lag regungslos im Flur, halb auf der Seite und in seinem Erbrochenen am Boden. Sofort sprang Ilena auf ihn zu, fühlte an seinem Handgelenk und seinem Hals nach einem Puls, hielt ihre Wange dicht vor sein Gesicht um die Atmung wahrzunehmen. Beides war kaum noch spürbar. Entschlossen wies sie die anderen zwei dazu an ihn zusammen mit ihr flach auf den Rücken zu legen. Nachdem das geschafft war, riss sie sein T- Shirt auf, legte ihr Ohr auf seine Brust und lauschte. Betreten sah sie die Helfer daraufhin an und bemerkte verzweifelt: „Ich glaube sein Herz macht nicht mehr lange mit. Wir müssen seinen Kreislauf stabilisieren. Einer von euch muss einen provisorischen Tropf basteln und der andere isotonische Kochsalzlösung ansetzen, neun Gramm Kochsalz auf einen Liter Wasser. Und vielleicht findet ihr raus was er genommen hat. Schnell!“ Emanuil war sofort bei der Sache. Er kannte Andreiu bereits von ein paar Besuchen im Baumarkt, also sprach er ihn eilig an: „Los, wir brauchen eine leere, saubere Plastikflasche, einen Schlauch, Klebeband und Spritzen. Ich helfe dir suchen, du baust und ich setz dann inzwischen die Lösung an.“

Die zwei Männer rannten in die Küche, blieben für einen Moment angewurzelt stehen als sie das Chaos sahen und begannen dann dieses gleich noch zu vergrößern. Schnell hatten sie eine Mineralwasserflasche gefunden. Emanuil goss das Wasser in einen großen Becher und suchte das Salz. Inzwischen stürmte Andrei zurück in den Flur. Ilena redete derweilen auf Razvan ein während sie ihm eine Herzdruckmassage verpasste. Er hatte nicht geahnt, dass es schon so schlecht um seinen Kumpel stand. Hektisch stolperte er daraufhin ins Bad, wich aber sofort zurück als er die Spritze im Waschbecken sah und rief lautstark: „Leute, hier liegt eine Spritze! Die sieht benutzt aus!“ Verzweifelt suchte Ilena sofort nach einem Einstich und fand ihn in Razvans Armbeuge. „Was hat er genommen?“, schrie sie daraufhin zurück. Emanuil kam ins Bad gerannt, sah sich kurz um und antwortete laut: „Hier liegt noch ein Löffel und ein Feuerzeug und ein Tütchen mit Pulverresten. Ich tippe auf Heroin.“ „Scheiße! Wo hat er das her?“, sagte Ilena angespannt mehr zu sich selbst als zu den anderen.

Auf einmal schrie sie laut: „Spritze!“ Die Fragenden Blicke zwangen sie zu einer näheren Erläuterung: „Im Medizinschrank liegt eine Adrenalinspritze! Schnell!“ Sofort riss Emanuil den Spiegelschrank auf. Eine wilde Anzahl an Medikamentenpackungen fiel ihm entgegen. Verstört wühlte er sich durch die Päckchen bis in den hinteren Teil des Schrankes. Und tatsächlich hielt er auf einmal eine steril verpackte, voll funktionsfähige Adrenalinspritze in der Hand. Fassungslos nahm er sie an sich und brachte sie zu Ilena, die weiterhin unermüdlich die Herzdruckmassage vollführte. Er riss die Packung auf und reichte den Inhalt an sie weiter. Ilena unterbrach ihre Anstrengungen, griff nach der Spritze, atmete tief durch, sah dann wieder auf Razvan, der teilnahmslos und offensichtlich mehr tot als lebendig vor ihr lag, fühlte nach der richtigen Stelle auf seiner Brust, atmete noch einmal durch, holte aus, zögerte einen Augenblick und rammte die Kanüle schließlich kraftvoll mitten in sein Herz.

Der Schock der eindringenden Nadel und des in ihn strömenden Adrenalins ließ Razvan urplötzlich krampfen. Etwas, das wie ein verzerrter Schrei klang, drang aus seiner Kehle. Erschrocken wichen alle drei ein Stück weit zurück.

Genauso schnell sackte er jedoch wieder in sich zusammen. Ilena stürzte erneut auf ihn zu und fühlte nach seinem Puls. Erleichtert rief sie wenige Sekunden später aus: „Wir haben ihn wieder! Holt mir einen Waschlappen und dann bringen wir ihn ins Bett.“ Ohne Fragen zu stellen, brachte Andrei ein nasses Handtuch, mit welchem sie Razvan notdürftig das Erbrochene von der Seite abwischten. Dann packten sie alle drei an und trugen ihn ins Schlafzimmer. Nachdem Ilena ihn in die stabile Seitenlage gebracht hatte, sagte sie leise: „Lasst uns den Tropf fertig bauen, wir müssen irgendwie sein Blut verdünnen, damit seine Leber und Nieren diese scheiß Drogen besser verarbeiten können.“

Also bastelten sie provisorisch etwas zusammen, Emanuil rührte die Salzlösung an, die sie in die Plastikflasche füllten, Ilena legte die Infusion in Razvans Handrücken und fixierte seinen Arm mit einem Schal am Bettrahmen, damit er sich die Nadel nicht versehentlich herausreißen konnte.

Geschafft starrten sie am Ende alle drei auf den halbtoten Kerl auf dem Bett. Ilena hatte ihm womöglich das Leben gerettet, viel schneller als es ein Krankenwagen überhaupt her geschafft hätte. Es war verdammt knapp gewesen. Doch jetzt konnten sie nur abwarten und hoffen, dass sich sein Zustand stabilisierte. 

36

„Ich brauch jetzt erstmal einen Schnaps. Zum Glück sind wir hier in der Wohnung eines Säufers.“, schnaufte Emanuil fertig und schlurfte aus dem Zimmer. Andrei folgte ihm. Ilena streichelte derweilen über Razvans Haar und flüsterte: „Du hast mir einen riesigen Schrecken eingejagt. Bitte mach das nie wieder.“ Dann ging auch sie hinaus, ließ die Tür aber offenstehen.

Gemeinsam setzten sie sich auf die Couch. Emanuil hatte inzwischen drei Gläser und eine Flasche Fusel geholt, goss jedem einen ein, sie stießen an und kippten sich den Schnaps hinunter. Durch die offene Schlafzimmertür konnten sie genau sehen, wie der Patient regungslos auf dem Bett lag.

Nach ein paar Minuten fragte Ilena ins Schweigen: „Hat er versucht sich umzubringen?“ Emanuil fühlte sich angesprochen und antwortete gedankenverloren: „Das glaube ich irgendwie nicht. Ihn muss etwas vollkommen aus der Fassung gebracht haben. Nur was?“ Andrei stand unterdessen auf, murmelte: „Ich brauch nen Schluck Wasser.“ und schlurfte in die Küche. Als er in dem Chaos ein sauberes Glas suchte, fiel ihm das Schreiben unter dem Kaffeehäufchen auf dem Tisch auf. Vorsichtig hob er es an und schüttelte das dunkelbraune Pulver ab. Dann las er die ersten Zeilen, seufzte bestürzt, nahm die Zettel mit ins Wohnzimmer und hielt sie den anderen beiden mit den Worten hin: „Ich denke, das dürfte ihn komplett aus der Fassung gebracht haben.“ Emanuil griff danach und las im Flüsterton vor: „Anklage wegen Freiheitsberaubung, Körperverletzung und sexueller Nötigung.“ Er schluckte und sprach weiter: „Verdammte Scheiße, was hat er mit ihr gemacht?“ „Das hat er also mit ‚Sie war so kalt.’ gemeint.“, warf Ilena betreten ein. Irritiert sah Emanuil sie daraufhin an, weshalb sie sich zu einer weiteren Erklärung aufgefordert fühlte: „Ich hatte ihn gefragt, ob er schon mal jemand anderem weh getan hätte und warum, das war seine Antwort.“

Andrei hatte sich wieder gesetzt, genehmigte sich einen weiteren Schluck Schnaps und vergrub danach das Gesicht in den Händen. Er war völlig kaputt. Ilena klopfte ihm freundschaftlich auf den Rücken und meinte: „Ich danke dir sehr, dass du da bist. Ohne dich hätten wir ihn nicht retten können. Du bist ein guter Freund.“ Jetzt wand sich Andrei ihr zu und erwiderte: „Ich hab dich falsch eingeschätzt. Nach Razvans Geschichten dachte ich du würdest ihn nur ausnutzen wollen, aber scheinbar hast du ihn wirklich gern.“ Sie lächelte verlegen. Dann stand er auf und sagte: „Nehmt es mir bitte nicht übel, ich hab Frühschicht, muss um fünf aufstehen und das hier hat mich echt mitgenommen. Wenn ihr mich noch braucht, bleib ich gerne da, aber wenn nicht, würde ich jetzt gern heim gehen und noch ein wenig schlafen.“ „Alles klar, Kumpel. Ruh dich aus. Ich halt dich auf dem Laufenden.“, erwiderte Emanuil freundlich, stand ebenfalls auf und gab ihm zum Abschied die Hand. Kurz ging Andrei noch einmal zu Razvan ins Zimmer, sah ihn für einen Moment stumm an, tippte ihm dann leicht auf den Arm und flüsterte: „Alter, reiß dich ja zusammen und steh das hier durch. Ich fände es sehr scheiße wenn ich mich an einen neuen Kollegen gewöhnen müsste.“ Danach verließ er wortlos die Wohnung.

37

Eine Zeit lang war es ganz still. Dann schenkte Emanuil noch einmal nach und schob Ilena das Glas mit einer Frage hin: „Wie kommt es eigentlich, dass du vorhin so schnell wusstest, was zu tun ist?“ „Ich arbeite in der Notaufnahme.“, antwortete sie knapp und trank. Doch Emanuil wollte mehr wissen: „Und wie habt ihr euch kennengelernt?“ Daraufhin sah Ilena ihn skeptisch an und konterte: „Ihnen hat er nichts von mir erzählt?“ „Bitte sag Du, sonst komm ich mir so alt vor.“, meinte Emanuil mit einem Lächeln und fügte an: „Nein, ich hatte keinen Schimmer. Obwohl ich denke, dass er mir vertraut, fällt es ihm manchmal sehr schwer mir bestimmte Dinge zu erzählen. Das ist schade. Ich könnte ihm viel besser helfen, wenn er mehr mit mir sprechen würde und ich ihm nicht alles aus der Nase ziehen müsste.“ „Okay, dann erzähl ich dir, wie wir uns kennengelernt haben. Das war ziemlich schräg.“, antwortete sie nett und breitete die Geschichte ihres ersten Zusammentreffens in dem kleinen, schäbigen Metalclub aus. Emanuil konnte kaum glauben, dass sich Razvan wirklich alleine dorthin getraut hatte, wertete es als mutig und leichtsinnig zugleich.

Eine Weile lang schwiegen sie wieder bis Ilena sprach: „Er hat mir viel über seine Vergangenheit berichtet, alles was nach dem Tod seiner Eltern und seiner Schwester passiert ist, dem Job als Drogenkurier, die Prostitution, die Gewalt und wie du ihn da rausgeholt hast. Mich beschäftigen aber noch ein paar weitere Fragen, die er mir nicht beantworten wollte. Was geschah vorher? Wie ist seine Familie ums Leben gekommen? Woher kommt diese tiefsitzende Traurigkeit, die ich ständig bei ihm spüren kann?“ Emanuil atmete tief durch, trank noch einen Schnaps und antwortete dann: „Du weißt, dass ich dir das nicht erzählen darf. Ich kann nur so viel sagen. Dieser Junge hat schon so viel Scheiße in seinem Leben mitgemacht, dass du es dir nicht einmal vorstellen willst. Es ist verdammt lieb von dir, dass du dir so aufrichtig Sorgen um ihn machst und dich um ihn kümmerst, aber glaube mir, es wird nicht einfach. Wenn du es nicht einhundertprozentig ernst meinst, solltest du die Notbremse ziehen, solange du noch kannst. Er wird es nicht verkraften wenn du später merkst, dass es dir zu viel ist und ihn dann verlässt.“ „Was ist passiert?“, blieb Ilena hartnäckig und ignorierte damit die Ansprache des Therapeuten. Emanuil sah sie freundlich an und antwortete: „Wenn du das wirklich wissen willst, und das hast du jetzt nicht von mir, er hat als Kind ein Tagebuch geschrieben. Das war Bestandteil der Verhandlungen und dürfte sich noch irgendwo hier in der Wohnung befinden. Ich glaube nicht, dass er es geschafft hat dieses Scheißding endlich zu vernichten. Dafür verfolgt ihn seine Kindheit immer noch viel zu sehr.“

Jetzt stand Emanuil auf und ging zu Razvan ins Schlafzimmer. Betrübt starrte er den jungen Mann an. Die Kochsalzlösung war schon beinahe vollständig versickert. Auf einmal krümmte sich Razvan schmerzerfüllt zusammen und stöhnte. Ilena hatte sich inzwischen zu ihnen gesellte und bemerkte: „Das wird ein verdammt harter Entzug. Er wird Schmerzen haben.“ Emanuil seufzte.

Kurz darauf meinte er: „Wenn es für dich okay ist, geh ich jetzt auch heim. Ich kümmere mich morgen um einen Anwalt für den Jungen. Ein Kumpel schuldet mir noch einen Gefallen. Aus der Sache kriegen wir ihn bestimmt mit einem blauen Auge wieder raus. Da bin ich ganz zuversichtlich.“ Ilena nickte und sprach: „Das schaff ich schon. Als erstes werde ich mir morgen frei nehmen und diese Wohnung ausmisten. Alles was Alkohol und andere Drogen betrifft, schmeiß ich einfach weg. Er braucht eine saubere Umgebung.“ „Gute Idee.“, antwortete Emanuil, legte auf einmal seine Arme um sie und flüsterte: „Er kann froh sein jemanden wie dich gefunden zu haben und ich bin es auch. Ruf an, wenn irgendwas ist. Ich bin immer erreichbar.“ Sie verabschiedeten sich.

38

Sobald Emanuil zur Tür hinaus war, begann Ilena ihre Suche. Sie sah in jeden Schrank, durchstöberte jedes Regal und wurde am Ende tatsächlich fündig.

Sie saß auf dem Sofa und hatte das Tagebuch vor sich auf dem Couchtisch liegen. Es fühlte sich so falsch an und trotzdem übermannte sie die Neugier. Doch schon der erste Eintrag trieb ihr die Tränen in die Augen. Razvan musste zu der Zeit sieben Jahre alt gewesen sein und schrieb mit krakeliger Handschrift:

„Onkel Vasile hat am Wochenende auf uns aufgepasst. Mama und Papa waren nicht da. Er hat mit uns gespielt. Das Spiel heißt Onkel Doktor. Ich mag es nicht. Es tut weh.“ Sie wusste genau was gemeint war und blätterte mit zitternden Händen ein paar Seiten und damit ein paar Jahre weiter. „In den Ferien waren wir bei Verwandten zu Besuch. Ich denke nicht, dass es wirklich Verwandte sind. Vater und Mutter wollten alleine sein und bestimmt ein neues Baby machen. Sie sagen, das letzte ist verloren gegangen. Wir haben jeden Abend gefeiert. Es gab immer gutes Essen. Trotzdem hat es mir nicht gefallen. Ohne Kleidung fühle ich mich unwohl und ständig sollten wir bei jemand anderem auf dem Schoß sitzen.“ Sie konnte nicht weiterlesen und überflog mit verschwommenem Blick die nächsten Seiten. Es ging immer so weiter, unzählige Fälle von Missbrauch und Gewalt gegen Kinder, akribisch aufgelistet in einem Tagebuch, das er wohl jahrelang vor seinen Eltern versteckt gehalten hatte.

Ilena klappte das Buch zu, schob es von sich weg und lehnte sich zurück. Mit dem Blick ins Schlafzimmer gerichtet, wo er so still und einsam lag, lehnte sie sich zurück und versuchte sich zu beruhigen. Erst Minuten später wagte sie es erneut in die Schrift hineinzusehen und schlug die letzte beschriebene Seite auf. „Das letzte Wochenende war zum kotzen. Meine scheiß Eltern waren wieder einmal weg, wollten sich um sich selbst und das neue Baby kümmern. Ich hab keine Ahnung wie oft Mutter jetzt schon schwanger war, aber den Bastard scheinen sie behalten zu wollen. Vaseli war wieder hier. Er hatte eine Kamera dabei und sich fast die ganze Zeit mit meiner Schwester im Zimmer eingeschlossen. Wir durften das Haus nicht verlassen. So ein Arschloch. Nächstes Wochenende soll er schon wieder vorbei kommen. Ich weiß nicht was da läuft. Es kotzt mich alles total an.“

Das war also der letzte Eintrag. Einerseits war Ilena am Boden zerstört andererseits unzufrieden. Dieses Tagebuch erklärte so vieles. Razvans Kindheit war furchtbar gewesen, gezeichnet von Missbrauch, Gewalt und Desinteresse. Beinahe hatte sie den Eindruck, dass seine Eltern diese schrecklichen Situationen noch gefördert und ihre Kinder freiwillig all diesen Perversen überlassen hatten. Es lag jenseits ihrer Vorstellungskraft, wie man das seinem eigenen Kind antun konnte. Jetzt wusste sie woher dieses tiefe Misstrauen und die Traurigkeit kamen. Aber es endete so abrupt, klärte nicht was danach passiert war, wie sie alle ums Leben kamen.

Früher oder später würde sie auch das erfahren. Für den Moment musste sie einfach stark sein und ihm helfen diese neue schwierige Situation zu meistern. Bewegt und voller Verständnis ging sie daraufhin ins Schlafzimmer, sah nach dem Tropf, fühlte Razvans Puls und kontrollierte die Atmung. Er sah furchtbar aus. Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn, er atmete schwer und krümmte sich immer wieder. Ilena beschloss ihn von der Infusion zu befreien, zog vorsichtig die Nadel aus einem Handrücken und löste die Schlaufe, die ihn an das Bettgestell fesselte. Sofort rollte er sich in sich zusammen. Sie konnte seine Schmerzen und sein Elend mitfühlen, legte sich zu ihm aufs Bett und umschloss ihn mit ihren Armen. Es schien ihn ein wenig zu beruhigen.

Irgendwann schlief sie ein und erwachte erst wieder als sich Razvan in ihrem Arm wand und drehte.

39

Als ich langsam zu mir kam, fühlte ich mich kalt und irgendwie betäubt an. Ilena lag neben mir, hatte sich an mich geschmiegt und ihren Arm um mich gelegt. Mir tat alles weh, mein Schädel brummte und ich hatte ernsthafte Erinnerungslücken. Die Augen konnte ich nur einen kleinen Spalt weit öffnen.

Krampfhaft versuchte ich mich daran zu erinnern was gestern geschehen war, oder war es vorgestern gewesen? Das Letzte was mir einfiel, war diese verdammte Spritze, die mir wohl den Rest gegeben hatte. War ich vielleicht tot? Bildete ich mir das alles ein? Ilenas warmer Atem hauchte in mein Genick und ich war mir sicher noch am Leben zu sein. Wollte ich das? Wäre ich tot nicht glücklicher? Prompt kam mir dieses beschissene Schreiben wieder in den Sinn und sofort fuhr ein krampfartiger Schub durch meinen gesamten Körper.

Ilena wachte auf und flüsterte hinter mir: „Willkommen zurück unter den Lebenden.“ Betreten hauchte ich: „Warum hast du mich nicht sterben lassen? Bei mir geht gerade vollends alles den Bach hinunter. Bitte lass mich los, vergiss mich.“ „Ich will dich nicht so einfach aufgeben und deine Freunde tun das auch nicht.“, konterte sie leise. Verächtlich krächzte ich: „Welche Freunde denn?“ „Andrei und Emanuil haben dir gemeinsam mit mir das Leben gerettet. Wenn das kein Freundschaftsbeweis ist, weiß ich auch nicht.“, stellte sie unbeirrt fest.

„Und jetzt? Ich werde ins Gefängnis gehen.“, erwiderte ich bestürzt. Daraufhin richtete sich Ilena auf und erklärte: „Nein, das wirst du nicht. Emanuil kümmert sich um einen Anwalt für dich. Vertrau ihm. Er weiß was er tut und wird dir helfen mit einem blauen Auge aus der Sache rauszukommen. Außerdem bin auch ich für dich da.“ Ich schniefte. Das hatte ich nicht verdient. In der Hölle schmoren wäre eine gerechtere Alternative gewesen. Aber vielleicht war dieses Leben meine persönliche Hölle. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass es wirklich jemanden gab, dem ich am Herzen lag. „Wir kümmern uns um dich. Du bist nicht mehr allein.“, redete Ilena beruhigend auf mich ein und legte sich wieder hin.

Ich konnte es nicht glauben, dass sie immer noch an meiner Seite stand, nach allem was sie bisher erfahren hatte und mit mir durchmachen musste. Ich hatte ein unglaublich schlechtes Gewissen, dass ich ihr das alles zumutete.

Nach ein paar Minuten Stille sagte sie überraschend: „Ich habe dein Tagebuch gefunden.“ Mein Herz ballte sich schlagartig zusammen. „Ich muss gestehen, dass ich auch darin gelesen habe.“, sprach sie leise weiter. Ich konnte etwas Entschuldigendes ihrer Stimme entnehmen. „Und?“, würgte ich hervor. „Was ist nach dem letzten Eintrag passiert?“, fragte sie schließlich mit einiger Überwindung.

Ich hatte nichts mehr zu verlieren und erzählte gebrochen meine traurige Geschichte:

„Meine Eltern waren das Wochenende über nicht da gewesen. Vaseli sollte wiederholt auf uns aufpassen und hatte wieder seine Videokamera dabei. Ich rechnete damit, dass er sich erneut mit meiner Schwester im Zimmer einschließen würde und war sehr überrascht als er mich dazu holte. Es war grauenhaft. Er zwang uns Dinge zu tun, die Geschwister nicht miteinander tun sollten. Bis dahin war Dina mein einziger Halt gewesen, sie verstand mich, litt mit mir. Wir trösteten uns gegenseitig. Doch nach diesen zwei Tagen konnte ich ihr nicht mehr in die Augen sehen. Zwischen uns war etwas zerbrochen. In uns war etwas zerbrochen.

Sonntagabend kamen meine Eltern zurück, Vaseli ging und wir mussten zeitig ins Bett. Ich weinte mich alleine in den Schlaf. Am nächsten Morgen ging ich pünktlich früh in die Küche. Wenn wir unpünktlich waren, gab es Ärger. Sie saßen da als wäre alles in Ordnung. Nur Dina fehlte. Am Frühstückstisch wurde nicht gesprochen.

Als auch nach weiteren zehn Minuten meine Schwester nicht auftauchte, ging mein Vater sie holen. Allerdings kam er schon nach wenigen Augenblicken alleine zurück, war kreidebleich und brachte keinen Satz heraus. Deshalb ging meine Mutter zu Dinas Zimmer, kam ebenfalls kurz darauf vollkommen blass zurück und begann meinen Vater lautstark zu beschimpfen und anzuschreien.

Ich wusste überhaupt nicht was los war, schlich mich davon und wollte mir selbst ein Bild darüber machen. Als ich aber die Tür zu ihrem Zimmer aufstieß, bekam ich einen Schock und etwas starb in mir. Sie lag regungslos auf dem Bett, ihre Arme und unter ihr war alles voller Blut. Ich kapierte sofort, dass sie sich umgebracht hatte und wankte völlig verstört zurück in die Küche, wo sich meine Eltern inzwischen heftig stritten.

Ich kam gerade dazu als meine Mutter meinen Vater angriff, er sie brutal niederschlug und begann auf sie einzutreten, trotz dass sie bereits am Boden lag und ja auch schwanger war. Von der Situation völlig überfordert stürmte ich auf ihn zu und wollte ihn davon abhalten ihr weiter wehzutun, doch er schubste mich einfach mit einem kräftigen Stoß weg und ließ seiner Aggression freien Lauf.

Da machte es irgendwie Klick. Ich zog das Fleischermesser aus dem Küchenblock, schlich mich rücklings an ihn heran und rammte ihm die Klinge in die Seite. Erschrocken knickte er ein und fasste sofort nach dem Griff. Ich wich ein paar Schritte zurück, sah das bösartige Funkeln in seinen Augen als er mich kurz anstarrte. Dann machte er sich daran das Messer aus seinem Leib zu ziehen. Ich wusste genau, dass er mich damit umbringen würde, wenn ich nichts unternähme.

Also holte ich das zweitgrößte Messer, das ich finden konnte, rannte schreiend auf ihn zu und stach es mit voller Wucht in seinen Hals. Alles war auf einmal voller Blut. Er schlug auf dem Boden auf, zappelte und wand sich. Ich hatte ihn böse erwischt und war mir sicher, dass er bald nie wieder jemandem Leid antun würde.

Also wagte ich mich zu meiner Mutter. Sie lag beinahe regungslos da, war mit Platzwunden übersät und ihr Gesicht bereits angeschwollen. Ich kniete mich neben sie, hob ihren Kopf auf meinen Schoß und sah dabei zu wie ihr Augenlicht brach. Ich ahnte dass sie mir am liebsten gesagt hätte, wie leid ihr das alles tat und dass sie vieles bereute. Doch dafür war es zu spät.

Als sie gegangen war, legte ich ihren Kopf vorsichtig zurück auf den Boden, lief zum Telefon und rief die Polizei. Danach begab ich mich ins Zimmer meiner Schwester, setzte mich zu ihr aufs Bett, legte ihren leblosen Arm um meine Schultern und wartete.“