Die andere Seite des Spiegels

1

Den Kopf in die Hand gestützt saß sie trübsinnig und gedankenverloren am Tresen. Ein Glas Wein stand vor ihr, das fünfte an diesem Abend. Zwei junge Männer bahnten sich ihren Weg durch das Lokal und scherzten lautstark. „Hast du die Gesichter der Leute gesehen? Das reine Entsetzen! Fantastisch!“ „Ja!“, rief der andere und prahlte weiter: „Da haben wir einen gewaltigen Schaden angerichtet. Das soll erstmal einer nachmachen.“ Sie wusste wer die zwei waren, hatte sie an den Stimmen erkannt und entschloss sie keines Blickes zu würdigen.

Die zwei Kerle gesellten sich zu einem dritten an den Tisch, der sie mit kumpelhaftem Schulterklopfen und freudiger Zustimmung empfing. Es war ihr Vater, der voller Stolz auf seine Söhne gleich eine Runde für das ganze Lokal bestellte.

Angewidert stand die Frau von der Bar auf und verließ frustriert die Kneipe. Sie konnte sich diese selbstzufriedene Prahlerei nicht anhören. Diese Leute richteten den größtmöglichen Schaden an und sie durfte die Scherben zusammenkehren. Sie mussten sich ja nicht die abgetrennten Gliedmaßen und zerfetzten Leiber ansehen, die Tränen und das Leid ertragen.

 

Kurz darauf lag sie ausgestreckt auf dem Fußboden in ihrem Apartment, in ihrer Hand eine halbleere Flasche Schnaps, und stierte wie in Trance an die Decke. War es schlimmer geworden? Schon eine gefühlte Ewigkeit beseitigte und verwaltete sie die Überreste der Grausamkeiten, die ihr Neffe und dessen Söhne hinterließen. Sie waren eindeutig heimtückischer geworden, bewegten sich auf einem hinterhältigen Niveau, das Seinesgleichen suchte, spielten mit der Angst der Menschen, stachelten sie an und brachten sie dazu unbeschreibliche Dinge zu tun. Es war ihr nicht wohl dabei und sie befürchtete zunehmend, dass sie irgendwann völlig die Kontrolle verloren und alles in einer gewaltigen Orgie der Zerstörung enden würde. Und trotzdem lag es nicht in ihrer Verantwortung etwas dagegen zu tun. Sie konnte nicht gegen sie vorgehen ohne einen Krieg in den eigenen Reihen loszutreten.

Mühsam richtete sie sich daraufhin auf, schritt langsam zu dem großen Panoramafenster ihrer Wohnung und starrte betrübt auf den Horizont dieser blaugrauen Welt. Die Geschichte schien sich ständig zu wiederholen. Es gab Herrscher und Beherrschte, Sieger und Verlierer und überall setzten sich die einen gewaltsam gegen die anderen durch. Die Gründe dafür schienen so vielzahlig und liefen doch immer wieder auf wenige inhärente Eigenarten hinaus, Gier, Eitelkeit, Neid und Hochmut. Unter dem Deckmantel der Religion wurden Kriege geführt, die genauso auf diese niederen Beweggründe zurückgeführt werden konnten wie ein Krieg um Ressourcen. Sie wusste, dass auch die Menschen zu mehr fähig waren. Sie lebten nun lange genug auf diesem Planeten um es eigentlich besser zu wissen und doch schafften sie es nicht den Affen in sich zu überwinden, der seinem Artgenossen die Frucht wegnahm nur weil er stärker war.

Sie wollte nicht länger wortlos zusehen, wie sie diesen schönen, so wertvollen Planeten an den Rand des Abgrunds und der totalen Vernichtung führten.

Also entschloss sie sich zu einem gewagten Schritt. Sie würde ihren Bruder in ihre trübsinnigen Gedanken einweihen und versuchen ihn zu überzeugen, dass ein Eingreifen unabdingbar war. Immerhin war es dessen Sohn, der seine verzogene Brut ungebändigt auf die Menschheit los ließ.

 

Noch am gleichen Abend lud sie sich deshalb selbst ein und stand plötzlich völlig unerwartet vor der Tür des Anwesens ihres Bruders. Ein Angestellter ließ sie herein und führte sie in ein edel gestaltetes Zimmer mit Kamin und großer Glasfront, die einen herrlichen Blick auf den Sonnenuntergang ermöglichte. Im gleißenden Licht konnte sie die Gestalt eines Mannes ausmachen, der sie plötzlich überraschend freudig begrüßte: „Hallo meine Beste! Welch seltener Besuch! Was führt dich in meine bescheidene Hütte?“ Ihr Bruder kam schnellen Schrittes auf sie zu und umarmte sie herzlich. Ohne Umschweife erklärte sie daraufhin den Grund ihres Erscheinens: „Ich bin hier, weil ich eine ernste Angelegenheit mit dir besprechen möchte, die schon länger wie Feuer unter meinen Nägeln brennt.“ Ihr Bruder legte eine Hand auf ihre Schulter, sah ihr in die Augen und erwiderte freundlich: „Aber natürlich. Komm, setzen wir uns. Möchtest du etwas trinken?“ Sie nickte.

Wenige Augenblicke später, der Sonnenuntergang hatte seine Farbe inzwischen vom grellen Gelb in ein feuriges Rot verwandelt und tauchte den Raum in ein loderndes Schattenspiel, saßen sie sich in bequemen Sesseln gegenüber, jeder mit einem Glas Brandy in der Hand, und belauerten sich gegenseitig. „Also, was ist dein Anliegen?“, wollte der Bruder nun wissen. Sie wusste nicht recht wie sie beginnen sollte und ließ die Worte deshalb einfach fließen: „Ich bin über die Entwicklungen auf der Erde beunruhigt. Dein Sohn hat meiner Meinung nach völlig den Bezug zur Realität verloren und lässt seine Sprösslinge tun und lassen, was sie wollen. Er ermuntert ihr schadhaftes Verhalten sogar noch. Diese Gewalt, dieser Terror, das muss irgendwann doch mal ein Ende haben. Findest du nicht auch?“ „Wie kommt es, dass dich das auf einmal interessiert?“, bekam sie als trockene Antwort. Sie stand auf und ging langsam in das tiefrote Licht des Fensters während sie erklärte: „Du weißt, dass ich schon immer etwas für die Erde übrig hatte. Zu lange sehe ich mir schon an, wie sie Stück für Stück vernichtet wird. Bald sind wir an einem Punkt angelangt, an welchem der Schaden irreparabel sein wird. Findest du das nicht besorgniserregend?“ „Die Menschen fügen selbst ihrer Welt diesen Schaden zu. Das liegt in ihrer Natur.“, versuchte ihr Bruder sie zu beeinflussen, doch sie ließ sich nicht beirren, drehte sich zu ihm um und erwiderte eindringlich: „Das muss aber nicht sein. Wenn die Kriege endlich aufhören und sie die Angst voreinander, vor dem Leben und dem Tod gleichermaßen endlich überwinden dürften, könnten sie sich auf andere, wichtigere und größere Dinge konzentrieren. Sie könnten ihre Welt in die strahlende Perle zurückverwandeln, die sie einst war. Du weißt, wie selten Planeten dieser Art sind.“ Jetzt stand auch ihr Bruder auf und sein Ton wurde etwas härter: „Das ist aber nicht allein unsere Entscheidung. Den Menschen dieses Wissen zu offenbaren, darin muss der gesamte Rat einwilligen. Das ist gefährlich. Du weißt wie sehr jeder von denen auf seiner Machtposition beharrt. Da kannst du nicht einfach hingehen und fordern, dass sie reinen Tisch machen und das gesamte Weltbild, das über die Jahrtausende entstanden ist, wieder erschüttern.“ „Früher oder später werden es die Menschen aber sowieso herausfinden. Je früher, desto besser, umso größer ist die Chance, dass die Erde auch die nächsten Millionen Jahre übersteht. Ich finde, es ist an der Zeit, dass sie die Wahrheit über sich und den Kosmos erfahren.“, drängte sie daraufhin und eilte auf ihren Bruder zu. Aber der blieb hartnäckig anderer Meinung: „Nein. Sie müssen die Wahrheit selbst herausfinden, erst dann sind sie auch bereit dazu. Alle menschlichen gesellschaftlichen Strukturen würden plötzlich in sich zusammenbrechen. Ihre Welt würde ins Chaos stürzen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du das wirklich möchtest.“

Sie ließ sich wieder in den Sessel fallen, vergrub das Gesicht in den Händen und sprach leise: „Ich denke, du unterschätzt diese Wesen vollkommen. Es sind nicht alles kleine dumme Bauern. Und wenn sie sich einmal ihrer Position in diesem Universum bewusst werden, könnten sie bessere Entscheidungen treffen, für sich und ihren Planeten. Es wäre ein nächster evolutionärer Schritt.“ „Den du vor der Zeit erzwingen möchtest.“, unterbrach ihr Bruder sie harsch. Genervt erhob sie sich nun wieder und konterte: „Du bist auch nicht anders als die restlichen machtgierigen Kontrollfreaks in diesem Rat. Ihr wollt gar nicht, dass sich etwas verändert. Bisher hat jeder von euch ein Stück vom Kuchen abbekommen und dabei soll es auch bleiben. Ihr habt nur Angst, dass die Menschen euch dann mit anderen Augen sehen und euch nicht mehr die Anerkennung zukommen lassen, nach der ihr euch wie Junkies sehnt. Das ist erbärmlich!“ „Hüte deine Zunge, Schwester!“, wurde der andere laut und erhob drohend die Hand. Doch sie schüttelte nur verächtlich den Kopf und sprach beim Hinausgehen: „Dann versuch wenigstens deinen Sohn und seine Ausgeburten etwas in die Schranken zu weisen, bevor sie alles zerstören, worauf wir über all die Jahre aufgebaut haben. Sie zersägen den Ast, auf welchem auch du und deine Freunde sitzen!“ Mit einem lauten Krach ließ sie die Tür hinter sich zufallen und eilte davon. Verwirrt und verärgert blieb ihr Bruder zurück.

 

Später saß sie dann im Schneidersitz auf dem Boden in einem kleinen, vollkommen schwarzen Raum. Eine Wand war komplett mit einem technisch anmutenden Rahmen umgeben, der ein seltsames Bild umschloss. Es war ein Blick in das Lager und die Werkstatt eines Museums. Tiefe schwarze Risse durchfurchten wie Adern das vermeintliche Gemälde und eine größere Stelle war noch vollkommen schwarz. Über die Jahre hatte es sie immer wieder hierher gezogen. Es war ein Blick in eine andere Welt, eine Welt, die sie irgendwann vielleicht wieder betreten würde.

Das Gespräch mit ihrem Bruder war ganz und gar nicht so verlaufen, wie sie sich das erhofft hatte. Den einstigen Betrug hatte sie ihm zwar verziehen, nicht vergessen, aber dass sie nach wie vor so wenig Gehör bekam, machte ihr noch mehr zu schaffen. Er und der Rat nahmen sie einfach nicht ernst, waren durch ihre Macht erblindet, obwohl sie doch genau wussten, wozu sie fähig war. Vielleicht hatten sie es vergessen und es war an der Zeit einmal mehr die eigene Kraft zu demonstrieren. Nur wie?

Plötzlich kam Bewegung ins Bild. Zwei Personen betraten die Werkstatt. Sie zauberten ein freudiges Strahlen auf ihr Gesicht.

Der etwas ältere Herr lief eilig auf einen Tisch zu und erzählte dabei aufgeregt seiner jungen Begleiterin: „Vanessa, ich muss dir unbedingt etwas zeigen!“ Fast schon gelangweilt trottete sie hinter ihm her, warf ihre Tasche in eine Ecke und murrte: „Welches Stück Porzellan hast du denn dieses Mal gefunden?“ Er griff nach dem Deckel einer unscheinbaren Holzkiste auf dem Tisch und drehte sich mit einem breiten Lächeln zu ihr um. „Kein Porzellan, eine Spiegelscherbe.“, sagte er dazu und öffnete ihn. Jetzt sprang die Beobachterin auf einmal wie angestochen aus ihrem Schneidersitz hoch und auch Vanessa schien hellhörig zu werden.

Vorsichtig näherte sie sich der Truhe und äugte hinein. „Siegbert, ist das etwa die letzte?“, flüsterte sie schon beinahe ängstlich. Siegbert nickte nervös und erklärte: „Sie kam heute Morgen an. Man hat sie in einer Ausgrabungsstätte auf den Philippinen entdeckt, Butuan City. Diese Ecke war fast noch der einzige Flecken Erde, auf der sie sich befinden konnte, weshalb ich schon länger Kontakt zu allen Leitern der verschiedenen Stätten halte. Die können mit dem Stück Glas nichts anfangen, ich aber schon.“

Vorsichtig nahm er das zerbrechliche Artefakt aus der gepolsterten Kiste und streifte behutsam die Stoffbahnen ab, die es als zusätzlichen Schutz umhüllten. Nicht nur die zwei hielten dabei wie gebannt die Luft an, auch ihre stille Beobachterin wagte es vor Anspannung nicht zu atmen. „Ich wollte dass du unbedingt dabei bist, wenn der Spiegel komplettiert wird und brauche deine Hilfe die Scherbe richtig einzusetzen.“, sprach Siegbert leise weiter, als könne jedes lautere Wort das Glas beschädigen. Vanessa nickte stumm und holte den Kleber.

Sie kam seit Beginn ihres Archäologiestudiums regelmäßig in dieses Museum, hatte sich irgendwann reinzufällig mit Siegbert angefreundet und sich von seiner Begeisterung für diesen uralten Spiegel, unbekannter Herkunft anstecken lassen. Er arbeitete schon über dreißig Jahre lang an diesem Objekt und wusste wahrscheinlich mehr darüber als er ihr anvertrauen wollte. Doch das war für sie in Ordnung, so lange sie bei der Vollendung dabei sein durfte.

Sie befestigten eine Sperrholzplatte am Rahmen des Spiegels, die auch das Loch abdeckte und das letzte Stück in Position halten sollte solange der Kleber trocknete. Mit äußerster Vorsicht brachte Siegbert dann einen Saugnapf am Glas der Scherbe an während Vanessa die Kanten der Spiegelstücke um das Loch herum behutsam mit einer großzügigen Schicht Glaskleber versah, ein riesiges Puzzle aus zerbrechlichen Teilen.

Nervös ging die Beobachterin auf und ab, konnte kaum zusehen wie sie die letzte Scherbe in Position brachten, fieberte genauso mit und teilte die faszinierte Freude als die Spiegelfläche endlich wieder komplett war, nach all der Zeit.

Vanessa und Siegbert wischten noch vorsichtig den überschüssigen Kleber ab, der aus den Ritzen quoll, und traten dann gebannt ein paar Schritte zurück um sich das Meisterwerk in all seiner Schönheit zu betrachten.

Sie zitterte vor Freude und hätte sich am liebsten den beiden in diesem Moment an den Hals geworfen, doch das ging leider nicht. Auch wenn nun die Fläche komplett war, so fehlte doch ein winziger aber äußerst wichtiger Teil um die wahre Bedeutung dieses uralten Objektes zu offenbaren.

„Und nun?“, flüsterte Vanessa ein paar angespannte Sekunden später. „Ich weiß es nicht.“, hauchte Siegbert. In seiner Stimme lag ein Hauch von Erleichterung aber auch Wehmut. Verdutzt schaute ihn die Studentin an. Er sprach: „Mein Lebenswerk wird nie vollendet sein.“, ging näher an den Spiegel hinan und deutete auf eine leere Stelle im Rahmen. Noch nie hatte sie sich diesen genauer angesehen und musste nun feststellen, dass auch der eine gewisse Faszination in sich barg.

Wie dünne Äderchen überzogen goldene Bahnen seine gesamte metallisch glänzende Oberfläche, verzweigten sich und verbanden dabei Edelsteine verschiedener Farbe und Herkunft. Und genau einer dieser Steine schien zu fehlen, zumindest klaffte an einer Stelle, zu der eine ganze Reihe dieser Goldäderchen sternförmig führte, eine leere Fassung. „Es ist der Schlussstein, der fehlt.“, erklärte Siegbert, seufzte und murmelte: „Leider wirst du wohl in den Wellen der Zeit verborgen bleiben.“ Misstrauisch hinerfragte Vanessa seine Aussage: „Was bewirkt dieser Schlussstein denn?“ Siegbert sah sie lächelnd über ihr Spiegelbild an und meinte: „Ich glaube es ist an der Zeit, dir etwas mehr über dieses geheimnisvolle Objekt zu erzählen. Lass uns aber erst einen Kaffee holen gehen.“

 

2

Überwältigt und ernüchtert sank sie wieder zu Boden. Ja, es könnte wohl ein weiteres Menschenleben lang dauern bis das letzte Teil gefunden wurde. Vielleicht würde ja Vanessa diese Aufgabe übernehmen, wenn Siegbert es nicht mehr schaffen sollte? Sie gefiel ihr seit dem ersten Augenblick als sie die Werkstatt betreten hatte. Sie war clever und neugierig, etwas Geheimnisvolles umgab sie und sie stellte immer die richtigen Fragen. Ohne ihr Wissen war sie ihr mehrfach gefolgt, hatte sie in die Uni begleitet und in Prüfungen hinter ihr gesessen. Nie hatte sie ihre Anwesenheit bemerkt, nie hatte sie ihr zugeflüstert. Sie war wie ein Schatten gewesen, anders bei Siegbert.

Als junger Mann kam dieser in das Museum, gerade ein paar Jahre nach dem Abschluss seines Studiums und einer Weltreise zu den wichtigsten Ausgrabungsstätten jener Zeit. Er war motiviert und ambitioniert, genau der Richtige um das Werk des damaligen Museumsleiters weiterzuführen, der in der Flut all seiner Aufgaben keine Zeit mehr für dieses wahnwitzige Projekt finden konnte. Also hatte sie sich ihm genähert, ihn auf die Unvollkommenheit dieses wunderschönen Objektes hingewiesen, ihm den Gedanken der Vervollständigung ins Ohr gesetzt und ihn immer wieder daran erinnert weiterzusuchen. Und Siegbert war ein offener Empfänger für diese Idee gewesen, stürzte sich mit Herzblut in eine Aufgabe, die seine Vorstellungskraft überstieg. Immer mehr Details entlockte er der verborgenen Geschichte und mit jedem Stück, das er fand, kam er der wahren, nahezu fantastischen Bedeutung näher.

 

Mit den Kaffeebechern in der Hand zogen sich Vanessa und Siegbert jeder einen Stuhl in angemessenem Abstand vor den Spiegel und setzten sich. Als sie an ihren Getränken genippt hatten und nicht einmal ahnten, dass sie dabei aufmerksam beobachtet wurden, begann Siegbert seine Erzählung: „Weißt du Vanessa, es ist schon lange her als ich damit begonnen habe diesen Spiegel wieder zusammenzufügen, um genau zu sein zweiunddreißig Jahre. Ich begann hier zu arbeiten und stolperte bald über eine große Kiste, in welcher der Rahmen in Einzelteilen und bereits ein paar der fehlenden Scherben gelagert waren. Irgendetwas sagte mir, ich solle mich näher damit beschäftigen, anfangen zu suchen und zu forschen. Bald war ich wie besessen von diesem Thema, recherchierte Tag und Nacht. Und als ich zwei weitere Teile gefunden hatte, begann ich das Puzzle zusammenzusetzen. Ich wusste nicht, wie viel noch fehlte und das würde mir Klarheit verschaffen. Der Rahmen konnte nur auf eine bestimmte Weise zusammengebaut werden, als hätte man ihn extra so zerlegt. Immer tiefer zog mich das Geheimnis in seinen Bann und ich fragte mich mehr und mehr, ob es sich wirklich nur um einen normalen Spiegel handelte oder um etwas weit größeres. Lange blieb mir der wahre Sinn verborgen.“ Er seufzte, nippte an seinem Kaffee und schwieg. Ungeduldig fragte Vanessa: „Und jetzt kennst du den wahren Sinn?“ Vor sich hin grübelnd erwiderte Siegbert leise: „Weißt du, dieser Spiegel ist wesentlich älter als alle glauben und als der Zustand verrät. Viele denken, er stammt aus der Nazizeit und war eine Sonderanfertigung für einen reichen Spinner. Das ist aber nicht so. Er wurde auch nicht willkürlich zerstört sondern sorgfältig in gut transportierbare Stücke zerteilt, die man überall auf der Welt versteckt hat.“ Wieder schwieg er. „Du hast mir immer noch nicht seinen Sinn verraten.“, durchschnitt Vanessa einen Augenblick später die Stille. Siegbert sah sie an, direkt in ihre braungrünen, fragenden Augen und forderte unsicher: „Du musst mir versprechen, dass du mich jetzt nicht für vollkommen verrückt hältst.“ Sie nickte angespannt und lauerte auf seine weiteren Ausführungen.

Siegbert stellte seinen Becher auf den Boden, stand auf und ging näher an den Spiegel heran. Mit den Fingern fuhr er dann über den Rahmen und flüsterte: „Diese Goldadern hier sind keine Verzierungen und die Edelsteine eigentlich ganz gezielt eingesetzte Kristalle, die es auf dieser Erde nur sehr selten gibt. Gut, ich bin kein Geologe, aber ich habe mich lange genug damit beschäftigt, dass ich diese Behauptung aufstellen kann. Es ist eine Art überdimensionale Leiterplatte, die den gesamten Rahmen umspannt, eine Steuereinheit.“ Zweifelnd lehnte sich Vanessa nun zurück und fragte weiter: „Zu welchem Zweck?“ Jetzt drehte sich Siegbert abrupt zu ihr um und antwortete geheimnisvoll: „Dieser Spiegel ist ein Portal in eine andere Welt.“ Sie zog ungläubig die Augenbrauen hoch, doch Siegbert erklärte unbeirrt weiter: „Ich weiß, dass das total verrückt klingt, bin mir aber mittlerweile zu achtundneunzig Prozent sicher darüber. Was fehlt, ist sozusagen der Schalter um dieses Ding in Betrieb zu nehmen.“ Er widmete sich wieder der glänzenden Fläche und murmelte: „Leider befürchte ich, dass dieser irgendwann vor ungefähr zweitausend Jahren zusammen mit dem Spiegel demontiert und noch besser verborgen wurde als der Rest.“

 

Die ganze Zeit über hatte sie in Erinnerungen schwelgend den Ausführungen von Siegbert gelauscht. Doch jetzt stand sie auf, denn anscheinend wollte der Mann seine Suche beenden. So kurz vor dem Ziel konnte sie das nicht zulassen und dachte angestrengt über eine Möglichkeit nach den zwei Menschen zu zeigen, dass es sich lohnte weiterzugehen, dass seine Vermutungen richtig waren und er nur noch dieses kleine Stück Geschichte finden musste um die großartigste Entdeckung der modernen Menschheit zu machen. Einem Geistesblitz folgend ging sie also ganz nah an das Bild heran und berührte es mit ihren Händen. Die Berührung löste eine Welle aus, die sich kringelnd über die gesamte Wand bewegte.

Völlig überrascht und mit einem Anflug von Panik rutschte Vanessa auf einmal mit ihrem Stuhl ein Stück weit zurück. Sie starrte wie gebannt auf den Spiegel. Siegbert erschrak heftig als er die Wellen sah, die sich auf einmal über die reflektierende Fläche bewegten, und machte einen Satz davon weg. Hektisch überrannten beide nun ihre Stühle und blieben in vermeintlich sicherer Entfernung stehen um das Phänomen weiter zu beobachten. Die Risse im Spiegel verschwammen zunehmend unter den Wellen flüssigen Glases und zurück blieb nach wenigen Sekunden eine vollkommen makellose, brillant spiegelnde Fläche.

Stotternd flüsterte Vanessa dann fassungslos: „Das hast du gerade auch gesehen, oder?“ Siegbert brachte keinen Ton hervor. Irgendwas zog sie jedoch magisch an und vorsichtig näherten sie sich dem Spiegel wieder als dieser sich beruhigt zu haben schien. Sich selbst überwindend ging Vanessa nun so nah heran, dass Siegbert sie sogar mahnte: „Sei vorsichtig!“ Aber sie wollte es wissen, streckte die Hand aus und berührte ganz leicht mit den Fingerkuppen die glänzende Oberfläche.

Beide hielten den Atem an und warteten darauf was geschehen würde. Doch alles blieb still. Vollkommen fasziniert strich sie mit den Fingern über das glatte, kühle Glas. Es sah aus als wäre es nie zusammengeklebt worden, hatte keinerlei Unebenheiten mehr und wirkte einfach nur perfekt. Nach wenigen Augenblicken drehte sie sich dann zu Siegbert um und flüsterte mit einem drängenden Unterton: „Du musst ihn vollenden!“

 

Bedächtig löste sie ihre Hände von der Wand und trat einen Schritt zurück. Sie hatte sie anscheinend am Haken, doch bei Siegbert war sie sich nicht sicher. Der brauchte wohl noch einen letzten Anstoß. Sie musste ihm ins Gewissen reden, so wie sie es schon zig Male zuvor getan hatte. Wie ein Schatten bewegte sie sich dabei auf die andere Seite. Ungesehen flüsterte sie in die Gedanken der Menschen und versuchte sie so zu beeinflussen in die gewünschte Richtung zu gehen. Bei manchen funktionierte das einfacher als bei anderen. Es gab viele, die nicht auf ihre innere Stimme hörten, andere waren dagegen empfänglicher und ließen sich gut mit neuen Ideen impfen. Ihr Neffe und dessen Brut nutzten das schamlos aus um Unfrieden auf die Welt zu bringen. Sie machten den Menschen Angst, schürten Panik, flüsterten ihnen wahnsinnige Dinge ein und brachten sie manchmal sogar dazu sich mitten in einer Gruppe anderer Menschen in die Luft zu sprengen. Das war einfach nur irre.

Unsichtbar schlich sie kurz darauf um Siegbert herum und redete unhörbar auf ihn ein. Der Mann hörte zu, er hörte immer zu, auch wenn er es nicht ahnte. Er war jemand, der seinem Bauchgefühl traute, das ihn bisher auch nie betrogen hatte. Also fasste Siegbert letztlich einen Entschluss, ging zum Spiegel und betrachtete sich eingehend die Fehlstelle im Rahmen. Begeistert gesellte sich Vanessa zu ihm und fragte leise: „Du hast es dir anders überlegt?“ Siegbert pustete sachte Luft durch seine fast geschlossenen Lippen und antwortete schließlich weiterhin den Blick auf den Rahmen gerichtet: „Ja, meine innere Stimme sagt mir, dass ich es wenigstens versuchen muss. Dieses Projekt ist mein Lebenswerk und ich muss es vollenden.“ Sie klatschte in die Hände und fragte freudestrahlend weiter: „Also, was wissen wir und wonach suchen wir?“

 

3

Sie war auf ihre Seite zurückgekehrt und beobachtete die zwei nun mit einem breiten Grinsen. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass genau diese Menschen für die Aufgabe bestimmt waren ihren größten Schatz wieder zu vervollständigen. Keiner durfte inzwischen davon erfahren. Der Spiegel hatte schon einmal große Probleme verursacht und war deshalb zerstört worden. Aber immer darüber bewusst, dass irgendwann der richtige Tag sein würde ihn wieder in Betrieb zu nehmen, hatte sie eine komplette Vernichtung nicht hinnehmen wollen und Einfluss genommen, sodass mit genügend Aufwand eine Rekonstruktion möglich war. Und bald schon sollte es so weit sein. Es fehlte nur noch ein kleines Teil, das Vanessa und Siegbert finden mussten.

In der Überzeugung, dass die zwei dazu imstande waren, verließ sie nun den einsamen, geheimen, dunklen Raum, tief im Keller ihres riesigen Bürogebäudes und kehrte zurück in ihr Apartment im obersten Stockwerk, von wo sie den Ausblick auf ihre Welt in vollen Zügen genießen konnte.

Ihr Blick schweifte gedankenverloren über den Horizont. Wenn das Abendlicht den Planeten in ein nebliges Rotgold tauchte, fühlte sie jede einzelne Seele dieser Welt. In diesen Momenten spürte sie wieder das, was sie einst auf der Erde gefühlt hatte und manchmal drohte sie diese Lebendigkeit beinahe zu überwältigen.

 

Doch ohne zu Klopfen stürmte auf einmal ihr Neffe zur Tür herein und schrie sie an: „Spinnst du jetzt vollkommen? Du hetzt meinen Vater gegen mich und meine Söhne auf? Hast du sie noch alle?“ Der magische Augenblick platzte sofort wie eine Seifenblase und langsam kehrte sie ihren Blick vom Horizont ab um ihn auf ihren wütenden Neffen zu richten. „Ich hetze hier niemanden gegen andere auf. Das ist eher dein Part. Ich habe deinem Vater gegenüber nur meine Bedenken bezüglich eurer derzeitigen Beeinflussungen geäußert, da ich finde, dass ihr es allmählich übertreibt und das Ganze ein Ende haben sollte.“

Mit einem bösartigen Funkeln in den Augen kam ihr Neffe nun langsam immer näher bis er dicht vor ihr stehen blieb und sie anzischte: „Wir erledigen unsere Jobs und dir steht es nicht zu darüber zu urteilen. Aber da du meine Tante bist und damit zur Familie gehörst, werde ich dir eine Minute lang zuhören.“ Sie ließ sich nicht einschüchtern auch wenn ihr Gegenüber seine Bedrohlichkeit imposant einzusetzen verstand. Stattdessen antwortete sie nüchtern: „Warst du jemals an den Toren? Hast du jemals gesehen was passiert, nachdem ihr euren Job gemacht habt? Hast du die verkohlten und zerfetzten Leiber gesehen, das verbrannte Fleisch und geronnenes Blut gerochen? Bist du schon einmal durch das Meer aus Tränen weinender Mütter und Kinder gegangen?“

Das böse Funkeln ließ etwas nach und sie fuhr fort: „Ich sage nicht, dass ihr komplett aufhören sollt. Ich finde nur, dass die Menschen eine Ruhepause verdient haben. Sie werden immer Gründe finden sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen. Nur wie das gerade läuft, befürchte ich, dass sie eines Tages alles zerstören werden, sich und den Planeten. Nicht mehr lange und sie haben irreparable Schäden angerichtet. Weißt du was das bedeutet? Die Erde ist etwas Besonderes. Welten wie diese gibt es nur wenige. Sie bringt eigenständig Leben hervor. Das ist selten in diesem Universum und ich finde wir sollten das bewahren, anstelle die Vernichtung zu beschleunigen.“

Jetzt trat ihr Neffe einen Schritt zurück. „Wieso bist du so vernarrt in diese Erde?“, fragte er schließlich nachdenklich. Seine Tante lächelte und erklärte: „Ich weiß es nicht genau. Irgendwie übt dieser Planet eine magische Anziehungskraft auf mich aus. Von Anfang an habe ich die Entstehung des menschlichen Lebens auf dieser Welt voller Faszination beobachtet. Zu gern hätte ich mich auf dem Thron ihrer geistlichen Welt gesehen, doch das hat dein Vater geschickt vereitelt und sich selbst diesen Posten angeeignet. Olymp war ihm anscheinend nicht genug.“ Ihr Neffe schüttelte den Kopf und sprach leise: „Warum bist du mit deiner Position nicht zufrieden? Dir gehört auch ein ganzer Planet, der sogar noch viel größer ist als diese kleine Erde. Dazu kommen zwei bewohnte Monde. Du alleine verwaltest eine unwahrscheinlich große Anzahl an Lebewesen. Reicht dir das nicht? Wozu brauchst du noch mehr Macht?“

So hatte sie das noch nie gesehen und wurde auf einmal ganz nachdenklich. Hatte ihr Neffe recht? Sollte sie nicht lieber zufrieden mit dem sein, was sie besaß, anstelle noch immer über die List ihres Bruders zu grollen, mit welcher sich dieser damals die Erde angeeignet hatte?

Sie atmete tief durch, ging zurück zum Fenster, sah in die Ferne und stellte fest: „Da gibst du mir viel zum Grübeln, mein lieber Neffe. Vielleicht sollte ich wirklich meine Position überdenken.“ Dann drehte sie sich wieder um und sprach weiter: „Ich danke dir für deinen Besuch. Dennoch habe ich eine Bitte. Haltet euch ab sofort ein wenig zurück. Eure Taten auf der Erde beeinflussen auch stark das Leben auf meiner Welt. Bist du einverstanden?“ Sie reichten sich die Hände, ihr Neffe nickte zustimmend und zog anschließend davon.

Wieder allein widmete sie sich schweren Herzens erneut der fantastischen Aussicht. Inzwischen war die Nacht hereingebrochen und ein Meer aus kleinen Lichtern, breitete sich vor ihr aus. Von hier oben schien alles so friedlich.

 

Den ganzen Abend lang hatten sie Bücher gewälzt und versucht herauszufinden, wie wohl der letzte noch fehlende Stein des uralten Spiegelrahmens aussehen könnte. Mit Papier und einem Kohlestift hatte Vanessa sogar einen Abdruck von der Fehlstelle gemacht. Doch sie kamen nicht weiter. Siegbert beschloss dann gegen Mitternacht: „Ich denke, das reicht für heute. Wir hatten genug Aufregung für einen Tag und sollten ein wenig Abstand gewinnen um wieder klar denken zu können. Lass uns heim gehen und ein wenig darüber schlafen. Vielleicht hat ja einer von uns die zündende Idee.“ Vanessa stimmte zu und sie verabschiedeten sich für die Nacht.

Erschöpft kam sie zuhause an, warf den Zettel mit dem Abdruck achtlos auf ihren Schreibtisch und ließ sich ins Bett fallen. Wilde Träume jagten sie durch ihren tiefen Schlaf und der Gedanke an den fehlenden Stein ließ sie auch den gesamten folgenden Tag nicht in Ruhe. Nach ihren Kursen stöberte sie in der Bibliothek durch die Literatur der Antike um vielleicht wenigstens einen kleinen Hinweis in die richtige Richtung zu bekommen.

Mit müden Augen blätterte sie sich stundenlang durch die Sagenwelt ohne ein konkretes Ziel zu haben. Nirgends wurde ein Tor erwähnt, höchstens die verschlungenen Eingänge zur Unterwelt, und ein Schlüssel fand sich auch nicht.

Gedankenverloren ging sie später heim. Siegbert hatte sich den ganzen Tag in den Aufzeichnungen seiner Ausgrabungen verbuddelt und suchte dort nach Details, die ihm bisher entgangen waren. Vielleicht war der Schlüssel schon längst mit entdeckt worden und dümpelte nun in irgendeiner Ausstellung herum? Sie wussten ja nicht ob es sich nur um einen einzelnen Stein handelte oder dieser eventuell in einem Schmuckstück verarbeitet worden war.

Später an ihrem Schreibtisch in ihrem WG- Zimmer sitzend blätterte Vanessa unkonzentriert durch die Kapitel eines Fachbuchs. Sie wollte eigentlich aufarbeiten, was sie in der heutigen Geschichtsvorlesung gelernt hatte und sich noch ein paar Notizen dazu machen. Doch zu viele Gedanken stotterten durch ihren Kopf. Also entschloss sie sich das Buch zur Seite zu legen und den Freitagabend anderweitig zu verbringen.

Sie musste sich irgendwie ablenken, kramte in der Schublade ihres Tisches und zog eine kleine Schatulle hervor. Immer wenn sie durcheinander war und nicht mehr weiter wusste, griff sie zu dieser Schachtel, die sie von ihrer Großmutter geerbt hatte und erinnerte sich an den Leitspruch der guten Frau: „Ein einzelner klarer Gedanke kann Ordnung ins Chaos bringen, auch wenn es manchmal Jahre dauert bis man diesen Gedanken hat.“ Mit einem Schmunzeln hatte ihre Oma damit gemeint, dass egal wie aussichtslos die Situation ist, es immer einen Ausweg geben würde, man müsste nur lange genug danach suchen. Und manchmal, mit genügend Geduld, offenbarte sich dieser Weg auch von ganz allein.

In sich hinein lächelnd öffnete Vanessa die Schatulle und nahm das schwere Amulett heraus. Sie hatte nie verstanden wie sich Leute so klobige Dinger um den Hals hängen konnten, für ihren Geschmack war das zu viel Gold und Schnickschnack.

Mit dem Finger strich sie über den glänzenden, in Regenbogenfarben schimmernden, mittig eingefassten Schmuckstein und hatte plötzlich eine Eingebung. Schnell wühlte sie das Blatt mit dem Kohleabdruck der Fehlstelle unter ihren Unterlagen hervor und legte den Stein darauf. Er passte.

Ein Adrenalinschwall schoss ihr auf einmal durch die Adern. Aufgeregt wählte sie Siegberts Nummer, sprang auf und lief während es klingelte nervös in ihrem Zimmer herum. Endlich ging er ran und ohne eine Begrüßung abzuwarten, prasselte sie mit den Neuigkeiten heraus: „Ich denke, ich habe den Schlüssel gefunden! Treffen wir uns in einer halben Stunde im Museum?“ Sofort war auch Siegbert aufgeregt und stimmte eilig dem Treffen zu.

Schnell hatte sich Vanessa eine Jacke übergezogen und stürmte zur Tür hinaus in Richtung Straßenbahn. Sie konnte es kaum erwarten in die Werkstatt zu kommen, wippte unruhig mit den Füßen in der Bahn und rannte dann von der Haltestation in Richtung Hintereingang des Museums, wo Siegbert schon aufgebracht wartete. Gleich als er sie sah, rief er ihr stürmisch entgegen: „Wo hast du den Schlüssel gefunden? Wo müssen wir hin um ihn zu holen?“ Vanessa blieb schwer atmend vor ihm stehen, zog die Schatulle aus ihrer Tasche und überreichte sie feierlich mit den Worten: „Wir müssen ihn nicht erst holen, ich habe ihn genau hier.“ Fasziniert öffnete er die Holzschachtel und sah gebannt hinein. Das kunstvolle Amulett trug einen Stein, der durchaus in die Lücke passen könnte. Also gingen sie ohne weiter zu zögern hinein.

Vor dem Spiegel stehend nahm Siegbert das Schmuckstück mit zittrigen Händen aus der Schatulle und hielt es Vanessa hin. „Ich kann das nicht, ich bin viel zu aufgeregt. Es ist dein Amulett also gebührt auch dir die Ehre.“, sagte er mit nervöser Stimme. Freudestrahlend nahm sie es an sich und trat nah vor den Rahmen. Vorsichtig suchte sie dann die Position, in welcher der Stein am besten in die Lücke passte, und drückte ihn behutsam hinein. Ein leises Klicken ertönte und ein plötzlich in Gang gesetzter Mechanismus ließ drei kleine Ärmchen herumklappen, die das gesamte Schmuckstück fest an den Rahmen klemmten.

Von der Bewegung überrascht, schreckte Vanessa einen Schritt zurück. Beide hielten sie den Atem an und warteten darauf, dass noch etwas passierte. Erst war es kaum sichtbar, wurde nach und nach aber immer deutlicher. Die Kristalle und auch die metallisch glänzenden Bahnen, die sie miteinander verbanden, begannen auf unheimliche Weise zu Glühen. Und dieses Licht wurde zunehmend stärker. Siegbert und Vanessa wichen noch ein paar weitere Schritte zurück. Sie hatten keine Ahnung, was da soeben geschah.

 

Sie saß mitten in einem Meeting als sie der Gedanke plötzlich wie ein Stromschlag durchfuhr. Auf einmal wurde ihr ganz unwohl. Sie konnte spüren, dass jemand den Spiegel aktiviert hatte, was bedeuten musste, Vanessa und Siegbert hatten tatsächlich den Schlüssel gefunden. So schnell hatte sie nicht damit gerechnet, versuchte sich zu beruhigen und das Meeting trotz innerer Aufgewühltheit ordnungsgemäß zu Ende zu führen.

Es gab ein paar logistische Probleme an den mittleren Toren der Stadt. Zu viele Menschen kamen auf einmal, viele von ihnen mit schweren Verletzungen.

Immer wieder standen sie solchen Herausforderungen gegenüber. Kriege und Naturkatastrophen brachten die Auffangstationen an ihre Grenzen. Sie mussten schnell reagieren und wichtige Versorgungsgüter dahin lenken, wo sie am dringendsten benötigt wurden. Gleichzeitig veranlassten sie eine Verteilung der Ankömmlinge auf die nebenan liegenden Tore um den Andrang besser abfedern zu können. Die Maßnahmen würden sofort in Kraft treten und schnell für eine Entspannung der kritischen Lage sorgen.

Bisher hatten sie diese Situationen immer gut gemeistert und sie wusste, sie konnte sich auf ihre Mitarbeiter verlassen, die auch problemlos in der Lage waren selbstständig Entscheidungen zu treffen.

 

Nachdem minutenlang nichts geschehen war, überkam Vanessa wieder der Mut und sie ging erneut auf den Spiegel zu, dessen Rahmen inzwischen in leuchtenden Farben erstrahlte. Vorsichtig legte sie wieder die Fingerspitzen auf das kühle, glänzende Glas und musste zu ihrer Enttäuschung feststellen, dass sich nichts daran geändert hatte. Leicht klopfte sie dann dagegen, drehte sich zu Siegbert um und zuckte mit den Schultern. „Ich weiß auch nicht. Wenn das wirklich ein Portal ist, dann ist die Tür immer noch zu. Was jetzt?“, sagte sie missmutig. Auch Siegbert wusste nicht recht, was er davon halten sollte. Die anfängliche Euphorie war schnell erloschen. Dann meinte er: „Vielleicht muss auch die andere Seite erst noch etwas tun, bevor es funktioniert.“ Vanessa ging wieder ein paar Schritte zurück, betrachtete sich das Gesamtkunstwerk und antwortete skeptisch: „Und wenn die keine Ahnung haben, dass das Ding wieder komplett ist? Oder auch gar nicht wollen, dass es jemand benutzt?“ Siegbert rieb sich ratlos das Kinn und murmelte: „Dann haben wir nur einen großen, antiken Spiegel mit kuriosen Leuchteffekten.“

Noch eine Weile lang starrten sie auf das seltsam anmutende Objekt. Schon bevor der Rahmen mit seinem Lichtspiel begonnen hatte, war es ein beeindruckendes Ding gewesen, doch jetzt wirkte es wie nicht von dieser Welt. „Vielleicht müssen wir auch nur noch etwas warten.“, brach Vanessa endlich die Stille, klopfte Siegbert auf die Schulter und munterte ihn auf: „Freu dich, dein Lebenswerk ist vollendet. Dieser Spiegel ist das Beeindruckendste, das ich bisher gesehen habe und alle anderen werden das genauso empfinden. Wenn du das deinem Chef zeigst, wird dem die Kinnlade runter fallen. Da bin ich mir ganz sicher.“ Siegbert lächelte, sah auf seine Uhr und erwiderte: „Heute wird das wohl aber nicht mehr passieren.“

Es war bereits nach Zehn und Vanessa entschloss sich jetzt heim zu gehen. „Willst du deinen Stein wieder mitnehmen?“, fragte Siegbert noch als sie schon dabei war ihre Jacke anzuziehen. Doch sie schüttelte nur den Kopf und antwortete freundlich: „Nein, ich denke dieses Amulett gehört genau hier her. Außerdem müssten wir dann erst herausfinden, wie wir es wieder vom Rahmen abbekommen. Dafür habe ich gerade keine Nerven mehr.“ Sie umarmte ihren Freund und ging.

Doch Siegbert hatte ein mulmiges Gefühl dabei dieses leuchtende Ding einfach so stehen zu lassen. Vorsichtig drückte und zog er an dem Amulett und dessen Halterung, fand aber nicht heraus, wie er es abmontieren konnte. Da aber bisher auch nichts Gravierendes geschehen war, entschloss er sich, es auch für heute sein zu lassen, stellte vorsichtshalber jedoch seinen Laptop auf, sodass die Kamera den Spiegel genau im Auge behielt und begann mit der Aufzeichnung. Sollte sich also in dieser Nacht etwas tun, so hätte er dann wenigsten eine Aufnahme davon.

 

4

Nachdem sie all ihren geschäftlichen Verpflichtungen nachgekommen war, eilte sie aufgeregt in das geheime, gut abgeschirmte Kellerabteil, zu welchem nur sie Zutritt hatte. Fasziniert blieb sie vor dem Bild stehen, das das Innere der Museumswerkstatt zeigte und dessen Rahmen in vollem Glanz erstrahlte. Kein Mensch war zu sehen, die Tür hinter ihr abgeschlossen und sie zu allem bereit.

Vorsichtig strich sie erst mit der Hand über die glatte Oberfläche der Wand und versuchte ihre Nervosität in den Griff zu bekommen. Wie lange war es her, dass sie das Portal benutzt hatte? Würde es noch genau so funktionieren wie früher? Was wenn nicht, wenn sie es bei dem Versuch zerstörte? Wenn sie sich selbst bei dem Versuch vernichtete? Der Gang durch dieses Tor war nicht ungefährlich, es sei denn man wusste, worauf man achten sollte. Hatte sie noch alles richtig im Kopf? Sie musste es einfach versuchen, zu verlockend war das Ziel.

Um auf Nummer Sicher zu gehen, schritt sie zurück bis zur Tür des einsamen Raumes, atmete tief durch und rannte dann mit voller Kraft los. Nur wenige Zentimeter vor dem Bild sprang sie schwungvoll ab und hinein in die Wand.

 

Tatsächlich hatte sie es ein wenig übertrieben und musste sich auf der anderen Seite mit einer Hechtrolle abfangen. Als sie zum Stehen gekommen war und festgestellt hatte, dass es wirklich funktionierte, konnte sie sich ein kurzes siegreiches Jubeln nicht verkneifen.

Voll innerer Spannung sah sie sich anschließend aufmerksam in der Werkstatt um, entdeckte die Laptopkamera, lächelte hinein, zeigte ein Daumen- Hoch, ging zum Spiegel, entfernte mit einem geübten Griff das Amulett und verschwand wie ein Schatten in der Dunkelheit. Die Lichter des Rahmens erloschen langsam.

 

Sie war also tatsächlich hier. Nach all diesen Jahren konnte sie einmal wieder die Luft dieser Welt atmen und so viel hatte sich verändert. Natürlich hatte sie all die Entwicklungen aus der Ferne verfolgen können, zumindest die der letzten Jahrhunderte, ihnen teilweise als Geist beigewohnt, doch jetzt mittendrin zu stehen und es live und in Farbe zu erfahren, war ein überwältigendes Erlebnis. Voller Faszination bewegte sie sich durch die nächtlichen Straßen der Großstadt, sog Gerüche und Geräusche in sich ein. Alles hier fühlte sich so viel lebendiger an als in ihrer Welt. Sie hatte es wahrlich vermisst.

Ein wenig war sie aber auch von der Situation überfordert und konnte sich gar nicht entscheiden, was sie als erstes tun sollte. Also entschloss sie sich für einen gewagten Schritt, einen Besuch bei Vanessa. Sobald sie das Amulett berührt hatte, wusste sie den Besitzer und fühlte sich nun umso mehr zu ihr hingezogen. Doch sie wollte sie nicht erschrecken und zog es vor ihr zunächst als Schatten zu begegnen. Sie hatte die Macht sich durch Wände zu bewegen und den Augen der Menschen verborgen zu bleiben, so begab sie sich ungesehen zu dem Haus, in welchem Vanessa wohnte und dann wie ein Geist in ihr Zimmer.

Der Anblick, der sie dort erwartete, ließ ihr Herz jedoch einen Satz machen und fast schon schämte sie sich für ihr unbemerktes Eindringen, konnte sich allerdings auch nicht überwinden wieder zu gehen. Still beobachtete sie Vanessa stattdessen dabei, wie diese nackt im Schneidersitz auf dem Boden vor ihrem Bett saß und meditierte. Sie hatte einen Kreidekreis um sich gezogen und nur Kerzenlicht erhellte flackernd den Raum. Direkt vor ihr stand eine Räucherschale, in welcher eine dubiose Mischung aus duftendem Weihrauch und Cannabis vor sich hin qualmte und das Zimmer in einen berauschenden Nebel tauchte. Obwohl sie von der Studentin weder gehört noch gesehen werden konnte, wagte sie es nicht sich zu bewegen.

Vanessa murmelte immer wieder einen Spruch vor sich her. War es Unrecht sie zu belauschen? Sie hörte genauer hin und erkannte die Formel. Die junge Frau benutzte tatsächlich einen magischen Kreis für ihre Meditation. Das machte sie gleich noch viel interessanter. Angetan beobachtete sie sie weiter und lauschte gebannt ihrem Murmeln. „…Ich rufe dich Licht und Erde des Nordens den Kreis zu erleuchten und zu beschützen. Dies ist mein Kreis, gezogen durch Wände, Decken und Sphären, nur Liebe soll in ihn hinein und aus ihm heraus strömen.“ Vanessa atmete entspannt und tief durch bevor sie leise weiter sprach: „Ich rufe euch nun ihr Geister und Dämonen der Anderswelt, offenbart mir euer Wissen, helft mir zu verstehen.“ Wieder atmete sie tief ein und erst Sekunden später aus. „Was verbirgt sich hinter dem Spiegel?“, flüsterte sie dann. Atmete erneut tief ein und aus, wiederholte ihre Frage und versuchte sich so fortlaufend in einen tranceähnlichen Zustand zu versetzen.

In diesem Moment und bevor Vanessa zu tief in ihren Dämmerzustand versank, ergriff sie ihre Chance und trat aus dem Dunkel. „Du hast mich gerufen?“, sagte sie leise. Erschrocken riss die Studentin die Augen auf und rückt bis zur Bettkante von ihr weg. Ruhig blieb die Erscheinung stehen. „Wer bist du?“, fragte Vanessa dann mit zitternder Stimme. Die Fremde machte einen Schritt auf sie zu und sofort sagte sie lauter: „Du kannst den Kreis nicht betreten, solange du dich nicht offenbarst. Also, wer bist du? Geist oder Dämon?“

Sie lächelte freundlich, löschte mit einer Handbewegung alle Kerzen im Raum, was Vanessa verängstigt seufzen ließ, und setzte anschließend ganz langsam einen Fuß auf die Kreidelinie. „Halt!“, rief die junge Frau nun panischer und kletterte rücklings auf das Bett. Am liebsten wäre sie geflohen, doch die Erscheinung versperrte den Weg zwischen ihr und der Tür. Sie ging noch einen Schritt weiter, betrat damit das Innere des Kreises und sprach in so beruhigendem Ton, wie es ihr in diesem aufregenden Moment möglich war: „Wie es scheint, kann ich den Kreis doch unbeschadet betreten. Ich werde dir nicht weh tun. Du hast mich gerufen und nun bin ich hier. Deine Fragen sollen beantwortet werden.“

Vor Angst bebend starrte Vanessa sie an, wie sie im Dunkel immer näher auf sie zu kam. Ihr durchdringender Blick haftete auf ihr und plötzlich löste sich ihre Kleidung in einem Ascheregen auf, der leise zu Boden rieselte.

Vanessa stockte der Atem. Sie hatte eine Fremde in ihrem Zimmer, deren Hülle sich gerade zerstäubte, und sie konnte mittlerweile nicht weiter vor ihr zurückweichen, da ihr Rücken bereits die Wand am Kopfende des Bettes berührte. Als das Wesen nun ein Knie auf das Laken setzte, fragte Vanessa erschaudernd noch einmal: „Wer bist du? Was willst du?“ Doch sie lächelte nur und kroch ihr auf allen Vieren entgegen.

Die Studentin hatte sich inzwischen zusammengekauert und beäugte sie ängstlich. Sie zuckte zusammen als die Erscheinung ihre Hand mit ihrer berührte. Sie wusste selbst nicht was sie hier eigentlich tat. Es war nie ihre Absicht gewesen so weit zu gehen, doch Vanessas Anblick und die Jahre, die sie sie schon begleitet und bewundert hatte und das Hochgefühl sie endlich in Fleisch und Blut vor sich zu sehen, sie berühren zu können, ließen sie all ihre guten Vorsätze über den Haufen werfen. Sie konnte nicht klar denken und nur ihr Begehren bestimmte in diesen Augenblicken ihr Handeln.

Fest umklammerte sie nun ihre Hand und zog Vanessa an sich heran. Die Studentin wagte es nicht sich zu wehren, hatte sie doch keine Ahnung welche Mächte hier im Spiel waren, Mächte die sie heraufbeschworen hatte und denen sie jetzt hilflos ausgeliefert war. Bevor die Fremde ihre Lippen auf ihre sinken ließ, fragte Vanessa zitternd ein letztes Mal: „Wer bist du? Geist oder Dämon?“ Sie flüsterte: „Weder noch.“, umschlang sie fest mit ihren Armen und hauchte: „Ich bin ein Gott.“

 

5

Langsam kam Vanessa am nächsten Morgen zu sich. Ein Sonnenstrahl kitzelte ihre Nase und ihr war es unter der Decke beinahe zu warm. Sie drehte sich auf die Seite. Ein paar wirre Gedanken schwirrten durch ihren Kopf. Was war letzte Nacht geschehen?

Ruckartig setzte sie sich in ihrem Bett auf und sah sich um. Kreidekreis und Kerzen standen nach wie vor an ihrem Platz. Der unverwechselbare Duft des Räucherwerks lag schwer in der Luft. Aber sonst schien alles völlig normal.

Irritiert stand sie auf, zog sich einen Bademantel über und öffnete ein Fenster. Hatte sie das alles vielleicht nur geträumt? Gedankenverloren schlurfte sie daraufhin in Richtung Küche, wo sie im Türrahmen stehen blieb und ihre Mitbewohnerin anstarrte.

Susi saß mit einer Tasse Kaffee vor sich am Tisch und blätterte durch die Nachrichten auf ihrem Smartphone. Als sie Vanessa bemerkte, schaute sie auf und stellte nach einem überraschten Blick fest: „Wow, harte Nacht gehabt? Du siehst fertig aus.“ Vanessa schüttelte aber nur den Kopf, ging zur Kaffeemaschine und schenkte sich eine Tasse ein. Susi beobachtete sie aufmerksam und mit einem hintergründigen Schmunzeln im Gesicht, das Vanessa nicht einordnen konnte.

Nachdem sie am Tisch platz genommen hatte und noch immer von ihrer Mitbewohnerin gemustert wurde, sagte sie: „Ich hatte letzte Nacht einen ziemlich schrägen Traum.“ „Ach wirklich, ein Traum?“, antwortete Susi als wüsste sie mehr. Vanessa sprach weiter: „Ich habe meditiert und auf einmal stand diese Frau mitten in meinem Zimmer, ihre Klamotten lösten sich in Staub auf und…“ „Bitte keine Details!“, unterbrach Susi ihre Freundin und lachte. Nach einer kurzen Pause sah sie Vanessa dann an und meinte: „Das hörte sich für mich nicht gerade wie ein Traum an. Ich hatte echt schon die Befürchtung, die Alte bringt dich um.“ Vanessa verzog skeptisch das Gesicht: „Du hast sie auch gesehen?“ „Nein, nur gehört und das hat mir schon gereicht.“, kam es prompt von ihrer Mitbewohnerin.

Teilnahmslos starrte Vanessa daraufhin in ihren Kaffee. Susi legte ihr Telefon beiseite, starrte sie gebannt an und fragte: „Kannst du dich etwa nicht mehr erinnern?“ Sachte schüttelte sie den Kopf, woraufhin Susi feststellte: „Ich glaube, deine Kräutermischung war etwas zu heftig. Das Zeug hat man bis ins Treppenhaus gerochen.“

Nach einer kurzen Pause, in welcher sie Vanessa weiterhin belauerte, wollte sie wissen: „Wer war die denn?“ Ihre Mitbewohnerin schaute von ihrem Kaffee hoch und flüsterte: „Ich weiß es nicht.“

Sofort machte sich ein Grinsen auf Susis Gesicht breit und sie versuchte ihre Mitbewohnerin aufzumuntern: „Ich wusste zwar nicht, dass du auch auf Frauen stehst, aber das ist doch nicht so schlimm. Da hattest du eben eine wilde Nacht mit einer Fremden. Was ist schon dabei?“ Vanessa stand auf, nahm die Tasse Kaffee und verließ ohne ein weiteres Wort die Küche. Susi rief ihr noch nach: „Das war wirklich nicht böse gemeint!“

 

Völlig verwirrt ging sie zurück in ihr Zimmer. Dann war die Besucherin doch real gewesen? Doch wer war sie, wo hatte sie sie kennengelernt und wo war sie jetzt? Die Gedanken drehten sich in ihrem Kopf.

Mitten im Raum harrte die Studentin nun aus und stierte auf das Bett. Was hatte das geheimnisvolle Wesen mit ihr gemacht?

Plötzlich flüsterte eine Stimme schräg hinter ihr: „Hallo Vanessa.“

Entsetzt wirbelte sie herum, sah die Fremde vor dem Spiegel stehen und ließ vor Schreck die Tasse fallen. Klirrend sprangen die Scherben über den Boden. Die Erscheinung hob beschwichtigend die Hände und innerhalb weniger Augenblicke erreichte Susi den Raum. Vanessa starrte die Frau mit weit aufgerissenen Augen an, vor ihren Füßen lief die dampfende Kaffeepfütze breit. Susi blieb abrupt in der Tür stehen und musterte die beiden misstrauisch.

Dann brach sie die angespannte Situation mit einer Frage: „Kann mir einer erklären was hier eigentlich los ist?“ Der Blick der Fremden hatte bisher nur auf Vanessa gehaftet, doch als sie sie auf einmal ansah, lief Susi ein kalter Schauer über den Rücken. Da lag etwas völlig eigenes in ihren Augen, faszinierend und erschreckend zugleich.

„Ich möchte erst einmal nur mit Vanessa sprechen, allein.“, sagte sie ruhig mit angenehmer Stimme. „Ich weiß nicht, ob…“, wollte Susi einwenden doch die Fremde unterbrach sie: „Bitte, Susi. Es ist sehr wichtig, dass ich mit Vanessa alleine sprechen kann, jetzt.“ Vanessa starrte sie unterdessen weiter an und flüsterte nun: „Susi, ich denke das geht in Ordnung. Lass uns allein. Ich will hören, was sie zu sagen hat.“ Schnaubend und etwas widerwillig kam die Mitbewohnerin der Aufforderung nach und verließ das Zimmer.

Die harte, bestimmende Miene der Besucherin wurde daraufhin etwas weicher. Sie ging um Vanessa herum und schloss die Tür. Dann griff sie vorsichtig nach ihrer Hand, die Studentin zuckte leicht zusammen, ließ sich aber von ihr zum Bett führen, wo sie sich auf den Rand setzte. Völlig unvermittelt ging die Fremde jetzt vor ihr auf die Knie und sprach schon beinahe flehend: „Was letzte Nacht geschehen ist, tut mir aufrichtig leid. Es hätte nicht so weit kommen dürfen und ich hoffe, dass du mir verzeihen kannst.“ Vanessa sah ihr tief in die Augen und gab nach ein paar Sekunden ehrlich zu: „Es tut mir sehr leid, aber ich kann mich kaum an etwas erinnern.“

Ein Schmunzeln huschte über das Gesicht der unbekannten Frau und sie konnte sich nicht verkneifen zu flüstern: „Da hab ich ja noch mal richtig Schwein gehabt.“ Vanessa schüttelte verwirrt den Kopf und fragte nun: „Wer zum Teufel bist du? Woher kennen wir uns? Ich kann nicht glauben, dass ich so einen massiven Filmriss habe.“ Die Fremde kratzte sich etwas verlegen am Hinterkopf, ergriff dann ihre beiden Hände und versuchte es zu erklären: „Wir kennen uns nicht, obwohl ich weiß wer du bist. Ich beobachte dich schon lange und voller Faszination. Du hast gestern das letzte Puzzelstück dazu beigetragen, dass wir uns endlich in Natura gegenüber stehen können.“ „Ich versteh nicht ganz.“, hauchte sie obwohl sie allmählich eine Ahnung bekam. „Ganz recht, liebe Vanessa. Ich komme von der anderen Seite des Spiegels.“, sagte sie leise. Fassungslos schaute die Studentin sie an. „Wie ist das möglich?“ „Der Spiegel ist ein Portal in meine Welt. Ihr habt ihn zusammengesetzt und mit deinem Amulett aktiviert. Du ahnst nicht, wie viele Jahre ich auf diesen Moment gewartet habe.“ Mehr zu sich selbst fügte sie an: „Und dann habe ich es beinahe versaut.“ Vanessa konnte es nicht glauben. War dieses geheimnisvolle Wesen tatsächlich aus einer anderen Welt?

 

Sie merkte nicht wie sie die Frau unentwegt anstarrte und die störte es nicht. Doch plötzlich klingelte Vanessas Handy.

Die Unbekannte nicht aus den Augen lassend griff sie danach und hielt es sich ans Ohr. Siegbert war am anderen Ende der Leitung und rief aufgeregt ohne Begrüßung: „Du musst sofort ins Museum kommen! Wir haben einen Besucher! Jemand ist letzte Nacht durch den Spiegel gekommen, ich habe alles auf Video!“ Völlig verstört antwortete Vanessa unheimlich ruhig: „Ja, ich weiß, dieser Jemand hockt gerade vor mir.“ Kurz war es ganz still am Telefon, Siegbert musste sich setzen und einen Moment lang sammeln, dann sprang er plötzlich wieder auf und schrie schon beinahe hysterisch: „Bring sie her! Verdammte Scheiße, bring sie unbedingt her!“ „Wir sind schon so gut wie auf dem Weg.“, sagte sie immer noch erschreckend ruhig und legte auf. „Wir müssen jetzt ins Museum.“, beschloss sie daraufhin.

Ohne ein Wort des Widerspruchs stand die Fremde auf und drehte sich um, damit sich Vanessa unbehelligt etwas anziehen konnte. Schnell war sie in eine Hose und ein Shirt geschlüpft und öffnete die Tür. Susi wich überrascht ein paar Schritte zurück und rechtfertigte sich: „Ich habe nicht gelauscht, ich wollte nur mal nachfragen ob alles klar ist. Bei euch war es so ruhig.“ Die Besucherin lächelte sie an und wieder lief Susi ein kalter Schauer über den Rücken. Vanessa versuchte ihre Mitbewohnerin zu beruhigen: „Es ist alles in Ordnung. Wir hatten wohl ein kleines Missverständnis und ich scheinbar einen heftigen Filmriss. Wir fahren jetzt kurz ins Museum. Falls etwas ist, ich hab mein Handy dabei.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, nahm sie die Fremde an die Hand und zog sie mit sich ins Treppenhaus.

Bevor sie aber das Haus verließen, hielt sie Vanessa plötzlich zurück und fragte: „Wo willst du hin?“ Irritiert antwortete die Studentin: „Na zur Straßenbahn, zum Museum.“ „Ich kenne einen viel schnelleren Weg.“, kam es daraufhin von ihr. Die Frau zog sie an sich, umklammerte Vanessa mit den Armen und einen Sekundenbruchteil später standen sie schon auf der Grünfläche hinter dem Museum.

Sie hielt die Studentin weiter fest an sich gedrückt, deren gesamter Körper wie Espenlaub zitterte. Vor Aufregung schwer atmend, hauchte Vanessa fassungslos: „Wie geht das?“ Die Fremde grinste jedoch nur, löste ihre Umarmung, nahm ihre Hand und zog sie mit sich in Richtung Hintereingang.

Völlig aufgelöst tigerte Siegbert unterdessen nervös in der Werkstatt umher. Als Vanessa mit der Unbekannten zusammen den Raum betrat, stürmte er sofort auf sie zu und sank vor der Besucherin ehrfürchtig auf ein Knie. Der war das allerdings gar nicht recht. Schnell redete sie auf Siegbert ein: „Nein, bitte kein Kniefall, mein Freund. Das ist wirklich nicht nötig. Wenn dann muss ich mich vor dir verneigen, denn ohne dich könnte ich heute nicht hier sein. Ich stehe tief in deiner Schuld.“ Langsam erhob sich Siegbert wieder, sah die Fremde völlig verwundert an und sprach dann: „Es ist so eine Ehre jemanden von der anderen Seite kennenzulernen. Wer bist du? Wo kommst du her? Bitte erzähl mir alles über den Spiegel. Wie funktioniert er? Wer hat ihn entworfen? Ich muss einfach alles wissen. Ich bin so aufgeregt.“ Die geheimnisvolle Fremde legte eine Hand auf Siegberts Schulter und beschwichtigte ihn: „Mein lieber Freund, ich weiß du hast viele Fragen und ich werde versuchen sie so gut es geht zu beantworten. Lasst uns das aber mit Ruhe angehen.“

Schnell holten Siegbert und Vanessa drei Stühle heran, die Besucherin setzte sich jedoch nicht, sondern postierte sich mit dem Rücken zu ihnen vor dem Spiegel. Fasziniert und mit einem beinahe euphorischen Kribbeln im ganzen Körper betrachtete sie eindringlich die glänzende Oberfläche, bevor sie sich zu den beiden umdrehte. Dann hob sie an: „Also, welche Frage brennt euch am meisten unter den Nägeln?“ Fast zeitgleich antworteten Vanessa und Siegbert: „Wer bist du?“ Die Fremde lächelte und stellte sich nun endlich vor: „Ich bin Hades, Tochter des Kronos und der Rhea, ein Kind des Planeten Gaia. Vor etwa zehntausend eurer Erdenjahre wurde ich auf den Planeten, nach welchem mich mein Vater benannt hatte, gesandt, um ihn zu erforschen und zu verwalten. Seitdem bin ich Herrscherin über die Welt, die sich hinter diesem Portal befindet.“ Mit einer überschwänglichen Geste zeigte sie auf den Spiegel und fuhr fort: „Weitere Fragen?“

Irritiert blickte Vanessa sie an und Siegbert konnte kaum glauben, was er da hörte. Vorsichtig fragte er schließlich nach: „Also der Hades? Aus der griechischen Mythologie?“ Die Besucherin nickte und verneigte sich höflich bei den Worten: „Ich weiß, das muss für euch ziemlich verrückt klingen. Aber genau die bin ich, nur eben mit weiblicher Erscheinung, nicht wie in euren Geschichten.“ Immer noch ungläubig hakte Vanessa nach: „Und auf der anderen Seite dieses Spiegels befindet sich also die Unterwelt?“ Hades lächelte etwas zerknirscht und meinte: „Ich mag es nicht, wenn man meinen Planeten so nennt. Anderswelt ist mir lieber. Auch wenn ich mir nicht ausgesucht habe dort zu leben und zu herrschen.“

Siegbert stand auf, holte eine Flasche Schnaps aus seiner Werkbank, gönnte sich einen großen Schluck und setzte sich wieder, bevor er sprach: „Willst du damit sagen, dass die alten Geschichten wirklich wahr sind?“ Hades seufzte daraufhin, rückte sich den freien Stuhl zurecht, griff nach der Flasche in Siegberts Hand und trank ebenfalls einen großzügigen Schluck. Anschließend nahm sie ihren Zuhörern gegenüber platz, musterte sie und ihre fragenden Gesichter einen Moment lang und erzählte schließlich: „Ein paar der Geschichten sind tatsächlich so geschehen, vielleicht künstlerisch ein wenig ausgeschmückt, aber der Kerninhalt stimmt. Natürlich hat mein Vater uns nicht wortwörtlich verschlungen, eher handelte es sich dabei um komplizierte Familienangelegenheiten und er wollte uns mundtot machen. Zeus brachte schließlich die entscheidenden Argumente hervor, die Kronos von seinem Posten stürzten und uns freie Hand ermöglichten. Mein Vater hat sich einfach zu viel zugemutet und ist im Laufe der Jahre immer verbissener und verrückter geworden. Wir mussten ihn in den Ruhestand zwingen, sonst hätte er noch vollends den Verstand verloren. Leider hat mein Bruder die Situation ziemlich selbstgerecht ausgenutzt. Der Rat war auf seiner Seite als er einfach die Projektleitung übernahm und sich anmaßte die Aufgaben zu verteilen. Eigentlich hätte mir dieses Amt zugestanden und als ich Einspruch erhob, nutzte er schamlos seinen Einfluss, um mir den arbeitsreichsten Posten aufzuhalsen und mich so für lange Zeit aus dem Verkehr zu ziehen. Der Planet Hades erwies sich als Quell schier unendlichem Chaos und Arbeit. Ich brauchte Jahrtausende um das Durcheinander, das mein Vater hinterlassen hatte, zu ordnen.“

Nach kurzem Grübeln wollte Siegbert wissen: „Darf ich fragen, was Kronos wirklich seinen Posten gekostet hat?“ Hades betrachtete ihn aufmerksam, ein leichtes Lächeln huschte um ihre Mundwinkel, dann gab sie zu: „Du stellst wirklich gute Fragen, mein Freund. Ich bin mir jedoch nicht sicher, ob ich das wirklich verraten sollte.“ Nach einer kurzen Pause fügte sie an: „Nur so viel. Ihr seid uns zu ähnlich.“ Vanessa und Siegbert warfen sich vielsagende Blicke zu.

Dann brach die Studentin die angespannte Stille: „Und was hat es jetzt mit dem Spiegel auf sich? Warum bist du hier?“ Einen Moment lang starrte Hades auf den Boden und versuchte die Geschichte sinnvoll zu ordnen, bevor sie erklärte: „Nachdem ich das Chaos auf meinem Planeten in den Griff bekommen und euch ein wenig näher studiert hatte, überkam mich das dringende Gefühl nicht mehr nur zuschauen zu wollen. Ich verstand allmählich meinen Vater und welche Faszination die Erde auf ihn ausgeübt hatte, sodass ich selbst dieser erlag. Ihr müsst wissen, dass es in unserem Universum nur wenige Welten gibt, die eigenständig Leben und das in solcher Vielfalt hervorbringen können. Es war die Chance hautnah zu erfahren, wie auch Gaia und unsere Spezies sich entwickelt hatten. Bis heute bewahrt mein Vater hartnäckiges Stillschweigen darüber ob und wie er es geschafft hatte die Erde zu betreten, also musste ich mir etwas anderes einfallen lassen. Dafür engagierte ich die fähigsten Wissenschaftler und Ingenieure, ließ sie absolutes Stillschweigen schwören und vor etwa sechstausend Jahren entstand dann dieses Tor zu eurer Welt.“

„Ich hab jetzt mal eine ganz doofe Frage.“, unterbrach Vanessa ihre Ausführungen und sprach weiter: „Wenn ihr technisch so weit fortgeschritten seid, hättest du da nicht einfach ein Raumschiff oder so was nehmen können?“ Hades grinste plötzlich und erwiderte: „Wenn wir im gleichen Universum leben würden, dann ja.“

Daraufhin griff sich Siegbert die Schnapsflasche aus der Hand der Besucherin und trank einen weiteren großen Schluck. „Das ist mir gerade ein bisschen zu hoch.“, flüsterte Vanessa vollkommen ungläubig und verwirrt, woraufhin Hades aufstand, tief durchatmete und meinte: „Ok, ich versuche es irgendwie zu erklären, ohne dass man vorher Quantenphysik studiert haben muss. Die Theorie des Multiversums sollte euch jedoch geläufig sein. Ich weiß, dass eure Wissenschaftler daran forschen.“ Siegbert und Vanessa nickten verhalten.

Zuversichtlich begann sie danach ihre Ausführungen: „Mein Planet und euer Planet befinden sich quasi an der gleichen Stelle im jeweiligen Universum, aber wiederum auch nicht, da sie auf zwei verschiedenen Ebenen existieren. Das ist ein enorm seltener und extrem faszinierender Zustand, wodurch eine überraschende Verbindung zwischen den zwei Welten entsteht. Mein Vater hat diese interuniversale Verkettung nach jahrelanger Forschung entdeckt und somit einen Beweis für die Existenz anderer Universen erbracht. Erst hielt man ihn für völlig verrückt aber nach und nach erkannte man, dass er Recht hatte. Bislang bestand die Verbindung jedoch nur in eine Richtung, von der Erde zu meinem Planeten. Er wollte das ändern, verrannte sich aber völlig in seinen Theorien. Und dann seid plötzlich ihr beziehungsweise eure Vorfahren aufgetaucht, wodurch die ganze Sache noch komplizierter wurde. Der Rat enthob ihn seines Amtes aufgrund der nicht vorhersehbaren Auswirkungen seines Eingriffs auf unser Universum, obwohl nie wirklich nachgewiesen werden konnte, ob er sich tatsächlich in die Entwicklungen auf der Erde eingemischt hatte. Mich verdonnerte man zur Schadensbegrenzung und es wurde ein einstimmiges Verbot ausgesprochen, was das Betreten der Erde und anderer Planeten in dem neu entdeckten Universum anging. Ich empfand das als völligen Quatsch und als unnötige Einschränkung der weiterführenden Forschungen. Also setzte ich mich heimlich über das Urteil des Rates hinweg, ließ wie gesagt dieses Portal bauen, und betrat schließlich zum ersten Mal euren Planeten.“

„Aber wie funktioniert denn nun diese Verbindung zwischen Erde und Anderswelt und warum nur in eine Richtung? Irgendwie bin ich jetzt völlig verwirrt.“, stotterte Vanessa und auch Siegbert schaute ziemlich überfordert aus. „Ähm, wie soll ich das erklären?“, grübelte Hades laut nach, setzte sich wieder und versuchte es möglichst einfach: „Um von einer Existenzebene in eine andere zu wechseln, bedarf es einer enormen Energiemenge. Die Energieformen, die ihr bisher kennt, sind dafür nicht geeignet. Aber unbewusst nutzt ihr eine, die euch den Sprung auf meine Welt ermöglicht. Auch wenn das jetzt drastisch und etwas unheimlich klingt, im Moment eures Todes, wird diese Energie frei und von der Schwerkraft meines Planeten, der in etwa das doppelte Volumen der Erde umfasst, angezogen. So wechselt ihr, also das, was ihr Seele nennt, von diesem in mein Universum. Das Portal kann das Schwerkraftgefälle zwischen den Planeten aufheben und mittels Nullpunktenergie eine räumlich begrenzte Verbindung der Existenzebenen aufrecht erhalten. Fragt mich nicht, wie genau das funktioniert, das hat sich Hephaistos einfallen lassen. Ein echtes Genie.“

Siegbert schüttelte fassungslos den Kopf. Er wusste gar nicht mehr, was er noch fragen oder glauben sollte. Die Gedanken überschlugen sich in seinem Hirn. Vanessa starrte Hades unterdessen nur an. Sie wusste nicht recht, ob sie diese Informationen jemals richtig verarbeiten könnte.

Siegbert unterbrach schließlich das angespannte und irgendwie betretene Schweigen: „Ich glaube, das müssen wir erst einmal kurz sacken lassen. Immerhin haben wir gerade erfahren, dass wir nicht nur nicht die Einzigen in diesem Universum sind sondern dass es dazu auch noch tatsächlich andere in anderen Universen gibt. Ich bin ehrlich gesagt gerade ein wenig überfordert.“ „Das verstehe ich.“, erwiderte Hades gelassen, stand auf und bot an: „Ich gebe euch ein wenig Zeit darüber nachzudenken, eure Gedanken zu sortieren und Fragen zu erörtern, die ich euch gern später beantworte. Unterdessen werde ich mir eure Welt ein wenig näher ansehen. Ich war so lange nicht hier und es hat sich so viel verändert. Treffen wir uns doch hier heute Abend wieder.“ „Einverstanden.“, bemerkte Siegbert und Vanessa nickte zustimmend. Daraufhin ergriff Hades Siegberts Hand, drückte sie fest und meinte: „Ich erwarte voller Vorfreude deine weiteren Fragen, lieber Freund. Bis heute Abend.“ Dann wandte sie sich Vanessa zu, die inzwischen aufgestanden war, nahm ihre Hände, legte den Kopf leicht schräg und sprach leise: „Wir sehen uns auch heute Abend wieder?“ Verlegen nickte Vanessa wieder, woraufhin Hades sie an sich zog und innig küsste.

Kurz darauf war sie plötzlich verschwunden. Überrascht und irritiert schauten sich die beiden übrigen um, dann fragte Siegbert neugierig: „Läuft da was zwischen euch?“ Vanessa zuckte mit den Schultern und gab zu: „Ich habe ehrlich keine Ahnung.“

 

 

 6

Einen Augenblick später hatte sie wieder festen Boden unter den Füßen. Ihre göttliche Macht verlieh ihr ungeahnte Kräfte, die es ihr ermöglichten Zeit und Raum zu überwinden. Geradewegs ging sie auf das imposante Bauwerk zu und betrat die kühlen, heiligen Hallen. Noch immer konnte man die Erhabenheit spüren, die einst dieser Ruine inne wohnte. Tief atmete sie Geschichte ein. Die Frau neben ihr flüsterte: „Eine beeindruckende Akropolis, finden Sie nicht auch?“ Hades sah sie kurz an und bemerkte dann: „Leider hat man nicht jedem Gott eine so prächtige Stätte gewidmet.“ Die andere schaute nur irritiert und ging weiter.

Fast schon schwermütig erinnerte sie sich an die alten Zeiten, als sie noch mehr gefürchtet als verehrt worden war. Vielleicht hatte sie nicht das beste Ansehen genossen aber durchaus genügend Respekt. Wahrscheinlich würden die Menschen anders über sie denken, wenn sie wüssten, dass sie die Götterwelt auf die Erde gebracht hatte. Irgendwann würden sie es erfahren und dann… Sie schüttelte den Kopf um diese Gedanken zu verbannen. Immerhin weilte sie erst seit wenigen Stunden auf diesem Planeten, da konnte sie nicht so weit voraus denken. Sie musste die Sache ruhig und besonnen angehen.

Und jetzt war es an der Zeit ein wenig mehr von dieser Welt zu sehen, die großen Städte und Bauwunder, Wasserfälle, Regenwälder, die höchsten Berge und tiefsten Täler. Es gab so viel zu entdecken.

Während sie kreuz und quer durch die Welt streifte, saßen Siegbert und Vanessa noch zusammen und diskutierten. „Irgendwie kann ich das alles nicht glauben.“, bemerkte sie und auch Siegbert schien skeptisch und stellte fest: „Wenn sie wirklich die ist, die sie vorgibt zu sein, werden wir in große Schwierigkeiten geraten.“ „Wie meinst du das?“, hinterfragte die Studentin seine Aussage. Siegbert gönnte sich noch einen Schluck Schnaps und versuchte seine Gedanken zu sortieren: „An dieser ganzen Geschichte ist etwas faul. Wenn es ihrem Vater und eigentlich auch ihr verboten ist die Erde zu betreten, wieso ist sie jetzt hier? Warum war das Portal in Einzelteile zerlegt? Es gibt einfach so viele offene Fragen.“ „Die wir uns unbedingt aufschreiben und sie dann darüber ausquetschen sollten.“, legte Vanessa fest.

Sie schnappten sich einen Schreibblock und Stifte und begannen alle Fragen zu notieren, die ihnen durch den Kopf schwirrten. Sobald Hades dann wieder auftauchte, würden sie sie damit konfrontieren.

Weiterhin lasen sie noch ein paar der alten Sagen der griechischen Mythologie, in welchen Hades auftauchte und bekamen ein leicht mulmiges Gefühl. Die Geschichten waren voller Intrigen und Hinterlistigkeiten. Sollten sie ihr wirklich trauen?

 

Ein paar Stunden später stand sie plötzlich wieder mitten im Raum. Siegbert und Vanessa zuckten sichtlich zusammen und sie musste sich ein Grinsen verkneifen. „Wie machst du das?“, rief Vanessa daraufhin und Hades konterte: „Ist das eine Frage von eurer Liste?“ „Jetzt schon.“, antwortete die Studentin ernst. Schelmisch lächelnd kam Hades auf sie zu und meinte: „Magie!“ „Eher Technologie.“, mischte sich Siegbert ein und lachte. Dafür erntete er ein freundliches Schmunzeln und die Bemerkung: „Oder Evolution.“ „Wie darf ich das verstehen?“, fragte Siegbert daraufhin. „Lasst uns doch an einen gemütlicheren Ort gehen.“, wich Hades der Frage aus und bat um Vorschläge. Vanessa plädierte für eine Kneipe um die Ecke, da sie hoffte Alkohol würde die Zunge der Besucherin vielleicht ein wenig lockern.

Einverstanden begaben sie sich in das Lokal, bestellten eine Runde Bier und ein paar Snacks und schon konnte die nächste Fragerunde beginnen. Siegbert legte den Schreibblock auf den Tisch und hob an: „Also, wir haben uns ein paar Dinge durch den Kopf gehen lassen und eine Sache beschäftigt uns dabei besonders. Du meintest, das Portal wäre vor etwa sechstausend Jahren gebaut worden. Deshalb gehen wir davon aus, dass du auch zu dieser Zeit zum ersten Mal die Erde betreten hast. Ist das richtig?“ Hades nickte. „Und wie oft warst du dann hier?“, fragte er weiter. „Anfangs war ich sehr vorsichtig und ließ mich nur selten blicken. Im Laufe der Zeit wurden meine Besuche aber häufiger und ich wohnte unterschiedlichen wichtigen Ereignissen eurer Entwicklungsgeschichte bei.“, antwortete sie bereitwillig. „Und ist dabei etwas ungewöhnliches passiert?“, hakte Siegbert nach. Skeptisch musterte Hades die beiden und hinterfragte: „Worauf willst du hinaus?“ Vanessa erklärte ihre Hintergedanken: „Wenn du nur hier warst um zu beobachten, wieso wissen wir dann von dir und auch von den anderen Göttern?“

Hades lehnte sich zurück, seufzte, nahm einen großen Schluck Bier und gab leise zu: „Dann muss ich euch wohl von einem dunklen Kapitel meiner Forschung erzählen.“ Gebannt starrten die zwei sie an als sie erzählte: „Geplant war nur zu beobachten, aber hier und da sind mir wohl ein paar Fehler unterlaufen und ich habe die eine oder andere Entwicklung eher unbewusst beeinflusst. Zusätzlich entstanden Gerüchte über die Existenz des Portals und dann wurde die Sache zunehmend kompliziert. Der Druck wurde größer und ich wurde mit Verrat erpresst, wenn ich andere nicht ebenso auf die Erde gehen ließe. Letztlich tummelte sich eine Vielzahl an Wesen unter euch, die eigentlich nicht dahin gehörten und ihr Einfluss wurde größer.“ „Die ersten Hochkulturen?“, warf Siegbert dazwischen und Hades nickte betrübt, bevor sie weiter erzählte: „Die Sache hatte sich vollkommen meiner Kontrolle entzogen und wurde zum Selbstläufer. Erste Streitigkeiten zwischen den Spezies meines Universums wurden auf die Erde übertragen und führten zu heftigen Auseinandersetzungen, die alles letztlich auffliegen ließen. Der Rat bekam Wind von der massiven Einmischung in eure kulturelle, spirituelle und technologische Entwicklung und musste reagieren. Da es im Grunde meine Schuld war, das gebe ich zu, traf mich auch die härteste Strafe. Ich wurde gezwungen das Portal zu zerstören, habe es aber nur demontieren und die Teile an unterschiedlichen Stellen der Erde verstecken lassen, nur für den Fall. Dazu wurde ich zu zweitausend Erdjahren Arrest verurteilt. In dieser Zeit durfte ich nicht einmal als Schatten eure Welt betreten und habe so viel von eurer Entwicklung verpasst.“

„Zwischenfrage.“, merkte Vanessa auf und stellte ihre Frage: „Was heißt ‚als Schatten unsere Welt betreten’ genau?“ Siegbert nickte zustimmend, auch er war über diese Formulierung gestolpert. „Ihr seid ganz schön neugierig.“, stellte Hades fest, nahm wieder einen großen Schluck Bier und erklärte: „Meiner Spezies ist es möglich zumindest teilweise die universelle Barriere zu überwinden. Ihr könnt unsere Anwesenheit nicht wirklich wahrnehmen, außer ein paar ganz sensible Menschen.“ „Und warum macht ihr das dann?“, hinterfragte Vanessa skeptisch. Eigentlich wollte Hades der Frage lieber ausweichen, da sie wusste, dass die Antwort nur Unannehmlichkeiten mit sich bringen würde, doch Siegbert nahm ihr alles vorweg, indem er bestürzt feststellte: „Beeinflussung.“ Irritiert sah Vanessa sie an und Siegbert sprach weiter: „So nehmt ihr weiterhin Einfluss auf die Menschen. Immer wenn wir denken, wir haben eine Eingebung oder gute Idee oder ein Bauchgefühl, steckt eigentlich einer von euch dahinter.“ Ein missmutiger Unterton schwang in seiner Stimme mit und Hades versuchte ihn zu beschwichtigen: „Nein, nicht immer und so groß ist unser Einfluss auch nicht wirklich.“ Damit log sie ihn eindeutig an.

Betretenes Schweigen folgte, das Vanessa nach einer Weile endlich brach: „Also, ich fasse zusammen. Du hast das Portal gebaut, um die Erde besser erforschen zu können. Dabei ist Einiges schief gegangen, die Menschheitsgeschichte wurde massiv beeinflusst und du musstest das Projekt demontieren und eine Arreststrafe von satten zweitausend Jahren absitzen. Mir drängen sich jetzt noch zwei Fragen auf. Erstens, wer ist dieser Rat, der solche Urteile verhängen darf? Und zweitens, warum hast du das Portal wieder in Betrieb genommen?“ Bereitwillig beantwortete Hades die erste Frage: „Der Rat besteht aus Vertretern verschiedener hochentwickelter Spezies meines Universums. Sie sollen darüber wachen, dass alle Forschungen und Entdeckungen in geregelten Bahnen verlaufen und sorgfältig dokumentiert werden. Sie entscheiden auch darüber, ab wann eine Spezies als hochentwickelt gilt und damit wert ist in den Rat aufgenommen zu werden. Hier gehen die Meinungen öfters mal ein wenig auseinander und meinem Erachten nach sind das alles eh nur Wesen, die die ultimative Kontrolle und Macht haben wollen. Den noblen Gedanken kaufe ich denen nicht ab.“

„Was macht deine Spezies hochentwickelt und unsere nicht?“, wollte Siegbert nun wissen. „Ihr dürft das nicht falsch verstehen, ihr seid nicht dumm oder unterentwickelt oder so, nur ist die Menschheit noch ziemlich jung. Euch stehen noch einige technologische Fortschritte bevor, die wir schon vor tausenden Jahren gemacht haben. Auch wir haben Kriege gegeneinander geführt bis wir am Rande der totalen Vernichtung standen, Gaia wäre dabei beinahe zerstört worden. Doch wir haben diese Krisenzeiten überwunden und einen evolutionären Sprung gemacht, auch durch unsere Technik.“, antwortete Hades.

„Wie alt bist du?“, fragte Vanessa nun ernst. Die Besucherin dachte kurz nach und meinte dann: „Nach Erdmaßstäben etwa zweiunddreißigtausend Jahre. Aber Zeit hat für uns eine ganz andere Bedeutung als für euch.“ Es folgte eine schockierte Minute. „Bist du unsterblich?“, wollte die Studentin daraufhin wissen. Hades lächelte nur und erwiderte: „Wie gesagt, Zeit hat für uns eine andere Bedeutung.“

Siegbert schaltete sich dazwischen: „Bedeutet dieser evolutionäre Sprung vielleicht, dass ihr euer Genom verändert habt?“ Hades schnaufte, die Fragen wurden ihr allmählich lästig und viel lieber hätte sie sich jetzt aus dem Staub gemacht. Doch sie wusste, dass sie früher oder später Rede und Antwort zu allen Belangen stehen musste und zwang sich deshalb zur Ruhe und Geduld. Bedacht antwortete sie daraufhin: „Im Grunde sind das alles Informationen, die ich euch eigentlich nicht zur Verfügung stellen darf. Aber ich habe es versprochen und werde das auch halten. Ich bin nicht unsterblich. Wir haben nur noch nicht herausgefunden, wie alt unsere Spezies wirklich werden kann. Nachdem wir die Krisen alter Zeiten überwunden und uns selbst optimiert hatten, gab es nur noch wenige Todesfälle, aber es ist möglich einen von uns unter bestimmten Umständen zu töten, wenn auch nicht ganz einfach, da wir ein bemerkenswertes Regenerationspotential besitzen. Und ja, das ist eine genetische Modifizierung, allerdings in vielen kleinen Teilschritten über mehrere tausend Jahre hinweg.“ „Ich brauch noch ein Bier und vielleicht etwas stärkeres dazu.“, bemerkte Siegbert und bestellte an der Bar noch eine Runde. Vanessa stellte unterdessen fest: „Ich glaube, das könnte meine Mitbewohnerin echt interessieren, die studiert Biologie.“ „Ich bin kein Versuchskaninchen.“, kam es von Hades und ein breites Schmunzeln dazu.

Bier und Schnaps wurden geliefert und sie stießen an. „Auf erstaunliche Erkenntnisse, die uns nie einer glauben wird.“, sagte Siegbert mäßig laut und lachte. Dann bohrte Vanessa weiter: „Neben dieser extremen Langlebigkeit, welche Unterschiede zu uns gibt es noch?“ Hades schien ein wenig genervt, antwortete aber trotzdem ausführlich: „Das Energieniveau unserer Körper ist anders, wodurch wir die Fähigkeit haben andere Gestalten anzunehmen und uns durch den Raum zu teleportieren, wenn das das richtige Wort dafür ist.“ „Das ist also nicht deine wahre Gestalt?“, hakte sie nach. „Es ist die Gestalt, die ich bei meiner Erschaffung gewählt habe.“, erwiderte sie. Vanessa stutze: „Also warst du schon immer so? Keine Kindheit? Ist das so was wie klonen?“ „Ähm, nicht ganz.“, versuchte sie zu erklären, stockte dann aber ab: „Ich mag jetzt eigentlich nicht darüber sprechen, wie sich meine Spezies fortpflanzt.“ „Ach komm schon.“, ermunterte Vanessa sie während Siegbert amüsiert lauschte. „Na gut.“, lenkte Hades ein, gönnte sich einen weiteren Schnaps und sprach: „Um funktionstüchtige Nachkommen zu zeugen, brauchen die Eltern erstens eine Genehmigung und zweitens kompatible Gene.“ „Äußerst romantisch.“, bemerkte Vanessa, doch sie ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und redete weiter: „Streng getrennte Geschlechter wie bei euch Menschen gibt es bei meiner Spezies nicht mehr, wir entscheiden uns für eine Erscheinungsform. Die Eltern vermischen in einer Art Energiewolke ihre Genome und formen daraus den Nachkommen, welcher mit dem gesamten Wissen der Spezies ausgestattet wird. Es ähnelt dem Akt der Zeugung und ist eine ebenso intensive Erfahrung. Je besser die Eltern zusammenpassen, desto stärker und klüger werden die Nachkommen. So haben meine Erzeuger eine ganze Reihe durchsetzungsfähige Kinder geschaffen, die jetzt überall in führenden Positionen sitzen. Trotzdem haben wir immer noch Stärken und Schwächen, wobei wir versuchen die Stärken zu fördern und die Schwächen zu verringern. Sobald der Nachkomme ein Bewusstsein erlangt hat, das durch die Verschmelzung der Bewusstseinsebenen der Eltern entsteht, kann er eine Form für sich wählen, die jedoch nicht endgültig sein muss. Es ist schwierig zu erklären, da ihr stärker an eure Körper gebunden seid und euch das sicher nicht so richtig vorstellen könnt.“

„Für mich hört sich das total nach Science Fiction an.“, lachte Vanessa auf und kippte sich noch einen Schnaps in den Mund. „Die Genehmigung braucht ihr wohl um eine Überbevölkerung zu vermeiden, oder?“, wollte Siegbert wissen. Hades wippte unentschieden mit dem Kopf und antwortete: „Nicht nur. Diese Regelungen traten in Kraft, als wir merkten, dass wir nahezu unsterblich wurden. So kontrollieren wir nicht nur die Bevölkerungszahl sondern betreiben auch eine Auslese für die Weiterentwicklung unserer Spezies. Es darf also nicht jeder mit jedem Nachkommen zeugen. Das ist anfangs, als Macht noch eine größere Rolle gespielt hat, etwas anders gewesen, da wollte man noch so viele Ämter und Positionen wie möglich mit dem eigenen Familienclan besetzen. Davon sind wir aber abgekommen und mittlerweile andere Kriterien wichtiger.“

Leicht lallend warf nun Vanessa dazwischen: „Was ist mit Liebe? Hast du nicht sogar deine eigene Nichte entführt um sie zu heiraten?“ Peinlich berührt gab Hades zu: „Ja, das ist aber schon ewig her und war eine blöde Schnapsidee gewesen. Bei uns läuft das eben etwas anders. Komplizierte Familienverhältnisse sag ich nur dazu.“ „Wie im Hamsterkäfig.“, stichelte Vanessa weiter und bekam einen überraschten und gleichzeitig vorwurfsvollen Blick von Siegbert zugeworfen, der scheinbar befürchtete, ihre lockeren Bemerkungen könnten die Besucherin verärgern. Doch schnell trank die nur ihr Bier leer und bestellte eine neue Runde.

Jetzt musste sie eine Peinlichkeit nach der anderen über sich ergehen lassen, bis alle Sagengeschichten durchgearbeitet waren, an die sich Vanessa erinnern konnte. Siegbert schüttelte nur immer wieder den Kopf und versuchte zu beschwichtigen. Die Studentin hatte jedoch sichtlich Spaß daran Hades aus der Reserve zu locken und die ließ es ihr gutmütig durchgehen bis Vanessa offenkundig betrunken war.

Für Siegbert wurde ein Taxi bestellt, Vanessa brachte Hades dagegen persönlich heim. Mit einem Sprung waren sie in ihrem Zimmer gelandet, woraufhin die Studentin ins Bad stürzte und sich erst einmal übergab. Hades verweilte im Flur vor der Badtür und bot ihre Hilfe an als auf einmal Susi neben ihr stand und sie missmutig beäugte. „Hast du sie abgefüllt?“, fragte die Mitbewohnerin harsch und etwas überrascht antwortete sie: „Hast du ein Problem mit mir?“ „Noch nicht, aber ich bin ziemlich misstrauisch. Mit dir stimmt doch was nicht, oder?“, konterte sie provozierend. Hades zog die Brauen hoch und bemerkte: „Jetzt bin ich neugierig. Das musst du mir tatsächlich näher erklären.“ Susi plusterte sich regelrecht auf und entgegnete: „An letzte Nacht kann sich Vanessa nicht mehr erinnern, heute hängt sie kotzend über der Kloschüssel. Entweder füllst du sie ständig ab oder du ballerst ihr irgendwelche anderen Drogen rein, die sie nicht verträgt. Also, was ist es? Und wo hat sie dich überhaupt aufgegabelt?“ „Vorsicht!“, mahnte Hades nun, setzte eine finstere Miene auf, die Susi erschauern ließ, und drohte: „Zügle deine haltlosen Bemerkungen. Ich setze sie nicht unter Drogen, noch habe ich das vor. Du hast ja keine Ahnung mit wem du dich hier versuchst anzulegen und ich warne dich es zu weit zu treiben.“ Susi fasste allen Mut zusammen und konterte: „Egal wie bedrohlich du auch wirken magst, ich behalte dich im Auge und wenn ich merke, dass du Vanessa irgendwie weh tust, finde ich Mittel und Wege das zu beenden.“

Schlagartig grinste Hades unheimlich und Vanessa unterbrach die merkwürdige Situation, indem sie aus dem Bad in ihre Arme torkelte. Dabei rief sie fröhlich: „Hallo Susi! Wie geht es dir? Der letzte Schnaps war wohl schlecht gewesen aber Hades hat mich sicher nach Hause gebracht. Nett, oder?“ Susi lächelte ihre Mitbewohnerin an und nickte. Dann wünschte sie eine gute Nacht, warf Hades noch einen eisigen Blick zu, die sich kaum ein Lachen verkneifen konnte, und verschwand in ihrem Zimmer.

Beinahe fürsorglich brachte die Besucherin Vanessa danach in ihren Raum, wo sie auf einmal gar nicht mehr so betrunken wirkte. „Dein Bruder hat es doch öfters mal mit Menschen getrieben, nicht wahr? Die Geschichten von Europa, Herkules und anderen Halbgöttern. Hast du das auch getan?“, fragte sie sie geradewegs heraus. Irritiert sah Hades sie an und wusste nicht recht, wie sie dem entgegnen sollte. „Sei ehrlich.“, sagte Vanessa daraufhin. „Ich sollte jetzt besser gehen.“, stellte Hades fest, doch Vanessa blieb hartnäckig. „Du hast es immerhin letzte Nacht mit mir getan, daran kann ich mich aber nicht erinnern. Willst du das vielleicht wieder gut machen?“ Sie legte eine Hand auf ihre Brust und sah ihr fest in die Augen, woraufhin Hades bemerkte: „Du provozierst mich? Ernsthaft?“ Doch Vanessas Blick blieb standhaft und sie konterte: „Es ist deine Chance dich zu entschuldigen.“ „Ich glaube, da spricht der Alkohol aus dir.“, antwortete Hades daraufhin. Vanessa flüsterte: „Und die Neugier.“ „Ich werde mich dafür hassen.“, murmelte sie und die Studentin sprach leise: „Das hoffe ich.“ Dann atmete Hades tief durch und ließ ihre Lippen auf Vanessas sinken.

Als sie später völlig erschöpft eingeschlafen war und Hades selbstzufrieden triumphierte, sie dieses Mal nicht in die Bewusstlosigkeit geschickt zu haben, machte sie sich auf, noch ein paar Sehenswürdigkeiten des Planeten zu erkunden. Sie hatte sich für die folgenden Stunden ziemlich viel vorgenommen und wollte keine Minute unnötig verstreichen lassen. Parasailing über dem Grand Canyon, Bungee- Jumping von der Bloukrans Bridge und einen Abstecher auf den Mount Everest, in dieser Welt fühlte sich alles einfach so viel intensiver und so viel realer an, auch wenn sie sich das vielleicht nur einbildete.

 

Als Vanessa am nächsten Morgen die Küche betrat, erschrak Susi direkt ein wenig. Sofort sprach sie ihre Mitbewohnerin, die tiefe dunkle Schatten unter den Augen hatte und unnatürlich blass wirkte, an: „Was ist denn mit dir passiert? Du siehst echt furchtbar aus.“ „Danke, Kaffee.“, waren Vanessas einzige Worte bevor sie sich mit einer dampfenden Tasse in der Hand auf einen Stuhl am Küchentisch fallen ließ. Susi starrte sie unentwegt und auffordernd an, sodass sie sich genötigt fühlte etwas zu sagen: „Ich habe zwischendurch wirklich gedacht die bringt mich um.“ „Wie meinst du das? Hat sie dir weh getan?“, hakte Susi ernsthaft besorgt nach. Vanessa stierte Löcher in die Luft und antwortete leise: „Ich kann es nicht beschreiben. Es war der Wahnsinn und gleichzeitig als würde mir das Leben aus der Brust gerissen. Das halte ich glaub ich nicht noch mal durch.“ „Vanessa, du machst mir Angst! Schick die Alte in die Wüste, wenn sie dir nicht gut tut! Das hast du doch nicht nötig!“, forderte Susi sogleich und ergriff Vanessas Hand. Wie aus einer Trance gerissen, sah diese ihre Freundin jetzt an und hauchte: „Du hast ja keine Ahnung, wozu diese Frau eigentlich fähig ist.“ Entrüstet wurde Susi lauter: „Nein, keine Ausreden! Schick sie weg! Werd sie los! Keinesfalls seh ich mir das untätig an!“ Daraufhin stand Vanessa auf, nahm ihre Tasse und verließ einfach die Küche. Tief betrübt schaute Susi ihr nach.

Nur wenige Augenblicke später betrat auf einmal Hades breit lächelnd den Raum, hielt eine Einkaufstüte hoch und rief freudig: „Ich hab Brötchen mitgebracht und zwar von DEM Bäcker in Berlin. Das macht ihr doch so, oder? Frühstücken?“ Sie strahlte einen Elan aus, der Susi auf Anhieb wütend machte. Sofort sprang sie auf und blaffte sie an: „Was zum Henker denkst du dir eigentlich?“ Völlig irritiert verzog sich ihr Lächeln zu einem fragenden Ausdruck. Susi postierte sich dicht vor ihr und drohte: „Mir ist vollkommen egal wer du bist. Aber wenn du Vanessa nur ein Haar krümmst, dann kriegen wir ernsthafte Probleme miteinander! Hast du mich verstanden?“ Verwirrte sah Hades sie an und nickte stumm. Daraufhin machte Susi auf dem Absatz kehrt und ließ sie alleine in der Küche stehen. Sie konnte überhaupt nicht einordnen, was hier soeben geschehen war, legte den Brötchenbeutel auf den Tisch und ging zu Vanessas Zimmer.

Vor der geschlossenen Tür blieb sie stehen, klopfte vorsichtig an und trat ebenso vorsichtig ein. Mit dem Kaffeebecher in der Hand saß die Studentin irgendwie verloren wirkend auf der Bettkante und starrte zu Boden. Langsam nährte Hades sich an und hockte sich schließlich vor ihr hin. „Hab ich was getan, das dich so traurig macht?“, fragte sie leise. Vanessa sah ihr in die Augen und meinte: „Ich bin nicht traurig.“ Daraufhin stand Hades auf, nahm ihr den Becher ab und sagte: „Komm mit, ich will dir was zeigen.“

Nachdem Vanessa fast schon resigniert ihre Hand ergriffen hatte, befand sie sich urplötzlich am Rande eines gigantischen Wasserfalls. Vor Schock bebend, krallte sie sich hektisch atmend an Hades fest, die sie sogleich in eine schützende Umarmung nahm. In den Abgrund starrend hörte sie nur dumpf ihre leisen Worte, die sie in ihr Haar murmelte: „Ist es nicht wunderschön hier?“ Es dauerte ein paar Minuten bis sie sich beruhigt hatte und gerne gab Hades ihr die Zeit bevor sie sie zu einer Stelle am Rande des Wasserfalls zog und sie aufforderte sich mit ihr zusammen ins Gras zu setzen. Eine Weile lang saßen sie dann so nebeneinander da und beobachteten die Wassermassen, die unentwegt in die Tiefe stürzten.

Völlig unvermittelt stellte Hades schließlich, weiterhin in die Wasserwand blickend, eine gewichtige Frage: „Hast du Angst vor mir?“ Vanessas Unterlippe zitterte. Sie konnte jemandem, der so viel Macht besaß, doch nicht einfach sagen, dass er zu weit ging. Sie war immerhin das Oberhaupt eines ganzen Planeten und quasi ein Gott. Sie schluckte, sah betreten auf den Boden vor sich und brachte keinen Ton hervor. Jetzt wandte Hades sich ihr zu, legte eine Hand auf ihre Schulter und redete beschwichtigend auf sie ein: „Vanessa, du musst keine Angst vor mir haben. Du bist einer der Gründe, weshalb ich überhaupt hier bin. Ich werde dir und deinen Freunden nichts tun und du kannst ganz offen mit mir reden. Ich bitte darum. Sag mir was dich bedrückt. Was habe ich getan?“ Ihren inneren Zweifel überwindend, fasste sie allen Mut zusammen und würgte hervor: „Letzte Nacht hat mir die Augen geöffnet. Ich weiß jetzt wer du bist, welche Macht du über mich und andere Menschen haben kannst und ich befürchte, dass ich dem nicht gewachsen bin.“ Überrascht horchte Hades auf. „Das musst du mir näher erklären.“ Vanessa atmete tief durch, sah sie direkt an und antwortete mit großer Überwindung: „Ich habe Angst vor deinen wahren Absichten. Du bist nicht ohne Grund hier und ich befürchte, dass du früher oder später jemanden ernsthaft verletzen oder sogar umbringen wirst. Ich will kein Teil davon sein.“

Damit hatte sie nicht gerechnet, zog sogleich ihre Hand von Vanessas Schulter zurück und senkte ihren Kopf als würde sie ernsthaft grübeln. Sie konnte spüren wie ihre Blicke sie durchbohrten und versuchte sich zu entschuldigen: „Es tut mir sehr leid, wenn ich dir weh getan habe und dich überfordere. Mein letzter so direkter Umgang mit Menschen ist etwas mehr als zweitausend Jahre her. Ich habe viel verlernt.“ Mit treuen Hundeaugen drehte sich Hades jetzt wieder zu ihr und redete weiter: „Kannst du mir verzeihen? Ich verspreche an mir zu arbeiten. Bitte hilf mir dabei besser zu werden.“ Skeptisch zog Vanessa die Brauen zusammen. Meinte sie das wirklich ernst? Wieso sollte sie an sich arbeiten wollen?

„Warum genau bist du hier?“, fragte sie schließlich misstrauisch, woraufhin Hades begann zu Lächeln und antwortete: „Weil ich es kann.“ Doch das war nicht alles. Ihr Blick schweifte wieder zurück auf den Wasserfall und mit voller Überzeugung sprach sie weiter: „Und weil ich diesen Planeten liebe wie meinen eigenen und ich die Menschheit davor bewahren möchte sich selbst zu zerstören.“ Vanessas Skepsis schlug in Überraschung um. „Du willst dich den Menschen offenbaren?“ „Erst wenn die Zeit gekommen ist.“, flüsterte sie als Antwort.

Eine Zeit lang saßen sie noch schweigend da und beobachteten weiterhin das unaufhaltsam in die Tiefe tosende Wasser. „Es ist wunderschön, nicht? Warst du schon mal hier?“, fragte die Besucherin dann. Vanessa schüttelte den Kopf und erklärte: „Nein und ich habe leider auch keine Ahnung wo wir hier eigentlich sind.“ Hades lachte, stand auf, ging ganz dicht an den Rand, breitete die Arme aus und rief laut: „Willkommen am Iguazu!“ Tief sog sie die kühle, feuchte Luft in ihre Lungen, kehrte erfrischt zu Vanessa zurück, die inzwischen aufgesprungen war, da sie fürchtete Hades würde sich mit den Wassermassen zusammen hinunterstürzen, reichte ihr erneut die Hand und sprach: „Ich möchte dir gern meine Welt zeigen.“ Überrumpelt erwiderte Vanessa: „Wie? Jetzt?“

Im nächsten Augenblick befanden sie sich wieder in Siegberts Werkstatt. Erschrocken machte der Mann einen Satz zur Seite als die zwei urplötzlich mitten im Raum auftauchten. Vanessa sank mit weichen Knien zu Boden. Hades half ihr wieder auf und sagte: „Nein, nicht jetzt. Aber bald. Zunächst muss ich allein zurückkehren und nach dem Rechten schauen. Meine Abwesenheit ist hoffentlich noch nicht aufgefallen.“

Entschlossen begab sie sich zum Spiegel, holte den Schlüsselstein aus der Tasche und drückte ihn in den Rahmen. Sofort leuchteten alle anderen Kristalle wieder auf und ein unheimliches Summen, das den zweien vorher gar nicht aufgefallen war, durchströmte den Raum. Wie angewurzelt beobachtete Siegbert die Frau von der anderen Seite, die nun auf ihn zukam und sprach: „Siegbert, mein Freund.“ Sie klopfte kumpelhaft auf die Schultern des Archäologen und redete weiter: „Was du getan hast, lässt sich nicht so einfach vergelten. Darum will ich dir ein Geschenk machen.“ Hades trat einen Schritt zurück und in ihren Händen materialisierte sich auf einmal eine kunstvoll verzierte Hülse. Mit weit aufgerissenen Augen verfolgten die zwei Menschen den an Zauberei grenzenden Vorgang. Nun reichte Hades Siegbert den aus dem Nichts erschienenen, geheimnisvollen Behälter mit den Worten: „Hier drin findest du die Lagepläne aller noch nicht gefundenen, großen Schätze dieser Welt. Du wirst berühmt werden und einer der erfolgreichsten Archäologen deiner Ära.“ Fassungslos starrte Siegbert auf die Hülse und öffnete vorsichtig den Deckel. Zum Vorschein traten Landkarten und Wegbeschreibungen, die ihm den Atem stocken ließen. Er brachte keinen Ton hervor. Er war so überwältigt, dass er nicht einmal ein „Danke“ herauswürgen konnte.

Zufrieden lächelnd wandte sich Hades nun Vanessa zu, die ebenso perplex drein schaute. Beinahe zärtlich umarmte sie sie und drückte ihr einen innigen Kuss auf den Mund. Dann flüsterte sie: „Ich komme nächsten Donnerstag wieder, wenn dir das recht ist?“ Überrascht starrte Vanessa Hades an und fragte: „Wieso fragst du mich das?“ „Seit Generationen behütet deine Familie den Schlüssel zu diesem Tor. Es liegt in deiner Entscheidungsgewalt, ob du mich wieder herkommen lässt oder nicht.“ Noch einmal küsste sie sie, flüsterte dann nah in ihr Ohr: „Ich hoffe, du erlaubst mir die baldige Rückkehr.“, löste sich von ihr, steuerte den Spiegel an und sprang mit einem beherzten Satz durch das Glas.

Als wäre sie in das glatte Wasser eines stillen Sees getaucht, kräuselten sich sanfte Wellen über die gesamte Oberfläche des Spiegels. Sie war verschwunden und Vanessa starrte stumm so lange auf das Portal, bis sie keine Bewegungen mehr wahrnehmen konnte.

In dem Moment trat Siegbert, der diese groteske Szenerie die ganze Zeit lang aufmerksam und irritiert beobachtet hatte, an sie heran und fragte mit einem skeptischen Blick: „Noch einmal, was genau läuft da zwischen euch beiden?“

 

7

Ein Stück weit schlitterte sie über den Boden als sie auf ihren Füßen in dem dunklen, einsamen Raum landete. Es war schon zu lange her und ihr fehlte eindeutig die Übung zur gekonnten Durchquerung des Portals. Doch im Moment spielte das keine Rolle, vielmehr überwog die Freude über das endliche Gelingen des Projekts. Nach so vielen Jahren des ungeduldigen Wartens, hatte sie es endlich einmal wieder auf die andere Seite geschafft. Es fühlte sich fantastisch an und am liebsten hätte sie Freudentänzchen aufgeführt und jedem davon erzählt. Allerdings war das nicht möglich. Keiner hier durfte erfahren, dass das Portal wieder einsatzbereit war. Sie mochte sich gar nicht ausmalen was ihr Bruder ihr antun würde, wenn er davon erführe.

Mit einem strahlenden Lächeln trat sie noch einmal vor die Wand, die ihr den Blick in die Werkstatt eines Museums gewährte, das nicht von dieser Welt war. Vanessa schien sie anzustarren, doch sie wusste, dass sie sie nicht sehen konnte. Und nachdem sich Siegbert zu ihr gesellt hatte, entschloss sie sich mit einem Seufzen dazu den Schlüsselstein auf dieser Seite zu entfernen. Am Ende kamen diese Menschen noch auf die wahnwitzige Idee ohne Vorbereitung und Begleitung ebenfalls durch das Portal zu gehen. Das durfte sie nicht riskieren. Sie würden sicher entdeckt werden und dann zu viel Chaos anrichten.

 

Nachdem das Bild erloschen war, kehrte sie fast wehmütig in ihr eigentliches Leben zurück. Den Raum mit der unscheinbaren Tür schloss sie sorgfältig ab und schlenderte aus dem Keller hinaus. Niemand wusste davon, dass es in diesen kühlen, dunklen Versorgungsgemäuern ein geheimes Zimmer gab, das eigentlich laut Bauplan gar nicht existierte. Wie die anderen Heizungs- und Lagerräume hatte es eine ebensolche metallene Tür, nur passte keiner der gängigen Schlüssel.

Entspannt begab sie sich in die große Eingangshalle ihres Bürogebäudes und wurde sogleich von einem aufgeregten Mitarbeiter empfangen. „Hades! Endlich sind Sie wieder da! Wir haben Sie schon überall gesucht!“, rief der Mann fast schon hysterisch und bekam nur zur Antwort: „Ach wirklich, überall? Was gibt es denn so Dringendes?“ Schnell drückte er seiner Chefin ein Tablet in die Hand und erklärte hektisch: „Es gab eine Katastrophe von gewaltigem Ausmaß. Gleich mehrere Osttore sind völlig überlaufen worden. Wir müssen dringend Ressourcen umlagern um all die Neuankömmlinge versorgen zu können. Wo sollen wir diese abziehen?“ Hades blieb stehen und warf einen Blick in die Akte. Völlig entgeistert rief sie dann aus: „Wie viele sind das? Hundertzwölftausend?“ „Tendenz steigend.“, antwortete der Mitarbeiter erschüttert. Sofort schoss ihr Adrenalinspiegel in die Höhe und versetzte Hades in Alarmbereitschaft. Während ihrer gesamten Laufbahn hatte sie das nur ein einziges Mal erlebt und bis heute steckte dieses welterschütternde Ereignis, das sie damals Sintflut getauft hatten, den Menschen tief in den Knochen.

Eilig lief sie daraufhin in die Zentrale im ersten Stock. Wie in einem Ameisenhaufen wuselten die Leute hektisch durcheinander. Sie mussten schnellstmöglich alle notwendigen Maßnahmen einleiten um die betroffenen Auffangstationen bestmöglich zu unterstützen. Ärzte und Pflegekräfte wurden mobilisiert, zusätzliche Betten und Krankentransporte organisiert und ein öffentlicher Aufruf gestartet, der alle dazu bewegen sollte mit anzupacken.

Der Strom an Neuankömmlingen riss bis zum Ende der Nacht nicht ab. Mehr als Zweihunderttausend Seelen wurden letztlich regelrecht durch die Tore gespült. Die Helfer arbeiteten bis zur Erschöpfung und alle waren froh als die Katastrophe am Tag darauf endgültig abflaute. Stundenlang waren die Auffangstationen völlig überfüllt gewesen. Wer transportfähig war, wurde eilig an weniger belastete Torkrankenhäuser verlegt und schließlich ging es noch darum die Menschen zusammenzuflicken, die nicht in einem Stück angekommen waren. Hades behielt nervenstark den Überblick, manövrierte ihre Leute wie in einem überdimensionalen Schachspiel und glücklicherweise waren sie verdammt gut organisiert um alles bald erfolgreich im Griff zu haben.

Wieder einmal zeigte sich, dass sie sich wirklich auf ihren Stab verlassen konnte. Wenn sie einen Befehl gab, wurde dieser ohne zu Murren befolgt. Es überraschte sie stets, dass doch so eine respektable Führungspersönlichkeit in ihr steckte, obwohl sie in ihrem bisherigen Leben nie große Heere hatte befehligen müssen. In Notsituationen wussten eben alle, dass sie die unangefochtene Meisterin dieses Spiels war.

Als sich nun Tage später, in welchen sie ununterbrochen am Organisieren und Vermitteln gewesen war, sogar selbst und mit eigenen Händen in den Stationen mit angepackt hatte, die Wogen allmählich glätteten, konnte sie endlich aufatmen. Die Anspannungen der Krise legten sich langsam und erschöpft nutzte sie die Gelegenheit sich in ihr Apartment zurückzuziehen. Sie hatte ja nicht geahnt, dass ausgerechnet innerhalb der kurzen Zeit ihrer Abwesenheit gleich solch eine Katastrophe passieren würde und war jetzt froh, dass sie doch so schnell damit fertig geworden waren. Den Rest sollten ihre Leute auch ohne sie schaffen.

Mit einem Glas Scotch in der Hand ließ sie sich auf einen bequemen Drehsessel in ihrem Apartment fallen und genoss einen Moment lang die Ruhe. In den letzten Tagen war alles so schnell gegangen, dass sie noch gar keine Zeit gehabt hatte die Ereignisse rekapitulieren zu können. Ausnahmsweise hatten ihre Neffen mit diesen schrecklichen Geschehnissen nichts zu tun. Für eine Naturgewalt dieses Ausmaßes konnte sie sie beim besten Willen nicht verantwortlich machen. So viele Seelen hatten ihr trauriges Ende in den nasskalten Fluten des Ozeans gefunden. Es erstaunte sie immer wieder, mit welcher Gewalt ihre geliebte Erde doch manchmal gegen die Menschenplage vorgehen konnte. Leider traf es meistens die Falschen, unschuldige Touristen und Einheimische, die sich mühsam ihr ärmliches Leben finanzierten. Die, die sich eigentlich durch die Haut des Planeten bohrten, ihn ausbeuteten und vergifteten, saßen sicher in ihren Palästen und genossen den Luxus, den sie sich auf Kosten anderer angeeignet hatten.

Und das Portal führte sie direkt zu ihnen. Sie hatte es tatsächlich geschafft, es war wieder in Betrieb. Noch immer konnte sie kaum glauben, dass sie es so schnell gewagt hatte hindurchzugehen und gleich mehrere Tage in dieser fremden, dermaßen faszinierenden Welt zu verbringen.

Sie hatte die Menschen getroffen, die ihr diesen großartigen Schritt ermöglichten und war Vanessa, die es ihr seit ihrem ersten Auftauchen in der Werkstatt wirklich angetan hatte, wesentlich näher gekommen als sie das je überhaupt für möglich gehalten hatte. Ihre Rückkehr war zwar etwas hektisch geworden, doch diese Herausforderung verblasste ein wenig im Angesicht der Tatsache eine direkte Brücke zu einem anderen Planeten in einem anderen Universum zu besitzen.

 

Es klopfte an der Tür und noch ehe sie „Herein“ sagen konnte, stand schon ihr Bruder im Raum. „Herzlichen Glückwunsch!“, rief Zeus freundlich lächelnd und kam näher. Hades erhob sich nicht, sie war einfach kaputt, bot aber an: „Setz dich doch, nimm dir einen guten Tropfen. Wofür die Glückwünsche?“ Gerne nahm ihr Bruder das Angebot an, goss sich ein Glas ein und ließ sich auf einem anderen Sessel nieder bevor er antwortete: „Na für die hervorragende Meisterung der Unzahl an Neuankömmlingen. Das nenne ich gute Organisation.“ „Danke, ist ja mein Job.“, murmelte Hades und nahm noch einen Schluck. Sie schwiegen kurz. „Weißt du, eigentlich bin ich hier um dir zu sagen, dass deine Ansprache bei Ares scheinbar Eindruck gemacht hat.“, erhob Zeus das Wort. „Ach wirklich?“, spuckte Hades ungläubig aus. „Ja, er hat seinen Jungs tüchtig den Kopf gewaschen und sie dazu verdonnert mitzuhelfen wenn die nächsten Opfer ihrer Terrormache ankommen.“, erklärte ihr Bruder weiter. Jetzt horchte Hades auf und hakte nach: „Tatsächlich? Das wundert mich jetzt wirklich. Als er gegangen war, hatte ich nicht den Eindruck irgendwas bewirkt zu haben. Was ist passiert?“ „Er war noch mal bei mir und wir haben uns lange über die Thematik unterhalten. Schließlich sah er ein, dass es vielleicht doch an der Zeit ist, dir mal eine Pause zu gönnen.“, antwortete Zeus freundlich. „Mir eine Pause gönnen? Ist das dein Ernst?“, rief Hades daraufhin sauer aus und sprang auf. „Ihr habt überhaupt nicht verstanden, worum es mir eigentlich geht! Ihr habt keinen Respekt vor dem Leben!“ Zeus erhob sich nun ebenfalls und erwiderte: „Schwester, ich denke du missverstehst uns. Natürlich schätzen wir das Leben. Nur ist mir vollkommen unklar, warum du so auf diese Menschen fixiert bist. Es gibt doch eine Vielzahl an Lebewesen da draußen, die tausendmal wertvoller sind als diese selbstzerstörende Art. Nicht wir töten ihren Planeten, das machen sie ganz allein. Warum nimmst du sie dermaßen in Schutz? Wach endlich auf, sie sind es nicht wert.“ In Hades kochte es vor Wut. Sie zeigte auf die Tür und zischte: „Raus mit dir!“ Seufzend schlurfte Zeus in Richtung Ausgang, drehte sich aber noch einmal zu seiner Schwester um und sprach leise: „Bitte Schwesterchen, lass uns in Ruhe darüber reden. Ich will es nur gerne verstehen.“ „Ich kann und will nicht einsehen, dass ich die letzten zehntausend Jahre meines Lebens sinnlos vergeudet haben soll. Sie sind denkende, fühlende Wesen, uns nicht unähnlich. Sie entwickeln sich und mit unserer Hilfe könnten sie einen Sprung in die Zukunft machen, der ihre selbstzerstörende Art ausschaltet und ihnen den Aufstieg in ein harmonischeres und erfüllteres Dasein ermöglicht. Das Potential ist da. Ihr seht es nur nicht!“, redete Hades nun auf ihren Bruder ein. Doch Zeus schüttelte nur den Kopf und erwiderte: „Du warst schon immer größenwahnsinnig. Du willst ein neues Göttergeschlecht erschaffen und dich als Schöpfer von diesem hervortun. Doch das ist nicht unsere Aufgabe in diesem Universum. Wir sind Beobachter und Verwalter. Den Menschen wurde schon zu viel geschenkt und wehe den anderen Zivilisationen, sollte es die Menschheit jemals schaffen ins All aufzubrechen. Sie sind eine invasive Art und werden ganze andere Welten zerstören. Das kann ich nicht befürworten und schon gar nicht fördern. Und du solltest das auch nicht!“ Daraufhin verschwand er zur Tür hinaus.

Immer noch wütend ließ sich Hades zurück in den Sessel fallen. Ihr Bruder hatte ihre Pläne doch wesentlich besser erfasst als angenommen. Sie hatte tatsächlich Großes mit der Menschheit vor. Nur stand sie hier zu sehr unter Beobachtung als dass sie das unbemerkt bewerkstelligen konnte. Würde sie ihr Wissen und die Technologie ihrer Spezies an die Erde weitergeben, wären die Menschen innerhalb weniger Jahrhunderte die vorherrschende Rasse in ihrer Galaxie und bald auch in ihrem Universum und sie ihre alleinige Anführerin. Ihre Macht würde ins Unermessliche wachsen und sie einen weiteren Schritt in Richtung Unsterblichkeit gehen. Ganze Welten würden sie als oberste Gottheit anbeten. Bei dem Gedanken lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Hatte ihr Bruder mit dem Größenwahn vielleicht recht? Sie wollte ihr Leben nicht länger nur als Beobachter und Verwalter verbringen, sie wollte mehr.

 

8

Es war an der Zeit wie versprochen auf die Erde zurückzukehren. Nach den letzten Zwischenfällen änderte Hades jedoch ihre Pläne und wollte nur einen Tag auf der schönen neuen Welt verbringen und dann schon Vanessa und Siegbert mit in ihre nehmen. Ursprünglich hatte sie sich das erst für viel später vorgenommen, doch vielleicht musste sie mit Zeus und der restlichen Sippe im Nacken ihr Vorhaben beschleunigen.

Leicht nervös klickte sie den Schlüsselstein in den Rahmen und hoffte, dass sie sich in den zwei Menschen nicht getäuscht hatte. Und ja, da war es, das Bild der anderen Welt, die Werkstatt. Der Schlussstein leuchtete glänzend grün, das Portal war also offen.

 

Siegbert pinselte konzentriert an einer kleinen Vase herum als auf einmal die Kristalle im Rahmen des Spiegels zu strahlen begannen. Ihm waren während der letzten Tage ernsthafte Zweifel gekommen ob die Besucherin tatsächlich noch einmal vorbeischauen würde. Doch jetzt griff er eilig nach dem Telefon und sagte Vanessa sofort Bescheid, dass sich das Tor aktiviert hatte.

 

Hades kontrollierte, dass die Tür des Kellerraumes fest verschlossen war, atmete noch einmal tief durch und sprintete los. Mit einem kräftigen Satz sprang sie durch das Bild und landete dieses Mal gekonnt und nur leicht schlitternd auf der anderen Seite in der Museumswerkstatt.

Siegbert erschrak trotz Erwartung sichtbar, war aber erleichtert ein bekanntes Gesicht durch den Spiegel kommen zu sehen. Schnell ging er auf Hades zu um sie freundschaftlich zu begrüßen. Die erwiderte die nette Umarmung und fragte aufrichtig interessiert: „Und? Hast du dir schon die Karten angesehen?“ Freudig nickend erklärte Siegbert sogleich: „Ja, natürlich. Das ist einfach unglaublich. Ich danke dir von ganzem Herzen. Die ersten Expeditionen sind schon in Planung und ich kann es kaum erwarten all die verschollenen Zeugen der Geschichte zu bergen.“ „Auf was freust du dich am meisten?“, fragte sie weiter. Kurz dachte Siegbert nach und antwortete dann: „Ich glaube das Bernsteinzimmer wird vor allem die deutsche Archäologengemeinschaft in hellen Aufruhr versetzen.“ Lachend klopfte Hades auf Siegberts Schulter und stellte fest: „Du wirst bald ein sehr berühmter Mann sein und die Möglichkeit haben das Verständnis des Universums für viele Menschen grundlegend zu ändern.“ Anschließend ging sie zum Spiegel, drückte den Schlüsselstein aus seiner Halterung, rückte ihre Kleidung zurecht und meinte: „So, und jetzt besuche ich Vanessa.“ „Sie wird noch in der Uni sein.“, bemerkte Siegbert schnell und erklärte: „Ich habe ihr aber schon Bescheid gesagt, dass das Tor aktiviert wurde. Sie wird wohl aber noch in einer Vorlesung sitzen.“ „Dann auf zur Uni!“, rief Hades daraufhin aus und war schon verschwunden. Etwas überrumpelt blieb Siegbert in der Werkstatt zurück. Er hatte eigentlich so viele Fragen, die er mit diesem Wesen erörtern wollte und bekam einfach keine Gelegenheit dazu.

An einem stillen Plätzchen hinter der Universität schlug Hades inzwischen auf und begab sich sogleich in das Gebäude. Sie konnte Vanessas Anwesenheit spüren. Sie übte eine fast schon magische Anziehungskraft auf sie aus, die sie auf direktem Wege zu dem Vorlesungssaal führte, in welchem ein Professor gerade über Aufstieg und Fall des aztekischen Reiches referierte. Leise setzte sich Hades in die hinterste Reihe und lauschte interessiert den Ausführungen. Gern wäre sie live dabei gewesen, doch ihre Fußfessel hatte sie daran gehindert. Nicht einmal nur im Geiste hatte sie sich auf der Erde bewegen dürfen. Der Kern der letzten zweitausend Jahre Menschheitsgeschichte war ihr deshalb nur lückenhaft aus Büchern bekannt.

Dann war die Vorlesung vorbei und die Studenten strömten an ihr vorbei aus dem Hörsaal. Vanessa kramte gerade ihr Telefon aus der Tasche und las Siegberts Nachricht als sich Hades ihr in den Weg stellte. Völlig perplex starrte sie sie daraufhin an und stellte fest: „Du? Hier? Seit wann?“ Lächelnd nahm sie sie in den Arm und drückte ihr einen liebevollen Kuss auf den Mund. „Danke, dass ich wiederkommen durfte. Diese Vorlesung war wirklich interessant.“, antwortete sie anschließend. Vanessa betrachtete sie immer noch ungläubig und hinterfragte: „Ich dachte du kennst unsere Geschichte in- und auswendig. Hast du dir das denn nicht sogar live angesehen?“ Sie griff ihre Hand und sie schlenderten los während Hades erklärte: „Nein, leider fehlt mir diese Zeit komplett. Von etwa eurem Jahr Null bis zum Jahr Zweitausend musste ich doch meinen Arrest ableisten, war also komplett abgeschottet. Ich habe viel verpasst. Erst ab etwa dem 19. Jahrhundert durfte ich wenigstens wieder Kontakt aufnehmen und dem einen oder anderen Menschen einen Gedanken einflüstern.“ „Zu diesem Einflüstern habe ich noch eine Frage.“, sagte Vanessa nun und hielt an. „Was oder wer gibt euch eigentlich das Recht dazu? Ihr mischt euch damit schließlich weiterhin in die Entwicklung der Menschheitsgeschichte ein.“ Hades sah sie durchdringend an und antwortete schließlich: „Du sprichst mir aus dem Herzen. Doch Recht hin oder her, hätten wir uns nie eingemischt, wärt ihr bisher gar nicht so weit gekommen. Ich für meinen Teil würde mich gerne sogar noch viel mehr einmischen. Dann bekäme die Menschheit den evolutionären Sprung, der sie auf eine völlig neue Daseinsebene befördert. Aber diese Entscheidung liegt nicht bei mir. Ich riskiere schon viel damit überhaupt hier zu sein.“ Sie gingen weiter. „Hast du schon mit Siegbert gesprochen?“, wollte Vanessa nun wissen. „Inwiefern?“, erwiderte Hades nur und sie führte aus: „Ich glaube, der hat noch eine Menge Fragen an dich. Vielleicht sollten wir uns noch einmal zusammen in eine Kneipe setzen und bei ein paar Bierchen über die Dinge sprechen, die uns in den letzten Tagen so durch den Kopf gegangen sind.“ „Sehr gern, doch dieses Mal suche ich die Kneipe aus, in Ordnung?“, stimmte Hades zu. Vanessa nickte und benachrichtigte Siegbert, dass sie vorbei kommen würden.

Heute ließ sich Hades sogar dazu bewegen ganz Mensch zu sein und mit der Straßenbahn zum Museum zu fahren. Vanessa schlugen die Sprünge gewaltig auf den Magen. Hades erschien es jedoch als vollkommen absurd eingepfercht mit anderen Leuten in einen Waggong, den Fahrkünsten einer einzelnen Person ausgeliefert, durch eine lebhafte Stadt zu fahren. Geschäfte und Häuser zogen unaufhörlich am Fenster vorbei und wie ein staunendes Kind sog sie all diese fremden Eindrücke tief in sich ein. Hatten diese Wesen tatsächlich das Zeug dazu die vorherrschende Rasse dieses Universums zu werden? Erste leise Zweifel schlichen sich in ihre Gedanken wenn sie das bunte, chaotische Treiben beobachtete. Wenn ihr Vorhaben gelingen sollte, musste diese Welt wesentlich geordneter werden. Technologie alleine würde sie nicht zu Herrschern machen.

Eine Weile später kamen sie in der Werkstatt an. Siegbert wusste gar nicht so recht mit welchen Fragen er anfangen sollte. Doch er hatte sich nachträglich zu den Ausführungen von Hades Notizen gemacht und hoffte jetzt ein paar Lücken schließen zu können. Aber noch bevor er überhaupt die erste Frage stellen konnte, durchkreuzte die Besucherin seine Absichten, indem sie sich vor den Spiegel stellte und offenbarte: „Das Lokal, in welches ich euch führen möchte, liegt auf der anderen Seite dieses Portals.“ Völlig überrumpelt starrten die zwei Menschen sie an und brachten einen Moment lang keinen Ton hervor bis Vanessa flüsterte: „Ist das dein Ernst?“ Hades nickte und sprach: „Ich möchte euch meine Welt zeigen. Seid ihr bereit dazu diesen Schritt zu gehen?“ Siegbert hatte sich ein wenig gesammelt und fragte misstrauisch: „Das wird aber nicht so wie in den Sagen, oder? Du lässt uns hinein und dann nicht mehr weg?“ Kopfschüttelnd beruhigte Hades ihn: „Das würde ich euch nicht antun. Ihr sollt nur die einmalige Gelegenheit haben zu sehen, wovon ich spreche.“ „In Ordnung, ich bin dabei!“, bemerkte Vanessa plötzlich euphorisch und stachelte Siegbert mit ihrer Vorfreude an. „Was brauchen wir?“, wollte der wissen, doch Hades lächelte nur und meinte: „Es ist alles vorbereitet, wir können sofort gehen.“ Daraufhin setzte sie den Schlüsselstein wieder in den Rahmen und wartete kurz.

Voll nervöser Unruhe beobachteten die zwei jede ihrer Bewegungen als sie erklärte: „Wenn ihr auf die andere Seite springt, dürfen eure Füße nicht gleichzeitig den Boden und das Portal berühren. Ihr dürft auch nicht zu zögerlich sein, da eine gewisse kinetische Energie notwendig ist um die Barriere zu durchbrechen. Siegbert, bist du fit genug dafür?“ Der Mann nickte und Hades sprach weiter: „Ich gehe zu erst und fange euch auf der anderen Seite ab. Macht es mir einfach nach. Alles klar?“ Vanessa konnte das Adrenalin förmlich spüren, das in diesem Moment durch ihre Adern pumpte. Sie würden es tatsächlich wagen, eine fremde Welt in einem anderen Universum betreten. Es überstieg völlig ihren Verstand.

Beherzt machte Hades daraufhin einen Satz durch den Spiegel und postierte sich erwartungsvoll auf der anderen Seite. Sie konnte die Anspannung der zwei bis hierher spüren und hoffte sie würden den nötigen Mut finden ihr zu folgen.

Vanessa nahm nun Anlauf, rannte ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden los und sprang gegen die spiegelnde Glasfläche.

Voller Entsetzen und Überraschung musste sie feststellen, dass sie in die Oberfläche eintauchte und plötzlich aus einer Wand in einen dunklen Kellerraum fiel. Hades fing sie wie versprochen auf und jubelte regelrecht über ihren heldenhaften Mut.

Jetzt war Siegbert an der Reihe. Losrennen und Springen fielen ihm etwas schwerer, nicht nur wegen seines Alters sondern auch wegen seines Intellekts. Es erschien ihm einfach vollkommen unmöglich auf diese Weise auf einen andern Planeten zu gelangen. Doch er nahm allen Mut zusammen, überwand seine Zweifel und machte ebenfalls einen kräftigen Satz durch das Portal.

Hades empfing ihn mit offenen Armen und klopfte dem Ankömmling herzlich auf den Rücken. Nur vorsichtig öffnete Siegbert die Augen und sah sich verwundert um. Dieser triste, einsame Raum entsprach absolut nicht seinen Erwartungen. Als er sich aber umdrehte und das Wandbild sah, dass seine Werkstatt zeigte, wusste er, dass er tatsächlich in einer anderen Welt angekommen war.

Die Göttin entfernte den Schlüssel auf dieser Seite und wand sich dann ernsthaft an ihre Gäste: „Ich habe eine wichtige Bitte an euch. Ihr wisst, dass es vollkommen illegal ist, was wir hier tun. Wenn jemand von dem Portal erfährt, weiß ich nicht, welche Konsequenzen es für euch und mich haben wird. Also denkt sehr gut darüber nach, was ihr sagt und tut. Wir dürfen keinesfalls auffliegen. Euch ist der Ernst der Lage bewusst?“ Beide nickten angespannt und etwas unsicher, aber Hades lächelte nur und bemerkte: „Let’s get ready to rumble!“ Daraufhin schloss sie die Kellertür auf, schaute sich kurz um und bedeutete dann den zwei Besuchern ihr zu folgen. Nachdem sie sorgfältig wieder abgeschlossen hatte, begaben sie sich zum Fahrstuhl.

Als sich die Türen zur Lobby öffneten, konnten sie ihren Augen kaum trauen. Es war ein regsames Treiben in der gesamten Halle. Menschen wuselten perfekt choreographiert durcheinander und gingen ihren auferlegten Arbeiten nach. Souverän bewegte sich Hades mit ihren zwei Begleitern im Schlepptau auf eine Rezeption zu und bemühte die Frau hinter dem Tresen: „Hallo Nadine, ich brauche zwei Besucherausweise für meine Freunde aus Zone drei, Freigabelevel 1.“ Verdutzt schaute die Frau sie an und erwiderte: „Guten Tag Hades. Das mache ich gern. Aber sind Sie sicher wegen der Freigabe?“ „Ja, die zwei dürfen überall hin, sich frei in der Stadt bewegen. Sie sind hier um zu lernen, effektivere Abwicklung und so. Dafür müssen sie überall ungehindert Zutritt haben.“ Nadine zögerte noch ein wenig bis Hades bemerkte: „Wollen Sie etwa meine Entscheidung in Frage stellen?“ Kopfschüttelnd tippte sie schließlich auf ihrer Tastatur herum, während Siegbert und Vanessa auf einer Liste unterschreiben mussten. Ihre Namen wurden nun ebenfalls ins System eingegeben und ihnen dann ein Besucherausweis ausgehändigt.

Nachdem das erledigt war, meinte Hades: „Dann lasst uns mal mit dem Rundgang beginnen!“

Auf dem Weg zurück zum Fahrstuhl wurden sie allerdings von einem aufgeregten Mitarbeiter überfallen, der rief: „Hades, wo waren Sie? Sie haben das Abteilungsleitermeeting versäumt!“ „Ach, war das heute?“, erwiderte sie nur teilnahmslos und ließ sich den Tabletcomputer mit den Informationen aushändigen. Nachdem sie kurz drüber geschaut hatte, bemerkte sie noch: „Legen Sie doch einfach das Sitzungsprotokoll in mein Fach, ich lese es mir dann später durch, nachdem ich meine Gäste herumgeführt habe.“ Skeptisch beäugte der Mitarbeiter die unbekannten Gesichter, ließ sich dann das Schreiben abzeichnen und zog wieder davon. Hades seufzte: „Ich hasse diese Meetings.“

Siegbert und Vanessa warfen sich irritierte Blicke zu und folgten ihr dann zum Fahrstuhl. Irgendwie kam ihnen das alles sehr surreal vor.

Während der Fahrt erklärte Hades: „Ihr müsst wissen, dass diese Welt wie eine große Firma funktioniert. Es gibt dadurch zwar recht viel Bürokratie, diese hilft aber das Ganze in geregelten Bahnen laufen zu lassen. Ihr werdet gleich sehen, warum das so wichtig ist.“

Sie hielten im fünften Stock, wo auf einer kompletten Etage anschaulich und übersichtlich die gesamte Stadt und auch der gesamte Planet dargestellt waren. Es gab Karten und Luftaufnahmen, Diorahmen und Modelle. Erst hier wurde Vanessa und Siegbert klar, dass sie wirklich nicht nur ihre Stadt sondern auch ihre Welt verlassen hatten. Fasziniert blieben sie vor einem detaillierten Modell der Stadt stehen, in der sie sich anscheinend gerade befanden. Hades ließ sie einen Moment lang die Eindrücke sammeln, bevor sie zu erzählen begann. Sie zeigte auf das höchste Gebäude inmitten der Stadt. „In diesem Hochhaus befinden wir uns. Es ist das Zentrum dieser Stadt und des restlichen Planeten. Von hier aus wird alles gesteuert.“ Sie umkreisten das Modell. „Hades- Stadt wird auch die Stadt mit den tausend Toren genannt. Fünfhundert davon sind Portale, die die Seelen der verstorbenen Menschen von der Erde kanalisieren und hierher bringen. Die anderen fünfhundert bringen sie hinaus in die Weiten dieses Planeten. Die Stadt bietet Platz für eine Milliarde Menschen. An jedes Erdtor ist ein Heilzentrum angegliedert. Die „Verstorbenen“ kommen also nicht direkt in die Stadt, sondern werden erst einmal in so einem Zentrum aufgefangen. Sie müssen sich entscheiden ob sie ihr Leben in dem Zustand, in dem sie sich gerade befinden, weiterführen oder ganz von vorne beginnen wollen. Jemand, der einem Selbstmordattentäter zum Opfer gefallen ist, wird es sich natürlich zweimal überlegen ob er ohne Beine und Arme weitermachen oder lieber gleich einen Neustart wagen will.“ „Was genau heißt Neustart?“, fragte Vanessa, noch immer von dem Modell gebannt, dazwischen. „Wiedergeburt.“, antwortete Hades und führte fort: „Auf diesem Planeten entsteht kein neues Leben. Das Alte wird sozusagen recycelt. Nur wenn sich eine Seele für einen Neustart entscheidet, bekommt eine Familie Nachwuchs.“

Sie wechselten zu einer großen Weltkarte, die an der Wand hing. Fasziniert lauschten Vanessa und Siegbert weiterhin ihren Ausführungen. „Auf diesem Planeten gibt es sieben Kontinente, die wir auch Zonen nennen. Die leuchtenden Punkte auf der Karte markieren die Hauptstädte. Alles ist zentral angelegt. Spiralförmig um die Hauptstädte herum werden die Siedlungen immer kleiner und das Leben ländlicher. Zwischen den Zonen gibt es allerdings Unterschiede, die sich in Bildung, Wohlstand und Vorhandensein von Ressourcen widerspiegeln, daher die Nummerierung. Je niedriger die Zahl, desto höherwertiger ist das Leben dort.“ Siegbert suchte auf der Karte und stellte schließlich fest: „Es gibt keine Eins.“ „Doch, die gibt es.“, antwortete Hades lächelnd und ging ein paar Schritte weiter. Nun standen sie vor einem Schaukasten, der eine weitere Welt zeigte. „Das ist Elysium, Zone Eins und einer der zwei Monde dieses Planeten.“ „Das Paradies?“, hauchte Vanessa. „Wenn man es so nennen will, ja. Nur wenigen Seelen ist es vergönnt in Zone Eins zu leben.“ „Bestimmt wieder nur die Superreichen.“, murmelte Vanessa skeptisch, doch ihre Erklärung verblüffte sie. „Nicht ich oder eine andere Person legen fest, in welche Zone jemand kommt, sondern jeder Mensch selbst durch seine Lebensweise. Sagt euch der Begriff Aura etwas?“ „Diese esoterische Farbenlehre über den Gemütszustand, den manche Menschen angeblich sehen oder spüren können?“, antwortete Siegbert ungläubig. „Ja, in etwa. Wir haben ein Gerät entwickelt, dass die Aura eines Lebewesens sichtbar macht, sozusagen einen Aurascanner. Es ist alles wesentlich weniger romantisch verklärt als ihr euch das vorstellt. Alles beruht auf Energie. Wie ihr lebt, beeinflusst auch eure Ausstrahlung, da die kleinsten Teile eurer Molekülstruktur entsprechend schwingen. Stell dir Geschwister vor. Einer der beiden wird zum Beispiel Lehrer, weil er Kindern etwas beibringen will. Der andere geht an die Börse um schnell reich zu werden. Sie beide wollen niemandem etwas Böses tun, doch suchen sie sich ihre Berufe aus unterschiedlichen Gründen. Und schon das beeinflusst die Schwingung in ihren Atomen. Sämtliche Entscheidungen, die ihr also im Leben trefft, beeinflussen wo ihr einmal hingehen werdet. Das war schon immer so, nur habe ich das Ganze in eine weniger chaotische Form gebracht. Die Seelen werden nun nicht einfach in irgendeine Region hineingeworfen sondern koordiniert dahin gebracht, wo sie hin sollen. Das hält diese Welt am Laufen.“ In den Gedanken der Besucher arbeitete es.

Vanessa sah sich im Raum um und entdeckte auf der anderen Seite einen weiteren Schaukasten, der eindeutig den zweiten Mond zeigte. Schnell ging sie hin, Siegbert und Hades folgten ihr nach. „Das ist Tartaros, Zone neun. Hier gelten die Regeln der restlichen Welt nicht. Es gibt keine Chance auf einen Neustart, nur auf Reue. Die schlimmsten Verbrecher landen hier und müssen ihr Dasein in Dunkelheit und dem Zustand fristen wie sie hergekommen sind, bis sie sterben.“, erklärte Hades ernst. „Und was passiert, wenn in dieser Welt jemand stirbt?“, wollte Siegbert nun wissen. „Die Bewohner von Zone Eins wechseln nach ihrem Tod in die nächste Bewusstseinsebene über. Wir vermuten, dass sie sich in Wesen reiner Energie verwandeln, doch das ist noch nicht endgültig belegt. Vielleicht gelangen sie auch in ein weiteres Universum. Die von Zone Zwei bis Neun werden so lange Wiedergeboren, bis sie sich nach Zone Eins vorgearbeitet haben. Dabei kann man Auf- aber auch Absteigen. Nur wer verstanden hat, worauf es ankommt, wird es bis nach Elysium schaffen. Manche Seelen sind schon sehr viele Leben hier.“ „Wahnsinn.“, hauchte Vanessa und fragte: „Hat es schon mal einer von Tartaros geschafft sich bis nach Elysium vorzuarbeiten?“ Hades dachte angestrengt nach. „In den etwa zehntausend Jahren, die ich das hier mache? Nur eine Hand voll. Von Tartaros runter kommen einige. Sie müssen sich dann von Generation zu Generation weiterentwickeln. Es ist oft ein langer Weg, der sich am Ende aber lohnt. Von Zone Zwei und Drei aus hat man es natürlich leichter.“

Sie verließen den museumsartigen Raum und begaben sich in den ersten Stock. Sofort schlug ihnen der nervtötende Lärm ständig klingelnder Telefone entgegen.

Sie erklärte: „Hier kommen sämtliche Informationen zusammen, Neuzugänge, Abgänge, Verschiebungen.“ Vanessa und Siegbert nickten stumm. Sie konnten die Geschäftigkeit kaum glauben. „Wie viele Einwohner hat diese Welt?“, fragte Siegbert als sie wieder im Fahrstuhl steckten. So richtig sicher schien sie sich nicht zu sein, antwortete aber: „Ich glaube so circa vierzig bis fünfzig Milliarden.“ Ungläubig starrten sie Hades daraufhin an, sie zuckte mit den Schultern und meinte nur: „Klingt erst einmal viel. Dieser Planet ist aber auch in etwa doppelt so groß wie die Erde und es gibt zwei bewohnbare Monde. Da kriegt man schon ein paar Leute unter.“

 

9

Erneut betraten sie die Lobby und Hades führte sie aus dem Gebäude heraus über einen großen Platz in die nächste Seitenstraße. Zu gern hätte Vanessa jetzt eine Kamera dabei gehabt. Der Tower war einfach gigantisch.

Viele Leute auf der Straße grüßten Hades ehrfürchtig aber freundlich. Sie hatte das bekannteste Gesicht dieses Planeten und traute sich dennoch unbewacht vor die Tür. Erstaunt bemerkte Siegbert dazu: „Das sollte mal ein Promi bei uns versuchen. Der würde jetzt schon wieder von zig Leuten belagert und fotografiert werden, bis er es satt hat.“ Hades blinzelte ihm zu und meinte: „Das trauen die sich bei mir nicht.“

Wenige Minuten später saßen sie dann in der Kneipe, die sie ihnen versprochen hatte. Alles wirkte so vertraut und war doch so fremd.

Während sie auf die erste Getränkerunde warteten, nutzte Siegbert die Gelegenheit und holte seinen kleinen Notizblock hervor, den er im Museum noch geistesgegenwärtig eingepackt hatte. „Ich habe versucht alles zu rekapitulieren was du an deinem ersten Tag bei uns erzählt hast und ein paar Dinge sind mir noch nicht ganz klar. Ich fange einfach mal mit folgender Frage an. Auch heute noch glauben die Menschen an viele verschiedene Götter. Sind die alle von deiner Art?“ „Nein.“, erwiderte Hades und erklärte: „In diesem Universum gibt es eine Vielzahl an Lebewesen. Durch das Portal kamen letztlich nicht nur wir auf die Erde sondern auch zum Beispiel die Götter der Hindus. Wir alle stammen aus Welten, die wesentlich weiter entwickelt sind als die eure.“ „Wieso gerade die Erde? Ihr hättet uns auch unbehelligt lassen können.“, hakte Siegbert nun nach. Hades seufzte und gab zu: „Wie ich schon sagte, habe ich das Portal gebaut weil ich live dabei sein wollte wie ihr euch entwickelt. Der Rat, der aus Individuen aller hochentwickelten Welten besteht, hatte solche Besuche eigentlich strikt verboten. Aber wie bei allen jungen Leuten überwiegt irgendwann der Reiz des Verbotenen die Vorsicht. Die anderen Götter bezahlten mich dafür sie auf die Erde zu bringen. Es war ein riesiges Geschäft für mich. Ich war leichtsinnig geworden und sah mich nicht dafür verantwortlich, was sie auf der Erde anstellten. Das war zugegeben ein großer Fehler.“

Fassungslos starrten die zwei Hades an und Siegbert rang sich zu einer harschen Feststellung durch: „Wir sind für euch also nichts weiter als ein Zeitvertreib? Ihr nutzt eure überlegene Position schamlos aus um mit uns zu experimentieren!“ „Moment, Moment, Moment!“, fuhr Hades dazwischen. „Das entspricht nicht der gesamten Wahrheit. Nicht alle von uns sind auf die Erde gekommen um Gott zu spielen. Anfangs stand das absolut nicht zur Debatte und hat sich mit der Zeit erst verselbstständigt. Außerdem würdet ihr an unserer Stelle genauso handeln. Ihr könnt uns nicht für etwas verurteilen, das ihr nicht besser machen würdet. In dieser Beziehung sind sich unsere Arten ziemlich ähnlich.“ Im Grunde hatte sie Recht.

Eine Weile lang schwiegen sie sich an. Schließlich murmelte Siegbert: „Es tut mir leid, ich wollte keinen Unfrieden säen.“ Etwas lauter sprach er dann weiter: „Wenn ihr also eure Ideen, Vorstellungen und Technologien in unsere Welt gebracht habt, heißt das dann auch, dass ihr die eigentliche Ursache für die Entstehung der ersten Hochkulturen seid?“

Hades dachte kurz nach und antwortete: „Ich würde sagen, dass viele Erfindungen in irgendeiner Weise von uns inspiriert wurden. Als alleinige Ursache möchte ich uns jetzt nicht hervor tun, da die Menschen auch selbst ziemlich kreativ und schöpferisch sein können. Viele haben aber unsere Ideen aufgegriffen und etwas Großartiges daraus geschaffen.“ Jetzt wollte Vanessa etwas wissen: „Hat einer von euch jemals versucht den Menschen die fortschrittliche Technologie zu geben? Also nicht nur die Idee sondern gleich das fertige Produkt?“ Hades schüttelte lächelnd den Kopf und erklärte daraufhin: „Nein, nicht wirklich. Erstens wäre es so noch eher aufgefallen, was wir so auf der Erde trieben. Zweitens verrät niemand gern einfach seine Geheimnisse ohne eine entsprechende Gegenleistung zu erwarten. Und drittens haben die Menschen auf solche Dinge eher skeptisch und ängstlich reagiert. Für sie war es Zauberei. Erst dadurch bekamen wir ja diesen enormen Status. Ich muss zugeben, dass das manche von uns auch ziemlich ausgenutzt haben. Letztlich war der Entschluss des Rates diese persönliche Einmischung streng zu unterbinden richtig.“ Siegbert stellte nun eine tiefgründige Frage in den Raum: „Wie ist das heute? Die Menschen haben sich weiterentwickelt und würden fortschrittliche Technologie nun als diese erkennen und nicht mehr als Zauberei abstempeln.“ Hades musterte ihn aufmerksam. „Du meinst, ich sollte darüber nachdenken euch Zugang zum Fortschritt zu gewähren? Warum?“, hinterfragte sie die Absichten des Archäologen. Vanessa lehnte sich über den Tisch und flüsterte: „Ja, das ist die große Frage. Warum kamst du wirklich zu uns? Sicher nicht um noch einmal Gott zu spielen und auch nicht um auf der Erde Urlaub zu machen. Du hast doch sicher einen weit größeren Plan.“ Hades lehnte sich nun ebenfalls vor und starrte sie einen Augenblick lang gebannt an. „Meinst du?“, erwiderte sie dann und grinste breit.

Selbst wenn sie es wollten, konnten sie sie nicht durchschauen. Bereitwillig beantwortete Hades auch noch die vielen anderen Fragen, die Siegbert vor allem zu den verschiedenen Lebensformen hatte, die es noch in diesem Universum gab. Sie mussten sich damit abfinden, dass die Besucherin aus der anderen Welt ihre eigentlichen Beweggründe mit ihnen in Kontakt zu treten nicht preisgeben würde, zumindest noch nicht.

Nachdem sie etwas gegessen und getrunken hatten und die Nacht inzwischen hereingebrochen war, verließen sie das Lokal ohne etwas bezahlen zu müssen. „Es hat also auch seine Vorteile mit einer Prominenten unterwegs zu sein.“, bemerkte Vanessa. Hades lächelte überlegen und meinte: „Na ja, die wissen eben alle, was sie an mir haben. Aber Geld spielt hier sowieso keine Rolle. Wir regeln das Leben anders. Und was denkst du sind die Nachteile meiner Prominenz?“ „Wir werden ununterbrochen beobachtet.“, stellte Siegbert fest und sah sich unbehaglich um. „Mir fällt das schon gar nicht mehr auf.“, erwiderte Hades und schlenderte weiter entspannt mit ihnen durch die Gassen. Sie schien sich in der Wohlgesonnenheit oder der Ehrfurcht der Menschen um sie herum zu sonnen, weshalb sich Vanessa in diesem Zusammenhang eine Frage aufdrängte, die sie auch nicht für sich behalten konnte: „Die sind hier alle so freundlich dir gegenüber. Gibt es da auch Ausnahmen?“ Während sie nebeneinander über eine geschäftige Straße schlenderten, gab Hades ehrlich zu: „Die Freundlichkeit verschwindet umso mehr, je größer die Nummer der Zone ist. Du solltest hören wie sie über mich auf Tartaros sprechen. Dort werde ich als Gefängnischef gesehen. Die meisten haben zwar eher Schiss vor mir, da ich dort schon manchmal ziemlich hart durchgreifen musste, aber hinter meinem Rücken gehen trotzdem oft üble Sachen ab. Also diese Stadt hier gehört eher zu einer Vorzeigegegend.“ „Und wie ist es auf dem Land? Ihr habt doch sicher viel Landwirtschaft bei der Menge an Menschen. Die müssen ja auch alle irgendwie versorgt werden.“, fragte sie weiter. „Es ist eine logistische Herausforderung. Anfangs war es auch ziemlich chaotisch. Doch ich hatte den Vorteil viele eurer großen Denker kennenzulernen, Architekten, Ingenieure, Erfinder. Und deren Wissen konnte ich anzapfen um diesen Planeten optimal auf euch und eure Bedürfnisse abzustimmen. So hat sich hier eine funktionierende Gesellschaft entwickelt, die den gesamten Planeten umspannt.“

Sie schwiegen kurz bis sie anbot: „Wenn ihr wollt, ziehen wir uns aus dem Rampenlicht und in einen etwas intimeren Rahmen zurück.“  „Das heißt was?“, wollte Vanessa sogleich wissen, woraufhin sie auf die Spitze des Hades- Towers zeigte und antwortete: „Die oberste Etage ist meine Wohnung. Da hat man einen sehr tollen Blick auf die ganze Stadt.“ Begeistert kam es von Siegbert: „Aber gerne! Worauf warten wir noch?“

Nur wenige Augenblicke später betraten sie das Penthouse mit dem atemberaubenden Panoramablick. Sofort zog es die beiden Gäste an die Fenster und ihre Blicke in die Tiefe. „In welchem Stockwerk sind wir hier?“, hauchte Vanessa fasziniert als sie nach unten und auf die tausend kleinen Lichter der Stadt schaute. „Wir befinden uns hier in der zweihundertsten Etage, in genau einem Kilometer Höhe, nach Erdmaßstäben. Insgesamt ist der Tower eintausendfünfzig Meter hoch.“, gab Hades Auskunft. „Wahnsinn.“, sagte Siegbert daraufhin und fuhr fort: „Wie ist das möglich?“ „Wenn man Zugriff auf das Wissen und Können der größten Architekten, Statiker und Visionäre hat, die je auf der Erde gelebt haben, ist scheinbar nichts unmöglich. Alle Bauwerke und Strukturen, die ihr hier seht, entstammen den großartigen Gehirnen euerer Wissenschaftler.“ „Faszinierend.“, staunte Siegbert weiter und begab sich zu einem anderen Fenster.

Noch lange betrachteten sie sich den fantastischen Ausblick auf die Stadt und genehmigten sich dabei ein paar Drinks. Während sie so hinaus starrten auf die unzähligen kleinen funkelnden Lichter, wagte es Vanessa eine sehr persönliche Frage zu stellen: „Bist du manchmal einsam hier oben?“ Verdutzt sah Hades sie an und wusste für einen Moment nicht, wie sie darauf reagieren sollte, entschied sich aber für eine halbwegs ehrliche Antwort. „Manchmal ist es nicht ganz leicht so weit entfernt von der Heimat zu sein. Allerdings suche ich auch nicht unbedingt den Kontakt zu meiner Verwandtschaft, da sie mir meistens ziemlich auf die Nerven gehen. Aber richtig einsam bin ich selten, denn ich kann jede einzelne Seele spüren, die hier auf diesem Planeten weilt. Es ist meine Aufgabe, meine Berufung, zumindest habe ich es als das akzeptiert.“ „Also strebst du nicht nach der Befriedigung grundlegender Bedürfnisse, die so manchen Menschen vorantreiben, einen Partner finden, eine Familie gründen und so etwas?“ Hades lachte auf und konterte: „Wieso sollte ich? Ich habe alles erreicht, ich bin die Herrscherin eines ganzen Planeten. Es liegt nicht in meiner Natur mich niederzulassen und Nachkommen zu zeugen.“ „Erneut stellt sich mir die Frage, was du dann auf der Erde willst, wenn du alles erreicht hast?“, bohrte sie weiter. Hades sah ihr tief in die Augen und gab zu: „Es sind viele Kleinigkeiten, meine Neugier, Forscherdrang…“ „Macht?“, unterbrach sie sie und bemerkte den dunklen Schatten, der kurz über ihr Gesicht huschte. Doch Hades ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und bot stattdessen an: „Wenn ihr wollt, könnt ihr gerne hier übernachten, ich habe die Gästezimmer vorbereiten lassen.

Dankend nahmen sie das Angebot an und folgten ihr zu den Räumlichkeiten. Vanessa traute sich nicht noch weiter zu fragen.

Mitten in der Nacht wachte sie aber wieder auf und betrat vorsichtig das Wohnzimmer. Hades saß am Schreibtisch und arbeitete vertieft an ihrem Computer. Sie hielten stets Schritt mit der Technologie auf Erden, waren dieser Dank des Ausnutzens kluger Ressourcen sogar stets ein paar Schritte voraus und sie sah keine Notwendigkeit darin eigene, noch weiter fortgeschrittene Technologien ihrer Spezies für die Bewältigung der Aufgaben zu benutzen. Die Menschen sollten sich nur so schnell entwickeln, wie es ihre Natur zuließ, so hatte es der Rat entschieden. „Schläfst du gar nicht?“, fragte Vanessa plötzlich und riss sie aus ihren Gedanken. Hades zuckte kurz zusammen, lächelte sie dann an und sprach: „Manchmal, wenn ich mich sozusagen aufladen muss, zwei bis drei Mal im Jahr oder nach großen Anstrengungen. Dann schlafe ich aber auch gleich ein paar Tage und Nächte durch.“ „Was hast du morgen mit uns vor?“, wollte sie weiter wissen und kam auf sie zu. Hades schaltete den Bildschirm aus, stand auf und nahm sie an die Hand. Langsam führte sie sie zu einem Nachbarzimmer und sprach dabei: „Ich hatte vor mit euch einen Rundflug über den Kontinent zu machen, vielleicht sogar über zwei.“

Sie befanden sich auf einmal in ihrem Schlafzimmer. Vanessa warf Hades einen vorwurfsvollen Blick zu, doch sie sagte nur: „Keine Hintergedanken. Aber wenn du magst, kannst du auch gerne hier weiterschlafen. Natürlich allein.“ Sie nickte, Hades küsste ihr auf die Stirn und sprach leise: „Gute Nacht. Ich muss noch ein wenig arbeiten und bin gleich nebenan.“ Dann ging sie hinaus und schloss die Tür behutsam während sich Vanessa in ihre Laken kuschelte. Eigentlich hatte sie keine Ahnung was sie hier überhaupt sollte. Kein oder zumindest kaum ein Mensch, wenn man den Sagen Glauben schenken durfte, hatte je lebend diese Welt betreten und war auch lebend zurückgekommen. Es war ein Mysterium, das ihre Vorstellungskraft vollkommen überstieg und sie fühlte sich trotz der grenzenlosen Faszination irgendwie fehl am Platz. Mit diesen Gedanken schlief sie ein.

 

Die Sonne zeigte sich gerade am Horizont dieses fremden Planeten als Hades sie sanft aus dem Schlaf weckte. Siegbert saß bereits in einen Morgenmantel gekleidet an einem Tisch und genoss einen Kaffee. Es war alles so vertraut und doch so falsch und fremdartig. Auch er hatte große Schwierigkeiten die Situation zu bewerten. Es war wie Urlaub, nur dass sie sich nicht mehr auf der Erde befanden.

Ein wenig später, nach einem kleinen Frühstück, das ihre Gastgeberin extra für sie bestellt hatte, begaben sie sich zu einer Plattform gleich unterhalb des Penthouse. Voller Aufregung und Neugier erwarteten sie das Fluggerät, das ihnen heute mehr von dieser außerirdischen Welt zeigen sollte. Hades ging mit einer Selbstverständlichkeit und Souveränität an diese Situation heran, dass man glauben konnte, sie hätte das schon tausende Male gemacht. Doch auch für sie war es irgendwie neu. Tatsächlich hatte sie bisher nur wenigen Menschen den Gang durch das Portal gewährt. Der eine oder andere hatte es heimlich geschafft in den Verwirrungen der damaligen Zeit sich hindurchzuschleichen aber dann Mühe bekommen zurückzugelangen. Mit Siegbert und Vanessa war das anders. Sie wollte ihnen ihre Welt zeigen und offenbaren, was bislang nahezu allen Erdlingen bis zu ihrem Tod vorenthalten blieb.

Voller staunendem Interesse starrten die Beiden während des Fluges in die Tiefe. Hades- Stadt war gigantisch und von einer riesigen Mauer umgeben. Außerhalb überflogen sie nun immer kleiner werdende Städte, Felder und Wiesen machten sich breit, vereinzelte Wälder wiegten sich im Wind. Dann gelangten sie an eine Küste, Strand und Wellen waren deutlich erkennbar, sie überflogen den Ozean, dessen Namen sie nicht kannten, und erspähten schließlich eine weitere Küste. Auch hier tauchten erst kleinere und zunehmend größere Städte auf, bis sie die Hauptstadt unter sich erblickten. Mit rasender Geschwindigkeit bewegten sie sich fort und starrten stumm auf die vollkommene Fremde während Hades über Land und Leute referierte. Vanessa war überhaupt nicht aufnahmefähig und wusste, dass sie sich an nichts erinnern werden würde, was sie erzählte, da sie einfach zu sehr mit dem Ausblick und mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt war. Hierher würde sie also nach ihrem Tod gelangen? Es ließ sie nicht los und wirklich genießen konnte sie den Flug dadurch auch nicht.

Erst Stunden später landeten sie wieder auf der Plattform. Hades verabschiedete sich freundlich vom Piloten und führte ihre Gäste zurück in die Wohnung. Dort angekommen fragte sie nun: „Und? Was sagt ihr?“ Überwältigt und verwirrt starrten die zwei sie an und brachten keinen Ton hervor. Scheinbar war ihnen in diesen Augenblicken erst so richtig bewusst geworden, wo sie sich eigentlich befanden und mit wem.

Lächelnd bot sie an: „Ich bringe euch jetzt zurück ins Museum. Ich glaube, ihr habt eine Menge zu verarbeiten.“ Stumm nickten Siegbert und Vanessa und folgten ihr zum Fahrstuhl. Sie fühlten sich völlig überrollt und sprangen durch das Tor ohne es wirklich wahrzunehmen. Etwas hatte sich verändert.

 

Auf der anderen Seite angekommen, brauchten sie einen Moment lang um zu sich zu finden. Hades gab ihnen die Zeit und erklärte: „Ihr dürft leider nicht zu lang auf meiner Welt bleiben, denn sie lässt euch die eure vergessen. Deshalb versucht auch nie einer wieder zurückzukommen, oder nur ganz selten.“ Vanessa schüttelte sich und fragte: „Das heißt, je länger wir drüben bleiben, desto weniger wollen wir hierher zurück? Wir vergessen einfach wer und was wir waren?“ „Ja.“, antwortete sie ruhig. „Aber dich beeinflusst das nicht?“, wollte Siegbert nun wissen, der ebenfalls langsam wieder zu sich kam. Hades lächelte und sprach: „Ich gehöre einer anderen Spezies an, unsere Hirnchemie funktioniert etwas anders und macht uns immun gegen dieses Phänomen.“ „Was verursacht diese Amnesie?“, fragte Siegbert weiter, bekam jedoch keine eindeutige Antwort. „Wir denken, es hat etwas mit den unterschiedlichen Schwingungen unserer Universen und dem Magnetfeld der Planeten zu tun. Eure Erinnerungen sind wie gespeicherte, gepolte Energie und wie auf einer Kassette löscht das Magnetfeld von Hades diesen Speicher nach und nach aus, beziehungsweise beschreibt ihn neu. Es ist kompliziert zu erklären, aber dadurch fügen sich die meisten Menschen ganz selbstverständlich in ihre neuen Rollen.“ „Irre.“, hauchte Vanessa.

Plötzlich klingelte ihr Telefon und riss sie aus ihren Gedanken. Susi war am anderen Ende und beschwerte sich lautstark über die Abwesenheit ihrer Mitbewohnerin und dass sich diese nicht einmal gemeldet hätte. „Ich habe mir ernsthaft Sorgen gemacht und wollte schon die Polizei holen!“, rief sie noch. Vanessa versuchte sie zu beruhigen und legte schließlich auf. Dann sah sie Hades irritiert an und fragte: „Wie lange waren wir weg?“ Bereitwillig gab sie Auskunft: „Grob überschlagen zwei Tage.“ Siegbert schaute auf seine Armbanduhr und Vanessa auf das Datum ihres Handys. Es war tatsächlich schon Samstagabend.

„Was machen wir jetzt?“, durchbrach Hades freudig strahlend ihre Verwunderung.

 

10

Die Wochen zogen sich hin. Immer wieder besuchte sie ihre zwei Menschen auf der Erde und nahm vor allem Vanessa noch öfters mit in ihre Welt. Siegberts Forschung kam unterdessen zügig voran, die ersten Expeditionen waren ein voller Erfolg und er konnte sich vor der Begeisterung des Museumsleiters und der Presse kaum retten. In rasendem Tempo schnellte seine Berühmtheit in schwindelnde Höhen und lange Zeit fiel keinem auf, das immer ein Schatten im Hintergrund weilte.

 

Gemeinsam standen sie im Fahrstuhl am Ende des Kellerkorridors und sie drückte auf den Knopf. Als sie losfuhren fragte Hades auf einmal in die Stille: „Vertraust du mir eigentlich?“ Überrumpelt sah Vanessa sie sprachlos an und wie sich allmählich ein Grinsen auf ihrem Gesicht breit machte. „Du folgst mir immer wieder in eine fremde Welt, obwohl du dir nicht sicher bist, ob man mir trauen kann oder nicht? Das ist entweder sehr mutig von dir oder total verrückt. Ist mir beides recht.“, sagte Hades daraufhin und schenkte ihr einen innigen Kuss auf den Mund. In dem Moment hielt der Fahrstuhl an und die Türen öffneten sich.

Schnell ließ sie sie deshalb los und wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen. Sicherlich hatte das der Mitarbeiter gesehen, der vor dem Eingang stand und sie skeptisch musterte. Allerdings entschuldigte sich dieser sogleich und bot an auf den nächsten Aufzug zu warten.

Erleichtert fuhren sie also zum Penthouse, wo es Vanessa eilends wieder zum Panoramafenster zog. Neuerlich fasziniert starrte sie in die Tiefe und schnaufte nervös als Hades unvermittelt ihre Schulter berührte und sie anschließend sanft in den Nacken küsste.  „Am liebsten würde ich dich für immer hier behalten.“, flüsterte sie in ihr Haar, woraufhin Vanessa sich umdrehte, sie misstrauisch beäugte und vorsichtig fragte: „Du lässt mich doch aber wieder zurück, oder?“ „Immer. Wie versprochen.“, hauchte sie und küsste sie anschließend leidenschaftlich.

Auch wenn sie nie richtig wusste, woran sie bei ihr war, deuteten ihr Verhalten und ihre Äußerungen immer daraufhin, dass sie sie wirklich mochte. Und genau das konnte Vanessa absolut nicht nachvollziehen. Diese Frau gehörte einer Spezies gottähnlicher Natur an und dennoch wollte sie mit ihr zusammen sein? Es ergab für sie keinen Sinn und sie konnte nur hoffen, dass sie nicht mit ihr spielte.

Und doch ließ sie sich wieder von ihrem Feuer anstecken, das es immer schaffte ihr vollkommen den Verstand und die Vernunft zu rauben.

Als sie dann später in ihrem Arm lag und ihre Gedanken kreisten, fragte sie plötzlich: „Vermisst du manchmal deine Heimat?“ Hades sah ihr in die Augen und Vanessa meinte einen Hauch Traurigkeit in ihrem Blick zu erkennen. Dann antwortete sie: „Ich weiß nicht genau. Ich war schon so lange nicht mehr dort, dass ich keine Ahnung mehr habe ob sich Vermissen überhaupt lohnt. Ich bin jetzt hier zu Hause.“ „Leben denn eigentlich noch andere deiner Spezies auf dieser Welt?“ „Meine Leute kommen und gehen wie sie wollen. Zeit und Raum spielt für uns kaum eine Rolle. Wir denken in anderen Dimensionen. Du darfst dich von meinem menschlichen Äußeren nicht zu sehr täuschen lassen.“ „Wie darf ich das verstehen?“, sagte Vanessa überrascht. Hades versuchte es so zu beantworten: „Auch wenn ich menschlich aussehen mag, so habe ich diese Form doch nur frei gewählt, um euch nicht zu erschrecken und mich unbehelligt unter euch bewegen zu können. Doch ich bin wahrscheinlich weniger Mensch als du vermutest.“ „Oder du bist inzwischen mehr Mensch geworden als du denkst.“, erwiderte Vanessa gähnend und seufzte. Stumm lächelte Hades kurz in sich hinein und bemerkte schließlich: „Du bist müde, oder? Ich lass dich jetzt lieber schlafen.“ Daraufhin schwang sie sich aus dem Bett, gab Vanessa noch einen vertrauten Kuss auf die Wange und wünschte ihr eine gute Nacht.

Tatsächlich hatte sie ein paar Schwierigkeiten dabei einzuschlafen. Die Situation war unstimmig, geradezu grotesk und sie hatte keine Ahnung, wohin das noch führen sollte.

Unterdessen ging Hades ihren regulären Tätigkeiten nach. Auch wenn sie diese Verwaltungsdinge nervten, so waren sie doch notwendig um alles am Laufen zu halten. Viele Aufgaben hatte sie glücklicherweise schon so weit delegieren können, dass sie sich nicht mehr darum kümmern musste. Wieder einmal verlor sie sich deshalb  in endlosen Artikeln und Berichten der Geschehnisse der vergangenen Wochen. Die Tsunami- Katastrophe war in letzter Zeit dabei die größte Herausforderung gewesen und sie war stolz darauf wie glanzvoll ihr Mitarbeiterstab das gemeistert hatte.

Plötzlich klopfte es an der Tür. Überrascht und etwas neugierig ging sie hin und öffnete einen kleinen Spalt weit. Draußen stand Thanatos und hielt einen Sixpack Bier hoch. „Hi Hades. Lange nicht gesehen. Wie geht’s dir?“ Etwas irritiert machte Hades die Tür nun weiter auf und ließ ihren alten Freund eintreten. Der stellte das Bier auf einen Tisch und sah sich einen Augenblick lang um während Hades weiter am Eingang der Wohnung stehen blieb und ihn dabei misstrauisch beobachtete. „Was willst du hier?“, brach sie schließlich das Schweigen. Thanatos öffnete zwei Flaschen, brachte Hades eine davon und sagte freundlich: „Darf man jetzt nicht einmal mehr seinen besten Kumpel überraschend besuchen? Ich war in der Nähe und wollte einfach mal wissen wie es dir so geht. Ist ja gerade viel los bei dir, nicht wahr?“ Hades stieß höflich mit ihm an und nahm einen Schluck. Dann antwortete sie: „Seit wann sind wir eigentlich beste Kumpel und was genau soll bei mir gerade los sein?“ Jetzt grinste Thanatos sie ungläubig an und erwiderte: „Ich fass es nicht. Du hast es noch gar nicht mitgekriegt?“ „Was denn?“, rief Hades daraufhin ungeduldig aus. Ihr Freund lief schnell zum Schreibtisch und tippte auf den Tasten des Computers herum, dann winkte er Hades zu sich und erklärte aufgeregt: „Das musst du dir unbedingt ansehen. Du bist überall in den Medien.“ Fassungslos starrte Hades auf die Bilder, die jemand scheinbar endlos im Internet verbreitete. Jedes Einzelne zeigte sie zusammen mit Vanessa. Teilweise trugen sie Überschriften wie „Wer ist die Neue an ihrer Seite?“. „Sie ist eine Mitarbeiterin aus Zone drei.“, murmelte Hades betreten, doch Thanatos wusste noch einen draufzusetzen. „Für mich scheinen deine Anforderungen an eine simple Mitarbeiterin doch etwas zu weit zu gehen.“ Er öffnete ein weiteres Bild, das Hades und Vanessa im Fahrstuhl zeigte wie sie sich innig küssten. „Das ist ein Bild von der Überwachungskamera. Wie kommt das ins Netz?“, fuhr Hades daraufhin verärgert den Monitor an. Dann wandte sie sich an Thanatos. „Was hast du mit der Sache zu tun? Wieso sind all diese Bilder im Internet?“ Beschwichtigend hob ihr Freund daraufhin die Hände und wies alle Schuld von sich. „Ich hab gar nichts damit zu tun. Ich bin nur zufällig drüber gestolpert. Aber der Scheiß verbreitet sich wie ein Lauffeuer.“ „Nur warum interessieren sich die Menschen dafür?“, sprach Hades nun mehr zu sich selbst. Thanatos nahm noch einen Schluck aus seiner Flasche, ging durch den Raum und versuchte es zu erklären: „Du bist immerhin die wichtigste Person auf dieser Welt. Es wundert mich nicht, dass die Leute gerne erfahren was du so treibst. Und dann zeigst du dich plötzlich in der Öffentlichkeit mit einer jungen, attraktiven Frau. Was hast du erwartet? Dass die das einfach so hinnehmen und keine Fragen stellen?“ Hades sank auf den Stuhl und schwieg. In ihrem Kopf drehten sich die Gedanken. Sie war eindeutig zu unvorsichtig gewesen, zu naiv. Ihr Kumpel kam wieder zu ihr an den Schreibtisch und redete auf sie ein: „Mach dir nichts draus. Ich freu mich sogar für dich. Du hattest so lange keine Flamme, dass ich schon dachte du würdest langsam zum Sonderling werden.“ Er machte eine kurze Pause und fragte dann ungeniert: „Also, wann stellst du sie uns allen vor?“ Hades sah ihn an und konterte: „Euch allen vorstellen? Das kann ich ihr nicht antun.“ „Warum? Wegen dem Medienrummel? Oder schämst du dich für sie? Oder schämst du dich etwa für uns?“ Als Hades weiter schwieg, witterte Thanatos ein Geheimnis und fragte vorsichtig: „Was stimmt nicht mit ihr?“ Daraufhin atmete Hades tief durch und erwiderte: „Mit ihr ist alles in Ordnung. Ich fürchte nur, dass ich sie mit so einem Zirkus total überfordern würde.“ Thanatos klopfte ihr auf die Schulter und versuchte ihn zu beruhigen: „Du weißt, dass unsere Art ein ziemlich dickes Fell hat und hart im nehmen ist. Sie wird das schon verkraften.“ Hades schwieg wieder, was ihren Kumpel allmählich richtig stutzig werden ließ. Thanatos musterte sie durchdringend und kam schließlich auf eine überraschende Idee: „Bitte sag mir jetzt nicht, dass sie keine von uns ist.“ Der Blick seiner Freundin sagte alles. Sofort hockte sich Thanatos neben Hades hin und flüsterte: „Du treibst es mit einer anderen Spezies? Was ist sie, ein Mensch?“ Hades nickte verstohlen, woraufhin ihr Kumpel schnaufte und weiter flüsterte: „Bist du irre? Du weißt, was der Rat davon hält. Das kann dich Einiges kosten, wenn die das mitkriegen.“ Jetzt sprang Hades auf und antwortete laut: „Der Rat kann mich mal. Mein Bruder hat es früher mit allem getrieben, was nicht bei drei auf dem Baum war. Von so einem lass ich mir doch nichts vorschreiben!“ „Das war Früher.“, fiel Thanatos ihr ins Wort und fügte sanfter an: „Die Zeiten haben sich seit deinem Fehltritt mit dem Portal sehr geändert. Die Regeln sind strenger geworden.“ Hades wusste das und war trotzdem das Risiko mit Vanessa eingegangen. Immerhin verfolgte sie ein viel höheres Ziel und die Studentin war der Schlüssel dazu vollständig in die Welt der Menschen einzutauchen. Wenn sie es einmal geschafft haben sollte von ihnen akzeptiert zu werden, konnte sie die Revolution von innen heraus beginnen.

Schnell strich sie den Gedanken wieder aus ihrem Kopf. Thanatos und auch alle anderen hatten ja keine Ahnung von ihren großen Plänen mit der Menschheit. Das würde wohl eine immense Überraschung werden. So wie Prometheus ihnen das Feuer gegeben hatte, so würde sie ihnen den nächsten evolutionären Sprung ermöglichen.

„Was gedenkst du jetzt zu tun?“, unterbrach Thanatos ihre Gedankengänge mit gewohnter Neugier. Hades musterte ihn unschlüssig und bemerkte nur: „Ich weiß es noch nicht. Wahrscheinlich sollte ich mich darauf einrichten, dass mein Bruder demnächst auf der Matte stehen wird. Dieser ganze Rummel wird ihm nicht verborgen bleiben. Bis dahin sollte ich wohl ein paar gute Ausreden und Argumente parat haben.“ Thanatos nickte gedankenverloren, klopfte seiner Freundin noch einmal auf die Schulter, trank sein Bier aus und verließ mit den Worten „Viel Glück dabei und lass dich nicht fertig machen.“ das Apartment.

Der Ernst der Lage bewegte Hades nun zu einer entschlossenen Aktion. Bevor Zeus oder einer seiner Handlanger hier auftauchte, musste sie Vanessa in Sicherheit bringen. Dann hatte sie Zeit in Ruhe die Situation zu deeskalieren. Vorsichtig schlich sie also ins Schlafzimmer und weckte die Schlafende sanft aus ihren Träumen. „Du musst jetzt nach Hause gehen.“, flüsterte sie und streichelte über ihre Wange. Schlaftrunken murmelte Vanessa: „Jetzt schon? Ich wollte doch noch ein bisschen bleiben.“ „Bald kannst du wiederkommen.“, antwortete Hades leise und küsste sie auf die Stirn. Widerwillig richtete sich Vanessa daraufhin auf, schüttelte den Schlaf aus ihren Gliedern und zog sich an. Dann brachte Hades sie zum Tor.

„Ich bring dich noch rüber.“, meinte sie als beide vor dem Wandbild standen und ergriff Vanessas Hand. „Ist irgendwas vorgefallen?“, hinterfragte die ihre Eile, doch Hades sagte nur freundlich: „Nichts Schlimmes. Ich muss mich nur um ein paar Dinge kümmern und hätte deshalb kaum Zeit für dich. Bei deinem nächsten Besuch wird das besser. Einverstanden?“ Vanessa nickte lächelnd und gemeinsam nahmen sie Anlauf.

 

Siegbert erschrak sichtlich als die zwei plötzlich durch das Tor geschossen kamen. Sie schlitterten über den Boden und hielten erst nach ein paar Stolperschritten an. Erleichtert lief er gleich auf Vanessa zu und nahm sie in den Arm. Jedes Mal befürchtete er sie würde nicht wiederkehren. Hades lies ihnen die Zeit und konnte seine Bedenken durchaus verstehen. Es gab immerhin ein paar Geschichten darüber wie Menschen in ihrer Welt verschollen waren, meistens berechtigt. Sie hatten sich immerhin eingeschlichen um jemand anderen zurückzuholen. Das hatte sie nicht akzeptieren können.

Als die zwei sich ausreichend begrüßt hatten, reichte Hades Siegbert freundschaftlich die Hand und bedankte sich noch einmal für die hilfreiche Unterstützung. Dann schaute sie sich um und fragte: „Und? Welches Projekt ist als nächstes dran?“ Siegbert antwortete aufgeregt: „Ich bin gerade mit so vielen Dingen beschäftigt, dass ich kaum weiß, was ich zu erst machen möchte.“ „Überarbeite dich nur nicht.“, stellte Hades daraufhin fest und begutachtete die Karte, die ausgerollt auf dem Tisch lag. Siegbert hatte so einige Stellen markiert. Deshalb mahnte sie zur Vorsicht: „Mein Freund, lass nicht zu viele Schätze auf einmal auf die Menschheit los. Ich könnte mir vorstellen, dass es nicht nur Befürworter gibt, sondern auch welche, die deine Arbeit mit Misstrauen beobachten. Der eine oder andere könnte sich fragen, warum du auf einmal so erfolgreich bist. Lass besser niemanden die Karten sehen und ich wünsche dir weiterhin gutes Gelingen.“

Zustimmend nickte Siegbert und bedankte sich: „Ich weiß, ich weiß. Ich bin vorsichtig. Vielen Dank noch einmal für dieses großzügige Geschenk. Das wird mich noch Jahre beschäftigen.“

Leider musste sich Hades jetzt verabschieden, was ihr nicht ganz leicht fiel. Vor allem Vanessa zurückzulassen, verursachte ein nervöses Kribbeln in ihrem Bauch. Sie umarmten sich zum Abschied und noch einmal küsste sie die Studentin innig, bevor sie flüsterte: „Darf ich dich in ein paar Tagen wieder abholen?“ Vanessa hauchte: „Gerne. Ich freu mich drauf.“ Dann löste sich Hades von ihr, nickte Siegbert noch einmal zu und rannte durch das Portal.

 

Zurück in ihrer Welt schaute sie noch ein paar Minuten lang in die Werkstatt, beobachtete wie sich Vanessa und Siegbert angeregt unterhielten und entfernte dann den Schlüsselstein aus dem Rahmen. Sie hatte keine Ahnung was geschehen würde, wenn ihr Bruder die Geschichte erfuhr. Es bestand die tatsächliche Gefahr, dass sie Vanessa dann nicht mehr wiedersehen dürfte bis Gras über die Sache gewachsen war. Sie atmete tief durch und versuchte in den Alltag zurückzukehren ohne sich etwas anmerken zu lassen.

Es dauerte auch nicht lange, stand wie bereits befürchtet ihr Bruder vor der Tür und quetschte sie wegen Vanessa aus. „Du musst diese Affäre sofort beenden.“, verlangte Zeus schroff. Doch Hades sah das gar nicht ein. Es war ihr Leben und das sollte sie teilen können mit wem sie wollte. „Das geht dich alles überhaupt nichts an!“, konterte sie ebenso schroff. Zeus war ein wenig ungehalten und stocherte weiter: „Wie kommt es eigentlich, dass du dich ausgerechnet mit einem Menschen einlässt? Das war doch bisher nie deine Sache. Was ist so Besonders an ihr?“ „Ich bin tagtäglich von diesen Wesen umgeben, habe kaum Kontakt zu Meinesgleichen und dann wunderst du dich darüber, dass ich mich in eine von ihnen verliebe?“, erwiderte Hades daraufhin bitter. „Liebe?“, spuckte Zeus regelrecht aus und zischte seine Schwester an: „Ich glaube dir kein Wort. Du hast doch noch nie wirklich geliebt.“ Jetzt wurde Hades richtig sauer und ging ihren Bruder an: „Was bildest du dir eigentlich ein! Nur weil du im Rat sitzt, bist du noch lange nicht das Maß aller Dinge. Wie kannst du es nur wagen so herablassend mir gegenüber zu sein. Du hast mich immer nur bevormundet und übergangen und dann gönnst du mir nicht einmal diesen kleinen Moment des Glücks? Du bist ein schlechter Bruder.“ Ein wenig getroffen ging Zeus einen Schritt zurück und entschuldigte sich platonisch: „Es tut mir leid, wenn ich so hart mit dir umgehe. Regeln sind aber nun einmal Regeln. Du repräsentierst einen gesamten Planeten, da kannst du dich doch nicht mit so einer niederen Lebensform einlassen. In diesen Zeiten geht das einfach nicht mehr. Woher kennst du sie überhaupt?“ Hades wusste genau, dass Zeus sie nur aushorchen wollte und entschied ihm eine Geschichte aufzutischen. Gefasst antwortete sie: „Ich habe sie hier in dieser Stadt kennengelernt, ganz zufällig. Sie hat viel Einsatzbereitschaft beim Bewältigen der Tsunamikatastrophe gezeigt. Das hat mich beeindruckt. Und irgendwie führte dann eben eines zum anderen.“ Sie konnte jetzt nur hoffen, dass Zeus keine weiteren Nachforschungen in diese Richtung anstellte. „Und wo hast du sie jetzt versteckt? Willst du sie mir denn nicht wenigstens vorstellen?“, bohrte ihr Bruder weiter. Hades schüttelte den Kopf und konterte zynisch: „Dir vorstellen? Ums Verrecken nicht. Du würdest sie mit deiner überheblichen Art nur verprellen. Außerdem ist sie nicht hier sondern in meinem Namen unterwegs um die Menschen für mich zu begeistern. Sie geht in die Kleinstädte und Dörfer und macht Werbung für mich. Ich weiß gerade selbst nicht wo sie sich im Moment befindet. Reicht das jetzt? Ich habe noch zu tun.“ Für den Augenblick schien sich ihr Bruder mit der Geschichte zufrieden zu geben und forderte nur noch bevor er ging: „Beende das. Ich will nicht, dass all die anderen Bewohner dieser Welt anfangen sich Hoffnungen zu machen sie könnten mit uns anbandeln und dann vielleicht Vorteile daraus ziehen. Wir sind die Herrscher, sie die Untertanen, basta.“ Schon war er wieder verschwunden, doch Hades ahnte, dass es ein Nachspiel geben würde.

Tagelang rang sie mit sich selbst ob sie Vanessa wirklich wieder hierher bringen sollte. Es schien ihr fast zu gefährlich. Doch wenn man sie nicht wieder mit ihr sah, war das genau so verdächtig. Also entschied sie sich schließlich dazu sie erneut zu besuchen.

 

Unter dem Vorwand eine Geschäftsreise zu unternehmen um Vanessa vorübergehend auf dem Feldzug in ihrem Namen zu unterstützen, kehrte sie auf die Erde zurück. Sie hatte jedem, der danach fragte, eine andere Geschichte erzählt. So konnten sie zwar versuchen sie beide zu finden, mussten aber feststellen, dass sie an keinem der Orte waren. Letztlich würden die Leute vermuten, dass sie nur gerne Zeit miteinander ohne lästige Zuschauer verbringen wollten, irgendwo in der Einsamkeit der dichten Wälder ihres Planeten.

Stattdessen saß sie aber mit Siegbert und Vanessa zusammen in der Werkstatt des Museums und beantwortete bereitwillig weitere und neue Fragen. „Kannst du noch einmal erklären, woher genau  das Portal seine Energie bekommt?“, wollte Siegbert unbedingt wissen und machte sich fleißig Notizen. Hades überlegte kurz wie sie es ausdrücken sollte und kam zu dem Schluss: „Ich glaube ihr bezeichnet es als Nullpunkt- oder Vakuumenergie. Ihr könnt diese bisher noch nicht nutzen aber es gibt erste vielversprechende Ansätze, denen ihr unbedingt nachgehen solltet. Das Tor bezieht seine Energie direkt aus dem Universum. Da steckt eine Menge Physik und Mathematik dahinter, die ich selbst teilweise nicht verstehe. Entschuldige also bitte wenn ich nicht näher darauf eingehen kann. Zumindest haben eure Sciencefiction- Autoren schon erkannt, wozu die Erschließung einer solchen Energiequelle nützlich sein könnte.“ „Und wie ist es möglich, dass wir durch unseren Tod auf deinen Planeten kommen, wozu sonst eigentlich ein solches Portal notwendig ist?“, fragte Siegbert weiter. Auch diese Frage ließ sich nicht ohne Weiteres beantworten. Hades griff nach zwei Papierseiten, knüllte sie lose auf dem Tisch zusammen und schob sie dicht aneinander. Dazu erklärte sie: „Die verschiedenen Universen sind nicht einfach nur glatt und leer, sondern eher wie diese Knäule. Es gibt Wellen und Falten und damit Stellen, an denen sich die Schichten der Seiten untereinander berühren. Unsere zwei Welten liegen genau an solch einem Berührungspunkt und sind quasi direkt nebeneinander, auch wenn ihr immer nur eine davon sehen könnt. Um nun von einer Welt in eine andere zu wechseln, bedarf es einer ganz speziellen Energie, die man auch als Nullpunktsenergie bezeichnen könnte. Denn wenn ihr sterbt, verlischt eure Lebensenergie nicht einfach, sondern durchwandert ihren niedrigsten energetischen Zustand, den sie erreichen kann und genau da wechselt ihr in das andere, mein Universum. Wir wissen, dass das aufgrund der Schwerkraft meines Planeten nur in die eine Richtung funktioniert und der Prozess irreversibel ist, da die Schwingung der Teilchen nicht von allein in den ursprünglichen Zustand zurückkehren kann. Wir haben versucht diese Schwingung zu simulieren, sind aber daran gescheitert da wir sie nicht kontrollieren können. Wenn wir die Frequenz einstellen, verändert sich die Amplitude und umgekehrt. Da haben sich schon manche Wissenschaftler meiner Spezies die Zähne dran ausgebissen. Und es gibt noch ein Problem.“ Sie nahm zwei Ecken des einen geknüllten Papiers zwischen die Finger und zog es langsam auseinander. „Das was ihr als Ausdehnung des Universums bezeichnet, ist eigentlich eine Glättung. Das geschieht in allen Universen gleichermaßen.“ „Und was passiert, wenn sich alles komplett geglättet hat?“, wollte Vanessa nun wissen. „Das kann ich auch nicht direkt beantworten aber wir haben folgende Theorie.“ Hades holte zwei weitere Seiten, knüllte sie ebenso zusammen und legte sie alle zu einem Haufen übereinander. „Wenn alle Universen so zerknüllt ineinander verschachtelt sind, haben sie Berührungspunkte nur an ein paar Stellen.“ Sie begann die Blätter flach aufeinander zu legen und strich darüber. „Gehen wir nun davon aus, dass diese hier auf dem Tisch so weit kommen, sich komplett zu entfalten. Dann gibt es auf einmal nicht mehr nur diese wenigen sondern unendlich viele Berührungspunkte, die dazu führen, dass diese Universen ineinander kollabieren. Es kommt sozusagen zu einem neuen Urknall.“ Mit einem Griff knüllte sie die Tücher nun wieder zusammen. „Aber wie gesagt, das ist nur eine Theorie. Wir wissen es nicht genau. Auch nach all den Jahren der Forschung gibt es immer wieder neue Rätsel.“ Sie schwiegen sich eine Weile lang an, dann brach Siegbert die Stille. „So viele Jahre lang haben die Menschen euch für Götter gehalten. Sie haben geglaubt, dass ihr diese Welt und das ganze Universum erschaffen habt. Und jetzt muss ich feststellen, dass ihr genau so wenig die Fragen beantworten könnt, die uns schon seit Generationen beschäftigen. Ihr wisst nicht woher alles kommt und wohin es geht.“ Er sah Hades in die Augen und stellte fest: „Ihr seid also doch nicht so anders wie wir, nur älter.“ Sein Gegenüber lächelte und nickte leicht. „Du hast es verstanden. Nur weil wir technologisch weiterentwickelt sind, heißt es nicht dass wir euch beherrschen dürfen. Leider sind ein paar Exemplare meiner Art und die Mitglieder des Rates anderer Meinung. Ich will nicht bestreiten, dass ich Früher auch so dachte, doch dann erkannte ich euer Potenzial. Und ich bin mir sicher, dass die Menschheit noch zu großen Taten fähig sein wird, wenn ihr es schafft die kleinlichen Differenzen zwischen euch zu überwinden und anfangt zusammenzuarbeiten.“ „Darauf sollten wir anstoßen.“, stellte Siegbert fest und stand auf.

Sie verbrachten den restlichen Abend bei bester Laune in dem zur Stammkneipe gewordenen Lokal um die Ecke, genossen gutes Essen und guten Wein und dennoch zog es vor allem Vanessa zurück ins Museum. Sie wollte noch viel mehr von dieser anderen Welt sehen und das nicht erst nach ihrem Tod. Und bereitwillig folgte Hades ihrem Wunsch.

 

Viele Stunden verbrachten sie mit der Erkundung ihrer Welt. Sie zeigte ihr entlegene Orte, die trotz der hohen Bevölkerungszahl noch von Menschen unberührt erschienen. Vanessa fragte sich welch Kulturschock es wohl für die Leute sein musste, die nicht wie sie gelebt hatten, sondern beispielsweise in einem Naturvolk groß geworden waren. Hades zeigte ihr eine besondere Auffangstation für diese Seelen. Sie wurden langsam an das neue Leben herangeführt, vorsichtig mit der Technologie und dem System der fremden Welt vertraut gemacht. Nicht jeder kam sofort mit dieser gewaltigen Umstellung zurecht. Aber es brauchte einfach jeden Menschen um die logistische Herausforderung dieses Systems erfolgreich zu meistern. Vom Bauern bis zum Fabrikarbeiter, vom Schneider bis zum Verwalter, alle bekamen den Platz zugewiesen, der am besten ihren Fähigkeiten entsprach. Wer erkannt hatte, dass es im Leben nicht auf Luxus und Kaufkraft ankam, stieg auf. Manche brauchten mehrere Durchläufe um diese Wahrheit zu begreifen, andere hatten sich auf der Erde schon als besondere Exemplare hervorgetan. Für diese war Elysium zum Greifen nahe. Doch was kam danach?

Fasziniert stand Vanessa auf der Aussichtsplattform des Hades- Towers und starrte zu dem hell erleuchteten Mond. „Wie ist es dort?“, fragte sie in die Stille. Hades sah nun ebenfalls nach oben und erzählte von einem wunderbaren Ort. „Es ist eine Welt, in der es kein Verbrechen gibt, keinen Neid, keine Gier, kein Geld. Die Menschen dort haben sich so weit entwickelt, dass sie gemeinsam nach dem ultimativen Verständnis des Universums streben.“ „ Auch nach der Unsterblichkeit?“, hauchte Vanessa. Besonnen antwortete Hades: „Wir haben zwar herausgefunden wie wir unser Leben immer weiter verlängern können. Aber erst wenn wir es schaffen uns komplett von der Materie zu lösen und nur noch als reine Energie zu existieren, werden wir wirklich unsterblich sein. Nur wollen wir das auch? Was ist der Sinn unserer Existenz? Im Laufe der Zeit scheint sich jede intelligente Lebensform einmal mit diesem Thema zu beschäftigen.“ Sie wirkte meistens ziemlich unnahbar und ließ nur wenige Gefühle nach Außen dringen. Doch in diesem Moment zeigte sie eine ungewohnt verletzliche und beinahe melancholische Seite.

Vanessa fröstelte in einem kalten Windhauch, woraufhin Hades ihren Arm um sie legte und sie gemeinsam in ihr Penthouse zurück gingen. Vanessa wollte nun unbedingt mehr über diese Seite von ihr herausfinden, die Hades wesentlich menschlicher machte als sie es bisher für möglich gehalten hatte.

In ihrer Wohnung angekommen, machten sie es sich in den Sesseln gemütlich und genehmigten sich noch ein Glas Wein. Irgendwie wirkte sie heute sehr nachdenklich und Vanessa wurde ein wenig unwohl als Hades sie eine ganze Weile lang einfach stumm anstarrte. „Was wir hier tun, ist nicht richtig.“, sagte diese plötzlich in die Stille. „Was meinst du?“, antwortete Vanessa und legte den Kopf schief. „Unser Zusammensein ist nicht unbemerkt geblieben. Wenn mein Bruder auch noch erfährt, dass du nicht hierher gehörst, wird es mächtig Ärger geben. Denn was wir hier tun, verstößt gegen sämtliche Vorschriften des Rates. Ich weiß nicht ob ich dich noch weiterhin dieser Gefahr aussetzen kann und will.“ Vanessa stellte ihr Glas ab und ging zu ihr hin. „Was denkst du wird passieren, wenn der Rat erfährt, dass du eine untote, menschliche Freundin hast?“ Hades sah nach oben und direkt in ihre grünbraunen Augen. Dann flüsterte sie: „Ich weiß nicht ob ich einen weiteren zweitausendjährigen Arrest durchhalten würde.“ Vanessa setzte sich auf ihren Schoß und sagte leise: „Ich denke nicht, dass du solch eine harte Strafe bekommen würdest, nur weil du mit mir zusammen sein willst. Beim letzten Mal hast du viel mehr Unheil angerichtet, zumindest aus der Sicht des Rates. Wir Menschen können deinem Ungehorsam vielleicht sogar dankbar sein. Immerhin habt ihr vermeintlichen Götter uns den Fortschritt gebracht.“ Hades lächelte, woraufhin Vanessa sie liebevoll küsste, anschließend ihre Hand ergriff und sie mit sich ins Schlafzimmer zog.

 

Vanessa hatte es tatsächlich getan, sie auf andere Gedanken und dazu gebracht bereitwillig die Kontrolle an sie abzugeben. Das hatte Hades lange gefehlt. Die festen Schlingen um ihre Hand- und Fußgelenke fixierten sie nackt ausgestreckt auf dem Bett. Ihre Augen waren verbunden. Sie konnte jede Bewegung Vanessas intensiv spüren, die sie auf ihr sitzend vollführte, und anscheinend wurde sie immer mutiger. Mit einem überraschten Aufstöhnen belohnte Hades ihren nächsten Zug, als Vanessa plötzlich ihre Hände an ihre Kehle legte. Das leichte Würgen ließ einen Adrenalinstoß durch sie schießen und beinahe verlor sie die Selbstbeherrschung. Sie hatte ihr nie zugetraut so weit zu gehen und dennoch beglückte Vanessa sie in diesem Moment mit einer faszinierenden Mischung aus Erotik und Härte.

Doch mit einem Mal kippte die Stimmung.

Hades konnte nicht sehen was gerade geschah, hörte nur Vanessas entsetztes Aufschreien als jemand sie griff und gewaltsam von ihr herunter zerrte. In Windeseile löste sie sich aus ihren Fesseln und zog den Schal von ihren Augen. Der Bruchteil einer Sekunde reichte ihr das Bild zu überschauen.

Eine Art Polizeieinheit hielt Vanessa fest und ihr jetzt auch den Mund zu. Sie waren zu fünft in den Raum gestürmt. Den Schatten neben sich konnte sie nicht mehr vollständig wahr nehmen, bevor sie brutal zu Boden gerissen wurde. Plötzlich bohrte sich ein alles betäubender Schmerz durch ihren linken Unterarm. Hades wehrte sich heftig, wollte sich befreien, doch es ging nicht. Jemand kniete in ihrem Nacken und ein ebenso furchtbarer Stich durchdrang nun auch ihren rechten Unterarm. Fluchend knirschte sie mit den Zähnen und als sie an den Haaren in eine aufrechte Position gezogen wurde, schrie sie die Eindringlinge wütend an bis sie realisierte, wer hier eigentlich vor ihr stand.

Gepeinigt und verwundert starrte Hades sie an und hauchte: „Kassandra? Was soll das? Was machst du hier?“ Die uniformierte Frau kam lächelnd auf sie zu und blieb dann dicht vor ihr stehen. Ein starker Arm hatte sich von hinten um ihren Hals gelegt und hielt sie eisern fest. „Wir wissen, was du getan hast.“, ergriff Kassandra leise das Wort. Hades stellte sich dumm. „Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.“ Die Handlangerin zeigte auf Vanessa und bemerkte: „Sie gehört nicht hierher. Du hast sie eingeschmuggelt und somit gegen sämtliche Auflagen des Rates und die direkten Anordnungen deines Bruders verstoßen.“ „Wie wollt ihr das denn beweisen?“, konterte Hades aufmüpfig. „Ich denke, wir finden einen Weg.“, erwiderte sie ruhig. „Zur Not prügeln wir die Informationen aus dir raus.“, flüsterte der Mann, der sie noch immer fest umklammert hielt, in ihr Ohr. Hades stutze und meinte überrascht: „Ares? Bist du das? Dein Vater wird ausrasten, wenn ich ihm erzähle, was du hier tust.“ „Er weiß es bereits. Der Befehl für den Zugriff kam ebenfalls direkt von ihm.“, sprach Kassandra und erklärte ruhig: „Hades, es hat keinen Sinn sich zu wehren. Er und wir wissen Bescheid. Als Einziges ist unklar, wie du es getan hast. Wenn du kooperierst und gestehst, wird deine Strafe milder ausfallen. Denk darüber nach.“ „Und was wenn ich fliehe?“, bemerkte Hades nun entschlossen. Kassandra trat einen Schritt zurück und erwiderte: „Versuch es. Bitte.“

Gebannt waren alle Blicke auf sie gerichtet und sie versuchte angestrengt einen Sprung aus der Umklammerung ihres Neffen und seinen Fesseln, doch es schien schier unmöglich. Nach dem dritten Anlauf gab sie keuchend auf und fragte verwirrt: „Ich kann nicht weg. Wie macht ihr das?“ Bereitwillig klärte Kassandra auf: „Es liegt an den Schwerkrafthandschellen, die wir eigens für dich haben entwickeln lassen. Die gebündelte Energie durch die Mitte verbindet dich direkt mit der Energie dieser Welt. Wenn du also Springen willst, musst du den gesamten Planeten mitnehmen und das kannst selbst du nicht.“ Fassungslos starrte Hades sie ein paar Sekunden lang an und fragte schließlich: „Und was passiert jetzt?“ „Wir nehmen euch beide mit und werden versuchen ein paar Informationen aus dir herauszukitzeln. Wenn es sein muss mit Gewalt. Das liegt ganz bei dir.“, antwortete Kassandra kühl, machte auf dem Absatz kehrt und ging los. Die ganze Mannschaft folgte ihr nach. Hades, weiterhin fest im Griff ihres Neffen, ergab sich vorerst der Verhaftung und ließ sich wenn auch nur widerwillig abführen.

Vanessa hatte vollkommen eingeschüchtert das gesamte Szenario verfolgt und wagte es nicht auch nur einen Mucks zu machen. Sie wurden in getrennten Zellen untergebracht und Hades ahnte bereits, dass das alles andere als ein Spaziergang werden würde.

Sie ließen sie in den Handschellen und eine Weile lang im Dunkeln schmoren. Dann ging plötzlich ein grelles Licht an und Ares betrat den Raum. Kopfschüttelnd stellte Hades fest: „Machst du jetzt etwa für deinen Vater die Drecksarbeit?“ Grinsend gab Ares aber zu: „Dafür habe ich mich freiwillig gemeldet. Dir wollte ich schon immer mal so richtig die Fresse polieren.“ Mühsam erhob sich Hades und fragte beinahe flehend: „Aber warum Ares? Was habe ich dir so Schreckliches getan?“ Ihr Neffe durchdrang sie förmlich mit seinen Blicken, knackte mit den Fingern und antwortete bestimmt: „Du bist mir schon so oft in den Karren gefahren und hast meinen Vater dazu gebracht mich auszubremsen, dass es jetzt an der Zeit ist dir zu zeigen, wohin das führt.“ Hades schluckte und wich einen Schritt zurück. Dann beschwerte sie sich: „Das ist aber ein sehr unfairer Kampf, wenn ich weiterhin gefesselt bleibe.“ Ein böses Schmunzeln huschte über das Gesicht ihres Neffen. In diesem Moment wirkte die hünenhafte Gestalt des Kriegsgottes noch furchteinflößender als sonst. „Du kannst dem entgehen, wenn du einfach alles zugibst und uns sämtliche Details erzählst.“, meinte Ares nur gelassen. Doch Hades nahm nun allen Mut zusammen und provozierte lautstark: „Du wirst rein gar  nichts von mir erfahren! Selbst wenn du mich tot prügelst, du Marionette!“

Mit entschiedener Härte ging Ares daraufhin auf sie los und tobte wie ein wütender Sturm über sie hinweg. Mit diesen heimtückischen Handschellen gefesselt, hatte Hades ihm kaum etwas entgegenzusetzen und musste den geballten Zorn nahezu wehrlos über sich ergehen lassen. Und dennoch blieb sie eisern. Kein Schlag ins Gesicht und kein Tritt unter die Rippen konnten sie dazu bewegen auch nur ein Wort über das Portal zu verlieren.

Eine gefühlte Ewigkeit später, sah Ares endlich ein, dass es keinen Zweck hatte sie weiterhin zu drangsalieren. Er würgte Hades regelrecht in die Bewusstlosigkeit und hatte trotzdem überhaupt nichts erfahren. Eine Lautsprecherstimme brach die Tortur schließlich ab: „Es reicht Ares, so wird das nichts.“

Er ließ Hades wie einen nassen Sack auf den Boden fallen und ging enttäuscht aus der Zelle. Ein paar Minuten später wachte die Gefangene langsam wieder auf, spuckte Blut und übergab sich bevor sie sich in einer Ecke des gleißend hell erleuchteten Raumes schmerzerfüllt zusammenrollte. Kassandra beobachtete sie dabei über einen Monitor und sprach leise: „Und du sagst, sie kann sich nicht regenerieren, solange sie die Handschellen trägt?“ Ein bärtiger Mann trat aus dem Schatten hinter ihr und flüsterte: „Nein, die Schwerkraft des Planeten entzieht ihr die Lebensenergie. Es wird sie umbringen, wenn sie die zu lange trägt.“ Sie drehte sich zu dem Bärtigen um, lächelte und meinte beruhigend: „Keine Sorge, Hephaistos, so weit werden wir es nicht kommen lassen.“

Während Hades reglos, zusammengekrümmt am Boden lag und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen, saß Kassandra mit Ares zusammen und überlegte laut: „Pure Gewalt hilft uns wohl an dieser Stelle nicht weiter. Wir müssen viel listiger vorgehen.“ „Was denkst du, welche Rolle diese Menschenfrau dabei spielt?“, warf Ares ein. Daraufhin meinte Kassandra: „Genau an die habe ich auch schon gedacht. Hast du etwas Spezielles im Sinn?“ Ares lehnte sich leicht nach vorn und sprach weiter: „Ich denke da an einen ganz besonderen Typen, den wir auf sie loslassen könnten. Vielleicht lässt sich Hades zum Reden bringen, wenn jemand leidet, den sie mag.“ „Hoffentlich mag sie sie auch genug.“, erwiderte Kassandra und gab den Befehl Vanessa und denjenigen zu holen, der sich näher mit ihr befassen sollte.

Kurz darauf wurde Hades aus ihrer Zelle geschleift. Sie konnte nicht begreifen, warum es ihr nach wie vor so schlecht ging. Früher hatte sie so eine Tracht Prügel besser weggesteckt. Sie schleppten sie in einen dunklen Raum und fesselten sie an einen mit dem Boden verschraubten Stuhl. Kassandra schlich um sie herum und bot an: „Wenn du redest, beenden wir die Folter und du kannst dir und auch deiner kleinen Freundin eine Menge ersparen.“ Hades horchte auf und stammelte: „Was hat Vanessa mit der Sache zu tun? „ „Du hast sie hierher gebracht, sag mir wie und warum?“, konterte Kassandra hart. Daraufhin sammelte sie all ihre Kräfte und zischte bösartig: „Ich werde zur rasenden Bestie, wenn du ihr etwas tust! Ich warne dich!“ „Behalte das im Hinterkopf.“, erwiderte Kassandra kalt, nahm sich eine Fernbedienung und schaltete den großen Monitor an der Wand ein.

Überwältigt starrte Hades auf den Bildschirm und Vanessa, wie sie da an den Händen gefesselt nackt von der Decke hing und weinte. Schlagartig hatte auch sie mit den Tränen zu kämpfen und riss wütend an den Handschellen während sie brüllte: „Was habt ihr Schweine mit ihr vor?“ Kaltherzig erklärte Kassandra: „Ares hat da einen Bekannten, der sich um sie kümmern wird, solltest du nicht endlich anfangen zu reden.“ „Das könnt ihr nicht machen!“, schrie sie aufgebracht. „Es ist deine Entscheidung ob sie leidet.“

Hades versuchte sich zu beruhigen und atmete tief durch. Sie konnte und wollte sich nicht vorstellen, dass sie wirklich eine Unschuldige verletzten um sie zu brechen. „Und? Was nun?“, sprach Kassandra. Die Gefangene schwieg, woraufhin sie zu einer Gegensprechanlage ging und den Befehl gab: „Schickt ihn rein.“

Gebannt sah Hades auf den Monitor. Ein Mann, der ihr irgendwie bekannt vor kam, betrat den Raum. Er umkreiste Vanessa, berührte sie. Und Kassandra erklärte fast beiläufig: „Ich weiß, du kennst diesen Typen. Er hat viele, viele Menschen auf dem Gewissen, zahlreiche richtig abscheuliche Taten vollbracht und zu seinen Lebzeiten auf der Erde so einige Frauen regelrecht zu Tode gequält.“ Fassungslos starrte sie auf die Übertragung und flüsterte: „Ja, jetzt erinnere ich mich. Ich hab den Kerl in die grauenhafteste Ecke von Tartaros verbannt, ohne Chance auf Wiedergutmachung. Was habt ihr vor? Was soll der hier?“ Mit einem fiesen Unterton antwortete Kassandra: „Wir lassen ihn mit deiner kleinen Freundin machen, wozu er gerade Lust hat, und das so lange bis du redest.“

In dem Moment zückte der Mann auf dem Monitor ein Messer und fuhr langsam damit über Vanessas Haut ohne sie ernsthaft dabei zu verletzen. Dennoch begann sie in Panik zu Schreien, was Hades einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ. Einige Minuten lang hoffte sie es auszuhalten, doch zunehmend wurde das Szenario grausiger. Der Verdammte begann allmählich damit Vanessa wirklich weh zu tun. Als das erste Blut floss, rollten Hades auch die ersten Tränen über das Gesicht. Kassandra beobachtete sie genau und sah, dass sie kurz vor dem Zusammenbruch stand. Sie redete leise auf sie ein: „Du kannst ihr Martyrium beenden. Du musst uns nur sagen, was wir wissen wollen.“ „Ich kann nicht.“, würgte Hades hervor. „Dann wird sie noch mehr leiden müssen.“

Plötzlich durchhallte ein markerschütternder Schrei die Räume, der ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Es brach ihr das Herz und endlich knickte sie ein. Mit tränenverschleierten Augen flüsterte Hades heißer: „Hört auf, bitte. Ich sag euch alles, was ihr wissen wollt.“ Kassandra beugte sich zu ihr hinunter und forderte: „Dann sprich. Vorher lassen wir sie nicht gehen.“ Betreten antwortete sie: „Ich gebe alles zu. Ich habe sie hierher gebracht, ich bin an allem Schuld. Lasst sie gehen. Bitte!“ Wieder schrie Vanessa auf. Hades zuckte zusammen und weitere Tränen liefen ihr übers Gesicht. „Kann es sein, dass du sie wirklich liebst?“, hakte Kassandra zweifelnd nach. Glasig schaute die Gefangene ihr in die Augen und bestätigte ihre Vermutung: „Ja, das tue ich. Bitte lass sie frei, ich flehe dich an.“

Umgehend trat Kassandra an die Gegensprechanlage und rief hinein: „Abbrechen, sofort!“ Zwei weitere Männer stürmten den Raum und zerrten Vanessas lautstark protestierenden Peiniger unsanft hinaus. Erleichtert atmete Hades auf. Für sie war es jedoch noch nicht vorbei. Kassandra schaltete den Monitor aus und postierte sich vor ihrer Gefangenen mit den Worten: „Und jetzt rede.“ „Wo bringt ihr sie hin? Wird Vanessa ordentlich versorgt?“, fragte sie hektisch. „Wenn du jetzt nicht langsam auspackst, fangen wir mit dem Scheiß von vorne an.“, erwiderte Kassandra säuerlich. Widerwillig erzählte Hades nun: „Ja, Vanessa gehört nicht hierher. Ich war auf der Erde und habe sie von dort mitgebracht, um ihr meine Welt zu zeigen. Ich habe ja nicht geahnt, dass es so enden würde.“ „Wie hast du sie hergebracht?“ Ein wenig mit sich selbst ringend, gab sie zu: „Das Portal funktioniert wieder.“ Überrascht machte Kassandra einen Schritt zurück und hakte nach: „Wie kann das sein? Du musstest es doch damals zerstören.“ Hades erklärte nun: „Es war nicht zerstört, sondern behutsam zerlegt und die Einzelteile überall auf der Erde versteckt. Nachdem ich meine Strafe abgesessen hatte, bewegte ich eine handvoll Menschen dazu nach den Teilen zu suchen. Ein loyaler Freund hat es dann vollendet und Vanessa besaß den Schlüssel, der es wieder zum Laufen brachte.“ „Also hat sie doch eine weit wichtigere Funktion als wir annahmen.“, murmelte Kassandra und sagte dann lauter: „Wie oft warst du jetzt schon wieder auf der Erde und wo hast du das Portal versteckt?“ „Erst wenige Male und es befindet sich in einem versiegelten Kellerraum des Hades- Tower.“, antwortete sie kleinlaut.

Schnell gab Kassandra die Nachricht weiter und schickte einen Trupp los, der den Raum aufbrechen sollte. „Was passiert jetzt?“, wollte Hades nun wissen. Bereitwillig antwortete sie: „Das wird dein Bruder entscheiden. Er hat alles mit angehört und wird ein entsprechendes Urteil fällen.“ Hades sah sich in alle Richtungen um und rief dabei: „Zeus! Ich weiß, ich bin unverbesserlich, aber bedenke, wir sind eine Familie!“ Etwas leiser fügte sie noch an: „Und bitte verschone Vanessa. Sie hat mit alledem nichts zu tun. Sie ist einfach hineingeraten, meine Schuld.“

Wieder betätigte Kassandra die Gegensprechanlage, woraufhin Ares den Raum betrat, sich Hades schnappte und sie zurück in ihre Zelle verfrachtete. Sie wehrte sich nicht, war doch eh alles zu spät.

Eine endlos anmutende Zeit später kam endlich jemand um sie abzuholen. Scheinbar hatte sich Zeus für eine Bestrafung entschieden und wollte diese nun seiner Schwester von Angesicht zu Angesicht vortragen. Hades war deutlich geschwächt. Die Handschellen brannten in ihren Armen und sie war nicht in der Lage sich zu erholen. Es schien als würde ihr etwas all ihre Lebenskraft aussaugen.

Man führte sie in einen holzgetäfelten Raum und zwang sie mit Tritten vor dem schweren Tisch in der Mitte auf die Knie. Zeus beobachtete das Geschehen, erhob sich dann von seinem Richtersessel und sprach: „Meine Schwester, ich weiß nicht warum du das getan hast. Diese Enttäuschung. Du begehst das gleiche Vergehen, für das du schon einmal büßen musstest und noch schlimmer. Du bringst einen Menschen mit hierher und gefährdest das gesamte Gleichgewicht zwischen den Planeten. Es will mir einfach nicht in den Kopf.“ Aufmüpfig unterbrach Hades: „Wer sagt, dass das Gleichgewicht dadurch gefährdet wird? Das ist purer Blödsinn! Das denkst du dir nur aus. Du hast nur Schiss, dass der Rat dahinter kommt und feststellt, dass du deinem Amt nicht gewachsen bist…“ „Sei still!“, fuhr Zeus sie an und sprach weiter: „Der Rat würde zu weit drakonischeren Strafen greifen als ich! Sei also froh, dass ich diese Entscheidung treffe und nicht jemand, dem du völlig egal bist!“ Hades senkte den Blick. Mit ihren Einwänden würde sie rein gar nichts erreichen.

Ruhiger fuhr Zeus nun fort: „Die Wiederholung deines Vergehens und die Uneinsichtigkeit, die du damit an den Tag legst, bewegen mich zur Überdenkung des Strafmaßes. Beim letzten Mal hast du 1000 Hadesjahre Arrest bekommen. Es war deine erste Verfehlung dieser Art, doch dieses Mal ist es schlimmer. Du warst noch nie ein unbeschriebenes Blatt aber mit dieser Dreistigkeit unter der Nase deiner Geschwister im Planetengefüge herumzupfuschen, ist nicht verzeihbar. Deshalb verurteile ich dich zu 2000 Hadesjahren Arrest.“ Hades horchte auf. Sie hatte mit Schlimmerem gerechnet, doch ihr Bruder war auch noch nicht fertig. Nachdem Zeus tief durchgeatmet hatte, verkündete er den Rest der Strafe: „Da du die Erde dermaßen verehrst, wirst du diese Arrestzeit auch dort absitzen, ohne Kontakt zu deiner Heimat, deinen Brüdern und Schwestern, deiner Spezies, abgeschottet von allem und jedem deiner Art. Und du wirst den Menschen, die du ja so sehr liebst beim Sterben zusehen, einem nach dem anderen.“ Hades sackte übermannt in sich zusammen und ein dicker Kloß bildete sich in ihrem Hals. Zeus schloss mit den Worten: „Ich denke, das ist eine angemessene Strafe für dein Verbrechen und wird umgehend zur Vollstreckung gebracht.“

Vollkommen überrumpelt ließ es Hades über sich ergehen, dass man sie vom Boden hoch zerrte und abführte. Im Kellerraum traf sie dann endlich wieder auf Vanessa, die völlig aufgelöst in der Ecke stand. Man hatte sie wenigstens in eine Decke gehüllt und sie scheinbar ärztlich versorgt. Sie wollte sich gar nicht ausmalen, was dieses sadistische Untier ihr wirklich angetan hatte. Ares selbst aktivierte das Portal. Den Schlüssel hatten sie beim Durchwühlen des Apartments gefunden, welches sich nun in einem heillos chaotischen Zustand befand.

Der Rahmen des Wandgemäldes erstrahlte und Siegbert bemerkte auf der anderen Seite die Aktivierung des Spiegels. Zunächst stellte man Vanessa zusammen mit einer Wache auf ein offensichtlich schwebendes Board und sie glitten hinüber in die andere Welt, wo sie überschwänglich und fürsorglich von ihrem Freund empfangen wurde. Als die Wache wieder im Portal verschwand, starrten die zwei Menschen angespannt und voller Erwartung auf die spiegelnde Fläche. Hades wehrte sich rigoros auf das Transportmittel zu steigen, woraufhin Ares sie brutal niederstreckte und sie mit ein paar gekonnten Griffen darauf warf. Zeus befahl: „Begleite sie hinüber, falls sie noch mehr Schwierigkeiten macht. Und nimm ihr erst dort die Handschellen ab.“ Nach einem leichten Nicken stellte sich Ares mit auf das Gefährt, einen Fuß auf der Gefangenen und sie glitten hinüber.

Vanessa und Siegbert traten ein paar Schritte zurück als der Gefangenentransport durch die glänzende Spiegelfläche stieß und vor ihnen zum Halten kam. Der Anblick war überwältigend und erbärmlich zugleich. Ares trat Hades unsanft in die Seite, wonach diese vom Board fiel und hart auf dem Boden aufschlug. Dann stieg der Kriegsgott zu ihr hinunter, hockte sich neben ihr hin und flüsterte: „Weißt du, ohne diese Handschellen, hätte ich dich nie besiegen können. Es ist doch immer wieder erstaunlich, welch Erfindungsgeist in dem alten Schmied steckt.“ Hades konnte es kaum fassen. Hephaistos war bisher immer ein guter Freund gewesen, er hatte ihr damals geholfen das Portal zu bauen und war ihr nun so treulos in den Rücken gefallen.

Als Ares die Energieleitung der Handschellen ausschaltete, krümmte sich Hades erneut und unvermittelt vor Schmerz zusammen, wurde doch so auch abrupt der Energiefluss zu ihrem Planeten unterbrochen. Dann entfernte Ares die Ringe von den Unterarmen seiner Gefangenen und stand wieder auf. Gepeinigt betrachtete sich Hades die ausgebrannten Löcher in ihren Armen, durch die man sogar hindurch sehen konnte. Sie schaute noch einmal fassungslos nach oben in das Gesicht ihres Neffen, das von einem finsteren Lachen überzogen wurde. Mit einem kräftigen Tritt, der Hades brutal unter dem Kinn traf und sie erneut der Länge nach auf den Boden schickte, verabschiedete sich Ares dann. Siegbert und Vanessa machten zwar beide einen Satz, trauten sich aber nicht Hades zur Hilfe zu eilen. Anschließend stieg der Kriegsgott selbstgefällig zurück auf das Gefährt und verschwand ohne ein weiteres Wort im Spiegel, der wenige Sekunden später erlosch.

Das Portal war abgeschaltet. Hades lag schwer verletzt am Boden und spuckte Blut. Jetzt erst wagten es die zwei Menschen einzugreifen und sich um die Gepeinigte zu kümmern. Liebevoll legte Vanessa ihre Arme um sie und flüsterte: „Alles wird gut.“, während Siegbert schnell davon eilte um einen Verbandkasten zu holen. Als er wieder kam, starrte Hades verloren auf das Portal und Vanessa auf sie. Sie war nun hier gefangen, für ganze 4000 Erdjahre.

 

Und plötzlich zeichnete sich ein unheimliches Lächeln auf ihrem Gesicht ab.